Full text: Hamburgische Schulzeitung - 3.1895 (3)

Momenten tritt wvhl die innerſte und bejie Eigenart 
eines Menſchen hervor, liegt die Seele auf den Lippen. 
Hören wir Helmer einmal redeu. „Weißt du, Nora,“ 
ſpricht: er, „weißt Du, weshalb ich fo wenig mit Dir 
ſpreche, wenn“ ich mit Dir in Geſellſchaft bin, mich ſo 
fern von Dir halte, Dir nur gelegentlich einen verſtoh- 
lenen Bli „uwerfe, -- weißt Du, warum i< das 
thu? Weil i< mir dann. einbilde, Du ſeiſt meine 
heimlich Geliebte, meine heimli< Verlobte, und niemand 
ahne, daß zwiſchen uns beiden etwas beſtehe. -- Und 
wenn wir dann gehen wollen und ich den Shawl um 
Deine zarten, jugendlichen Schultern lege, um diefen 
herrlichen Nacken, -- dann ſtell ich mir vor, Du wä- 
reſt meine junge Braut, und wir kämen gerade von 
der Trauung, nnd ich führte Dich zum erſten Mal in 
meine Wohnung, Dic<h, Du junge, bebende Schönheit.“ 
Und in einem andern Zuſ ſammenhange jagt er: „Weißt 
Du wohl, Nora, =-- manchmal wünſc<e ich, eine Gefahr 
möge Dir drohen, damit im Leben, Blut und alles, 
alles für Dich wagen könnte!“ Nun, er wird bald 
genug auf die Probe geſtellt werden! -- Nora iſt an 
dieſem Abend einſilbig, ſtill, von unheimlicher Rude. 
Sie weiß, was kommen muß, und ihr Entſchluß iſt 
gefaßt: Auf dem Schreibtiſ< im Arbeitszimmer ihres 
Manues liegt em Brief von Günther, der alles offen- 
bart. Noch dieſe Nacht wird Helmer ihn leſen, wid 
Daun, dann -- ja dann kommt das Wunderbare! Dann 
wird Helmer, der ſtarke Mann, der liebende Gatie, 
alles, alles au? fich nehmen, wird der Gattin alles, 
ſein Amt, jeine bürgerliche Chre, opfern wollen. Doch 
das darf nicht geſchehen; dieſes Opfer ſoll er nich 
bringen; Nora will das Wunderbare unmöglich maden 
ſie wil! noch in dieter Nacht den Tod im Watter 
ſuchen. 
Helmer geht in fein Zimmer; jetzt lieſt er den 
Brief. Und Nora rafft haſtig ein Tuc< um ihre 
Schultern, ein Abſchiedsfeuſfzen an ihren Mann und aun 
ihre Kinder ringt fich aus der beklemmten Bruſt; dann 
will jie der Thür 31. 29 ZU wät. Helmer tritt ihr 
in den Weg. Er hat den Brief gelejen. Jeßt, jet 
wird das Wunderbare kommen! Nora ſieht ihn am =- 
in atemloſer Angſt, in bebender Andacht und hinwieder- 
um in unnennbarem Enbüden; denn ſie weiß es [a 
icher: jeßt mutz das W Wunderbare kommen, und mit 
ihm das tiefe, ſJ<Gmerzenvolle Glü>, wovon der Dichter 
jigt. „Das Wunderbare! Kommt denn wirklich das 
Wunderbare.“ Wer iſt es, der jezt vor Nora ſteht? 
Iſt das ein Mann, der alles, was feine Gattin aus 
rührender Liebe und kindlich harmlojem Unverſtand ge- 
frevelt hat, auf feine ſtarken Schultern nimmt? Iſt 
das ein Held, der kühn dem Hohn und der Verachtun? 
der Welt die Stirn bietet, um fein Weib zu rettenqg 
Wer iſt es, der jet vor Nora ſteht? Jt das ein 
Prieſter, dex des Daſeins tragiſch hohe Würde, der 
Menſchheit unfaßbare Größe lehrt? ein gottbegeitteter 
Prophet, der es in Wort und That verkündet, daß in 
den myſtiſchen Tiefen der Menſ<enbruſt mehr als der 
grimnme, zähnefletimende Kampf ums Daſein, mehr als 
Naturgeſetz und Formel beſhloſen iſt? = Ad nein, 
nein! Das Wunderbare ſ<rumpft zum Zwerghapten 
zuſammen; vor Nora iteht ein kleiner, bellender und 
winſelnder Egoiſt. 
Doh verzeihen Sie, daß ic< hier mitten in der 
Kataſtrophe die Erzählung einynweilen unterbrehe. I<4Y 
muß zunächſt verſjuchen, den Helmer innerlich zu zer- 
legen, um zu einem tieferen Verſtändnis, zu einer um- 
ſhtigen Würdigung ſeines Charakters zu gelangen. 
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das HöHtte itt? 
