Fischel: Die Jüdische Pädagogik in der tannaitischen Literatur. 115
typus vom europäischen verwischt und nicht herausgearbeitet. Ein
wahres Bild vom Erziehungs- und Bildungswegen in nachbiblischer Zeit
kann aber erst gewonnen werden, wenn das umfangreiche Material, das
Sich über die ganze talmudische Literatur erstreckt, zusammengestellt,
auf Seinen pädagogischen Gehalt hin objektiv und zwar mit einem
den Quellen angemessenen Maßstab untersucht wird.
Ohne den Angspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, haben
wir diese Aufgabe hier zunächst für einen bestimmten Zeitraum, für
die S0genannte tannaitische Epoche unternommen!), Unter jeweiliger
Berücksichtigung des geschichtlichen Hintergrundes haben wir vergucht,
die bezeichnenden Züge innerhalb des jüdischen Bildungswegsens aus
den jüdischen Quellen aufzuweisen und die Bedingungen, die zu jenem
besgonderen Bildungstyp geführt haben. Die Arbeit verfolgt in erster
Linie ein bildungsgeschichtliches Ziel. Sie will ein Beitrag für
eine Geschichte der Pädagogik?) im Altertum Sein, innerhalb der auch
die talmudische Pädagogik ihren gebührenden Platz innehaben wird.
pie will dem Historiker der Pädagogik ein Material an die Hand geben,
das ihm bisher, nicht zuletzt wegen der Schwierigkeiten der Sprachlichen
und inhaltlichen Erfasgung der Quellen, mehr oder weniger verschlossen
bleiben mußte.
Zum Verständnis des jüdischen Bildungswesgens gehört vor allem
eine nähere Beleuchtung des Wegens der zu Gebote Stehenden Quellen,
auf die Sich „die Pädagogik in der tannaitischen Literatur“ Stützen kann.
Denn in der Art und Zusammengetzung der Quellen prägt Sich Schon
das Kigentümliche der jüdischen Pädagogik aus. Zunächst fehlen uns
für unsere Aufgabe all die Quellen, die dem Gesgchichtsschreiber der
Pädagogik irgend eines europäischen Landes ohne weiteres zur Ver-
fügung Stehen, die in Hellas wie in Rom und durch das ganze Mittel-
alter hindurch bis heute 80 reichlich fließen: Schulprogramme, Lehr-
pläne, Schulverordnungen, gelbständige Abhandlungen über Fragen der
Bildung und Erziehung usw. Dagegen haben wir ein außerordentlich
umfangreiches Schrifttum vor uns, das aber keinem Sonderfach,
!) Unter der tfannaitischen Literatur versteht man Jene Werke, die den
bis zum Ende des 2. nachchrist]. Jh. ausgebildeten Traditionsstoff enthalten.
Zu diesen gehören in erster Linie die Mischna, die älteste und bekannteste
Sammlung des halachischen Stoffs, die Togefta, ein Parallelkodex zur Mischna,
und die 80gen. halachischen Midraschim : a) Mechilta (Kommentar zu Exodus),
b) Sifra (Kommentar zu Leviticus), ec) Sifri (Kommentar zu Numeri u. Deute-
ronomium). Nähere Auskunft über diess Werke wie überhaupt über diese
Epoche gibt Strack, H. (s. Abkürz.); vgl. Jewiseh Encyclopedia u.
Gr aetz, H., Geschichte des jüd. Volkes. Bd. 3, 4. Leipzig 1905. -- *?) Wir
fassen „Pädagogik“ im weitesten Sinne auf mit Hönigswald, R., Über die
Grundlegung der Pädagogik. München 1918. S. Sl, als „Übermittlung der
Kultur durch die ältere Generation auf die jüngere“ . . . „als den Inbegriff der
Beziehungen, die den Tatbestand der Wisgengübermittlung definieren“ oder
mit Ziegler S8. 1, „als die planmäßige Einwirkung der älteren Generation
auf die leibliche und geistige Entwicklung der Heranwachsenden“.
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