Full text: Das Schulwesen in Preußen ... im Staate, in den Provinzen und Regierungsbezirken - 1921 (1924) (1)

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Für die Beurteilung der Schulverhältniſie von beſonderer Wichtigkeit iſt die rechte Hälfte der zweiren Überſicht, aus der 
hervorgeht, wieviel Schüler in den ſchwächer oder ſtärker beſeßten Klaſſen unterrichtet werden. Das Volksſc<hullehrer-DienſteinfommenS- 
gejes vom 17. Dezember 1920 geht bei der Berechnung des Staatsbeitrages von der Zahl von 60 Schülern auf eine Schulſtelle 
aus. Nehmen wir an, daß einer Schulſtelle eine Klaſſe entſpricht, jo würde das auf eine Klaſſenbeſezung von 60 Schülern hinauS- 
laufen. Dieſe Zahl wird alſs gewiſſermaßen als Normalzahl betrachtet. Allerding3 ſagen die Kommentatoren de8 Geſete3, die 
Miniſterialräte im Kultusminiſterium Jae>el und Gürich, ausdrücklich, daß damit keine5wegs geſagt fein ſolle, daß e8 im allgemeinen 
genüge, wenn für je 60 Schullfinder eine Sculſtelle beſtehe. Vielmehr ſei es im Schulintereſſe durchaus erwünjcht, wenn die auf 
eine Schulſtelle entfallende dur<ſ<hnittliche Schülerzahl auf unter 60 herabgeſezt werde *). In dem Erlaß des Unterrichtsminiſter3 
über die Verminderung der Schulſtellen vom 1. März 1924 werden die Sculaufſichtöbehörden ermächtigt, Beſchlüſſe von Schul- 
verbänden über Einziehung ſolcher Stellen dann zu genehmigen, wenn die auf eine Sculſtelle entfallende Durchſchnitti5zahl von 
Schulkindern in dem einzelnen Schulverbande und die auf eine Grundſchulklaſſe entfallende tatſächliche Schülerzahl nac<ß Einziehung 
der Stelle nicht mehr als 50 beträgt. Dabei jind techniſche Lehrträfte nicht mtzuzählen, während ſie beim Bolksſchullehrer - Dienſt- 
einfommensgeſeß mit eingeſchloſſen find. Hier wird ee eine Klaſſenbeſezung von 50 Schülern als noch erträglich angeſehen. In 
Lehrerkreiſen geht man noch viel weiter. So wünſcht 3. B. Vorbrodt in einer im Auftrage des Preußiſchen Lehrervereins heraus- 
gegebenen Schrift, daß über die Höchſtzahl von 40 auf ie Klaſſe nirgend8 hinau8gegangen werden ſolle **). Sehen wir uns nun 
obige Tabelle an, ſo finden wir, daß in der Stadt 7,80, auf dem Lande fogar 21,53, in Stadi und Land zujammen 15,41% aller 
Kinder Klaſſen von 61 und mehr Schülern beſuchen, d. h. Klaſſen, welche die von Jae>el und Gürich angegebene Normalzahl 
überſchreiten. Betrachtet man mit dem Abbau- Erlaß eine Klaſſenbeſezung von 50 als normal, ſo entfallen 39,85 % aller 
Kinder auf überfüllte Klaſſen (in der Stadt 30,54, auf dem Lande 47,31). Bei einer Normalzahl von 40, wie ſie die Lehrer 
verlangen, würden 73,12 % aller Kinder in überfüllten Klaſſen unterrichtet werden (in der Stadt 70,96, auf dem Lande 
74,85). Das zeigt, wie weit wir no< von dem Jdeal, deſſen Verwirklihung an ſich erwünſcht wäre, entfernt find. Beim 
Anblick diejer Zahlen kann ſich der Freund einer ſorgfältigen Jugenderziehung einer großen Sorge nicht erwehren, wenn er an die 
durc< die Ausbeutung3- und Vernichtungspolitik Frankreichs uns aufgenötigten Sparmaßnahmen, namentlich den Lehrerabbau, denkt. 
Gerade in einer Zeit, in der die Verwilderung großer Teile unſerer Jugend infolge des Krieges und der Nachkrieg8wirren uns auf. 
dem Gebiete des Schulweſens vor ganz beſonder3 ſchwierige Aufgaben ſtellt, werden wir gezwungen, die vielfac<ß ſchon viel zu hohe 
Klaſſenbeſezung noc<h weiter zu erhöhen. Allerding8 ſcheint ſich nach dem Erlaß des Unterrichtsminiſters vom 1. März 1924 der 
Abbau im weſentlichen auf die Schulen mit mehr als einer Klaſſe und die Klaſſen mit weniger als 50 Schülern zu beſchränken. 
Immerhin muß die Wirkung der Einziehung von Schulſtellen eine Erhöhung der durchſchnittlichen Klaſſenbejezung ſein, weil die 
überfüllten Klaſſen zunächſt beſtehen bleiben, während die ſchwach beſetzten zum großen Teil verſchwinden jollen. Cinen gewiſſen 
Troſt für dieſe, wenn auch leider unvermeidliche Verſchlehterung unſeres Schulweſens könnte höchſtens der Geburtenrückgang gewähren, 