Der S&rzieher muß vieles kennen, manches verſte- 
hen und nicht zum leßten die Menſchen. Wer aber 
einen Menſchen, inſonderheit einen weſentlih in ſich 
abgeſchloſſenen, ausgebildeten Charakter, wie Helmer, 
verſtehen will, der hat vor allen Dingen auf den Ziel- 
punkt, deu bewußten oder unbewußten, theoretiſc<h-prak- 
tiſchen oder bloß praktiſ<en Zielpunkt ſeines Lebens zu 
achten. Und wer einen Menſchen rechter und gerechter 
Weiſe würdigen will, der muß vor allem über den 
normalen Zielpunkt des Lebens im klaren ſein. Was 
itt denn mun das Normale in dieſer Beziehung? Wel- 
des iſt das Ziel der Erziehung? „Harmoniſche Bil- 
dung!“ ſo antworten die einen -=-- „Bildung zum 
Wahren, Guten und Schönen!“ Die erſte dieſer beiden 
Antworten ſieht auf das zu erziehende Subjekt und 
fordert proportionale Ausgeſtaltung der in demjelben 
ruhenden Anlagen; die andere iſt einerjeits 1pecieller, 
inſofern ſie auf die Mittel, die Wege der Erziehung 
hinwe oiſt; andererſeits allgemeiner, umſaender, indem 
jie zugleich auf das zu realiſierende Totalobjekt, das 
Weltganze, den Bli lenkt; die eine itt praftijyh-py<ho- 
logiſ<, die andere hat einen tieferen philojfophilchen 
Hintergrund; die eine iſt ſubjektiv, die andere objekiiv ; 
die eine iſt weſentlih formal, die andere material. 
Eine Vereinigung der beiden erzielt etwa: Harmoniſche 
Vildung durch Erziehung zum Wahren, Schönen und 
Guten, entipr hend den intellektuailen, äthetiſch2n und 
moraliſchen Anlagen des Judividuums. 
Aber =-- fhlummert hier nicht ein aber? Ent- 
halten mht die erwähnten Zielbeitimmungen =- von 
anderweitigen Austtellungen hier abgejehen = einen 
Betonungsmangel, den Mangel nämlich, daß nicht an- 
gegeben wird, welches unter den dreien das Wicdhtigite, 
Harmoniiche Bildung, Ausgeſtaltung 
der intellektuellen, ätbetiichen und moraliſchen Tähig- 
keiten des Individuums? Wohlan, aber weicher itt der 
Grundton in diejem Dreiklang? Das Wahre, das 
Schöne, das Gute? Aber iſt nicht eines das Größte 
unter ihnen? Cs klingt hier der vauliniſche Lobgeſang 
der Liebe an. Die Liebe das Größte. Die Liebe aber 
iit nah <ritlicher Sittenlehre der Gipfelvunkt des 
Guten. Zſt ſonac< die Liebe höher als alle Weishett 
und alle TS hönheit. 19 iſt das Gute das Höchtte, und 
boſer heißen: Ziel der 
Wahren, zum Schönen 
es müßte in jetter Beſümmuug 
Erziehung iſt die Bildung zum 
und vor allem zum Gutem. 
Doh ich höre hier einen Cinwand, wie 
«nemme 
Der 
es ſ;Heint =-- von Bedeutung it. Die Veſchältigung 
mit demjelben wird uns einen Schritt weiter fübreit. 
Der Einwand iit diefer: IW08 zicht wahr it, das iſt 
auch nicht aut; ein Sittengeſes, das wicht vor dem 
Forum der Wahrheit beſtehen kann, ij'e überhaupt hin- 
fällig. Ferner: Was nicht gut in und meh? ideal 
wahr itt, das iſt auch uicht ſchön; eine Hinitleriiche 
Verkörperung unwehrer oder unfittlicher Gedanken, Ge- 
fühle und Ideen iſt auch äſthetiim verfehlt, entbehrt 
aud) der wirklichen Schönheit, Furzum: das Wahre, 
 
das Schöne, das Gute mud meinander, miteinander, 
durcheinander, 10 daß eine Weltai Hdaumg Der einen 
Art, in ihrer Vollendung gedacht, fei es die thooretiſ<ze, 
die äſthetiſ<e oder die ethiſche, die beiden andern nit 
umfaßte. Das hat ſeinen Grund darin, daß das Wahre, 
Das Schöne und das Gute tiefinnerlich eus find; ſe 
bilden eine Einheit, haben eine in der Tiefe des Dateins 
ſprießende gemeinſame Wurzel. Oder == um in einem 
andern Bilde zu reden == das Wahre, das Schöne 
und das Gute ſind Radien eines uitd desfkelben Kreiſes;
	        
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