Ziegler über Hierl: Die Entstehung der neuen Schule. 143
zu durchmessen. Inwiefern F. Paulsen von H. an die Spitze der ganzen
Bewegung gestellt wird, ist nicht ganz klar: ob als „Enthusiast“ oder
als Freund der „Bewegungsfreiheit“ oder als „lehrreiches Beispiel für
die fatale Lage der Mittelschule“ und die Unfähigkeit der Wissenschaft-
lichkeit, die Entwicklung weiterzuführen, ich weiß es nicht. Als Ver-
treter des „Küngtler tums im Kampf gegen Naturwissenschaft und gelehrten
Historigmus“ kommt dann A. Lichtwark und die Hamburger „JLehrer-
' vereinigung zur Pflege der KkünstlerisSchen Bildung“, deren Organ Seit
1905 der „Säemann“ und deren "Träger nicht die Lehrer an der erstarrten
„Mittelschule“ (80 der Bayer Hier] für „höhere Schulen“) Sind. Aber der
eigentliche Revolutionär ist doch erst 1. Gurlitt, der aller Welt die Augen
darüber öffnet, „daß die [bisherige]Schule lebensfremd und lebensfeindlich Sei“,
und der zum Vührer wird für die Lögung neuer Aufgaben derselben im Dienste
der Kunst. Doch ist es ja nicht die Kunst allein, um die es Sich handelt,
Sondern eine Lebensführung im allgemeinen, die „von Gemütskräften und
vom Verstand gleichmäßig bestimmt wird und im Mittelpunkt den Willen
hat“. So kann auch der -- nur nicht in ausschließlicher Wisgenschaft-
lichkeit vergunkene Geschichtsgunterricht und können Sich die Naturwissen-
Schaften hier einreihen ; nur für eine eingehende Besprechung der Mathematik
findet Sich offenbar kein pasSender Ort; und „dieStellung der neuen Erziehung
gegenüber der univergalen und kolosSalen Erziehungsmacht der Vergangen-
heit, Religion und Kirche, ist alles in allem eine Verlegenheitssituation“.
Auch mit Meumann getzt Sich H. in diegem Abschnitt ausgeinander, frei-
lich wieder ohne rechte Klarheit. Die experimentelle Pädagogik ist modern,
darum wird gie, wie wir gleich gehen werden, gestreichelt; aber Sie ist
wisgenschaftlich, dafir' muß gie büßen; aus der Verlegenheit hilft hier
der gesperrt gedruckte Zugatz: „die allzu experimentelle und allzu
Statistigche Jugendkunde“: nur der letzteren gilt der Tadel. An dem nur
wisgenschaftlichen Charakter der Hochschule, der natürlich vor H. keine
Gnade findet, wird von dem Schüler Lamprechts eine von Seiner Sonstigen
Schärfe erfreulich abstechende wohlwollende Kritik geübt; denn „bei der
freieren Verfasgung der Hochschule bringen Mißstände den einzelnen
Lehrer wie Studenten nicht 80 unausweichlich „unters Rad“ wie in den
Mittelschulen; und überdies vollziehen hier die akademische Freischar, der
':Wandervogel und ähnliche Verbände Schon von Sich aus „den Protest
gegen die ererbte Erziehungspraxis in Schule und Haus“, und ein Historiker
wie Lamprecht vollzieht die Synthese von künstlerischer Anschauung und
wigSgengchaftlicher Forschung, die freilich in Seinem Stil -- „neben packenden
Wendungen Sätze von kaum mehr verständlicher Begrifflichkeit“ -- nicht
rein durchgeführt Scheint. Doch steht er mit geinen „praktisch gerichteten
Bemühungen“ längst nicht mehr allein: E. Mach und W. Ostwald werden
noch genannt und letzterem -- verwunderlich genug -- das Prädikat
„naiv“ zuerkannt. Und verwunderlich ist nach allem Vorangehenden das
Maß von Hochschätzung, das H. Schließlich doch ſür die neue Wissen-
Schaft, von den Erziehungstatsachen bezeigt, die die überall waltenden
10*