der automatiſch nac< Durchführung des Lehrerabbaus vorausſichtlich wieder zu einer Verringerung der auf eine Klaſſe entfallenden 
Schülerzahl führen wird, aber dieſer Troſt iſt jehr ſchlecht, weil er die Beſſerung von einer Entwicklung erwartet, welche die Bedeutung 
des veutjc<en Volkes im Kreiſe der europäiſchen Völker im Laufe der Zeiten herabdrücken muß und große nationale Gefahren in ſich birgt ***). 
Bisher haben wir die Zahlen der Klaſſenbeſezung nur für den ganzen Staat betrachtet: es lohnt ſich aber auch, einen 
Blid auf die Unterſchiede zwiſchen Stadt und Land zu werfen. Dabei erkennen wir, daß die Extreme (beſonders ſchwach und 
beſonders ſtark beſetzte Klaſſen), wie bereit3 1911 feſtgeſtellt worden iſt****), auf dem Lande viel häufiger ſind al8 in den Städten, 
die ſich durch ein gewiſſes Mittelmaß der Klaſſenbeſezung auszeichnen. So kommt e8, daß der prozentuale Anteil der Kinder, die 
Klaſſen mit 30 Schülern und weniger und mit 51 Schülern und mehr beſuchen, auf dem Lande größer iſt al8 in den Städten, 
während umgekehrt die Schüler, die in den Klaſſen mit 31-50 Schülern unterrichtet werden, in den Städten mehr Prozent ausmachen. 
Cin Vergleiß der Klaſſenbeſezung in den Jahren 1911 und 1921 it im einzelnen nicht möglich, da die Fragebogen in 
diejem Punkte bei beiden Zählungen nach verſchiedenen Geſichtspunkten aufbereitet worden ſind. Vergleichbar iſt mx die dur<ſchnitt- 
liche Kiaſſenbeſezung, die ſeit 1886 ſtetig zurückgegangen iſt *****). Auf eine Klaſſe entfielen 1911 in der Stadt 50,81, auf dem 
Lande 50,01, in Stadt und Land zuſammen 50,37, 1921 in der Stadt 43,00, in dem Lande 45,57, im Stadt und Land zuſammen 44,39 
Schüler. Der Rückgang der Klaſſenbeſezung war alſo in der Stadt mit 7,81 viel größer als auf dem Lande mit 4,44. Während 
früher in den Städten die Klaſſen durchſchnittlich ſtärker beſezt waren vn auf dem Lande, ſind ſie jezt dur<ſhnittlich ſchwächer 
bejezt. Doch iſt der Vergleich von Durchſchnittözahlen der Klaſſenbeſezung für Stadt und Land nicht ganz unbedenklich, da, wie 
oben ausgeführt, die Abweichungen vom Durchſchnitt nach oben und unten auf dem Lande bedeutender ſind als in den Städten. 
Die Verſchiebung zu Gunſten der Städte in den Jahren 1911--1921 erklärt ſich darau38, daß die Zahl der Klaſſen in den Städten 
jehr viel ſtärker vermehrt wurde als auf dem Lande (um 15,64 % gegen 7,48 %), während die Zahl der Kinder in den Städten 
ea mehr abnahm (um 2,18 % gegen 2,06). Der Gegenjat von Stadt und Land, der das ganze Schulweſen durchzieht, hat ſich 
jo hier nicht abgeſ<wächt, ſondern verſchärft. 
Mit der Zahl der Schulſtellen und der Klaſſenbeſezung auf8 engſte zuſammen hängt die Frage der Belaſtung der Lehrer. 
Um dieſe feſtzuſtellen, ſind bei den Zählungen von 1911 und 1921 die Schulen in drei Gruppen eingeteilt worden: einklaſſige Schulen 
mit einem Lehrer, zweiklaſſige Schulen mit einem Lehrer (Halbtag3ſchulen) und Schulen mit zwei und mehr Lehrern. Als überlaſtet 
galt nach den biSherigen Grundſäßen der Schulverwaltung ein Lehrer, der in einklajſigen Schulen mit einem Lehrer mehr als 80, in 
zweitklaſſigen Schulen mit einem Lehrer mehr als 120, in Schulen mit zwei und mehr Lehrern mehr als 70 Schüler unterrichtet. 
In der pädagogiſchen Literatur wird vielfach die Anſicht vertreten, daß dieſe Zahlen zu hoch gegriffen ſeien und daß die verſchiedene 
Behandlung der einklaſſigen Schulen und der mehrklaſſigen Schulen mit mehreren Lehrern nicht begründet ſei. Es wird darauf hin- 
 
*) Vergl. S. 73 des Kommentar3. = **) Vorbrodt, Die Verwirklichung des Einheitsſchulgedankens, Oſterwieck (Harz) 1920, S. 19. -- 
***) Vergl. hierzu auch die Schrift von Dr. Boelig, Abbau oder Aufbau unſeres Bildungsweſens? == ****) Preuß. Stat., Heft 231, 1. Teil, 
S. 38*. == *****). Preuß. Stat., Heft 231, 1. Teil, S. 90* und 93*,
	        
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