Full text: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde - 29.1928 (29)

Die Einheit der PSychologie und ihre Bedeutung für die Theorie der Reifejahre 463 
 
personalen und charakterologischen Eigenwart des Einzelwesens bestimmt. 
Diese Bestimmtheit fehlt noch der Jugendlichen Pergönlichkeit, in der Inhalt 
und Form des Erlebens Schwanken, Individualität und Charakter erst im 
Werden begriffen Sind. Triebwelt und Wertwelt greifen wie beim Erwach- 
Senen auch in das Erleben des Jugendlichen ein, aber die unreife Seele kann 
ihnen weder Widerstand bieten noch sie versSöhnen noch Sie zu einer Seelisch 
erlebbaren Einheit verschmelzen. So zerreißt die Welt für den jungen Men- 
Schen in zwei Teile, aber nicht wie Spranger meint, in das Ich und das Nicht- 
Ich, Sondern in Triebwelt und Wertwelt, zwiSchen denen der Jugendliche zu- 
nächst hilflos Steht, oder vom Standpunkt des Erlebens gesehen, in ein trieb- 
gebundenes und ein wertstrebendes Ich, die einander bekämpfen und -die 
der Jugendliche nicht zu verstehen vermag. 
An diesem Punkte setzt nun das Walten der Phantasie ein, der in der 
Werdezeit die allergrößte Bedeutung zukommt. Die Eigenart des Phantasie- 
lebens in der Reifezeit wird zwar von verschiedenen Jugendpsychologen aus- 
drücklich beachtet, doch befriedigen die meisten Deutungsversuche nicht 
ganz. So mag zwar die psychoanalytische Deutung, welche die Phantasie- 
betätigung als Ersatzbefriedigung auffaßt, für Sexuell betonte, aber Sicher- 
lich nicht für alic Phantasieleistungen zutreffen. Noch unzulänglicher ist die 
AuffasSung Hoffmanns, der die Phantasicerlebnisse als unklar und unvoll- 
Ständig anklingende Vorstellungen betrachtet, die wegen der Unvollständig- 
keit des Bewußtseinsinbaltes keine äußere Willenshandlung ermöglichen. 
Am eingehendsten hat Sich Spranger mit dem Phantaszieleben beschätftigt. 
In den ReifeJahren, meint er, ist etwas zerrisgen, was den Jugendlichen und 
die Welt bisher in Lebenseinigung bielt. In Seiner Eingamkeit hat er Sehn- 
gucht nach Berührung und Verstandenwerden. Aus der Sehnsucht entstebt 
die Phantasie, welche die Brücke zu den entrissenen Dingen und Menschen 
Schlägt und ie wieder in das Eigenleben hineinzieht. Durch die Sebnsüchtige 
Phantasie tastet Sich das Ich wieder binüber zu dem, von dem es getrennt 
iet, zum Nicht-Ich, zu den Andern und zu dem. Ich-an-Sich. Vom Standpunkt 
übergreifender Sinnbeziehungen ist die SehnSüchtig Sich einfühlende Phan- 
tasze ein Mittel der Seelenerweiterung und vermöge der ihr innewohnenden 
Formgesetzlichkeit ein Mittel der Seelenformung. Mit zunehmender Reife 
tritt daber die Funktion dieses Organs immer mehr in den Hintergrund 
(a. a. O. S. 53/54). So bestechend und Schön die Sprangersche Deutung ist, 
S0 glaube ich nachgewiesen zu haben (Schweizerische Pädag. Zeitschrift, 37, 
Zürich 1927), daß Sie die Aufgabe, welche der Phantasie in den Reife- 
Jahren zukommt, nicht ganz erfaßt. Denn die eigenartigsten Leistungen der 
Phantasie in dieser Zeit, die Tagträume, und zwar die Sexuellen Träume 
ebenso wie die Träume der Selbsterböhung bauen keine Brücke zur Welt, 
8ondern trennen von ihr und werden von den Jugendlichen oft genug in be- 
wußter Abschließung von der Welt und bewußter Gegensätzlichkeit zur Wirk- 
lichkeit erlebt.
	        
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