464 Tumlirz, Die Einheit der PSychologie und ibre Bedeutung für die Theorie der Reifejabre
So Scheint mir die Deutung William Sterns der Eigenart des Phan-
taSielebens am meisten gerecht zu werden, der dieses als „ErnstSspiel“,
als Vortastung der Wirklichkeit auffaßt (Vom Ernstspiel der Jugendzeit,
Zeitschr. €. päd. Psych. 25, 1924). Ich möchte diese Sinndeutung nun in fol-
gender Weise erweitern. Wir gSagten, daß die Welt für den Jugendlichen zu
Beginn der Reifung in zwei Teile, in die Triebwelt und die Wertwelt aus-
einanderreißt. Im Ernsterleben vermag der Jugendliche die Gegensätzlich-
keit der beiden Welten und wirkenden Mächte noch nicht zu überbrücken und
zu bewältigen. Er muß daher erst im Phantasieerleben vortasten, erproben,
mögliche Wege der Erfassung von Unendlichkeiten, der Versöhnung von
Unverträglichkeiten versuchen, muß den Weg zu Sich Selbst finden, zur
Erkenntnis der eigenen Triebgebundenheit, der eigenen Wertgerichtetheit und
Werterlebensfähigkeit, zu den nach oben (Werten) und unten (Trieben) be-
Stimmten Grenzen der eigenen Persönlichkeit. Auf diese Weise wird nun
tatSächlich, wie auch Spranger betont, die Phantagie das wichtigste Mittel zur
Seelenformung, führt die spielerische, von den Jugendlichen aber als ernst-
haft betrachtete Vorwegnahme künftiger Ernsterlebnisse zur Ausbildung
der Persönlichkeit.
Vom Standpunkt einer charakterologisSch gewendeten Erlebnispsychologie
können wir also die Reifezeit als die Zeit der Prägung und Fest1-
gung der geistig-körperlichen Persönlichkeit Sowie der Aus-
bildung des Charakters bestimmen, damit der Jugendliche
Mensch fäbig werde, die beiden Unendlichkeiten Trieb- und
Wertwelt in die eigene, endliche und beschränkte Indivi-
dualität aufzunehmen und in Sich zu verSöhnen. Diese Defini-
tion entspricht nicht nur einer Synthetischen Psychologie der reifen Persön-
lichkeit, Sondern vermag auch den verschiedenen 80 eigenartigen Erscheimun-
gen der Reifejahre gerecht zu werden. Wir Sehen z. B. das Auseinanderfallen
von Trieb- und Wertwelt, das phantasiemäßige Vorwegnehmen der Wirk-
lichkeit, welches Sich Stufenweise dem Ernsterlebnis nähert, und das Spätere
Zustandekommen der Verschmelzung im Ernsterlebnis bei:
Sexuelle Tagträume -- erotische Schwärmerei
Sexuelle Betätigung -- reingeistige Liebe
ZuSammenschluß von Liebe und Geschlechtstrieb beim Erwachsenen oder:
Träume der Selbsterhöhung -- KkünstlerisSche Pläne
Sportliche, Körperliche Leistungen -- künstlerisSche VerSuche
Zusammenschluß in ernsthafter Berufsbetätigung.
Wie 'wesentlich die Phantaszebetätigungen am Aufbau und an der Formung
der Persönlichkeit beteiligt Sind, erkennen wir am deutlichsten bei den Ver-
frühungen und Vereinseitigungen der Entwicklung. Dort, wo an Stelle Jahre-
langen phantasiemäßigen Erprobens und Versguchens die eine oder die andere
außerpersönliche Macht zu Ernsterlebnissen drängt, tritt eine Verkümmerung
der Entwicklung ein. Vorzeitiger Geschlechtsverkehr hindert die Entfaltung