Momenten tritt wvhl die innerſte und bejie Eigenart
eines Menſchen hervor, liegt die Seele auf den Lippen.
Hören wir Helmer einmal redeu. „Weißt du, Nora,“
ſpricht: er, „weißt Du, weshalb ich fo wenig mit Dir
ſpreche, wenn“ ich mit Dir in Geſellſchaft bin, mich ſo
fern von Dir halte, Dir nur gelegentlich einen verſtoh-
lenen Bli „uwerfe, -- weißt Du, warum i< das
thu? Weil i< mir dann. einbilde, Du ſeiſt meine
heimlich Geliebte, meine heimli< Verlobte, und niemand
ahne, daß zwiſchen uns beiden etwas beſtehe. -- Und
wenn wir dann gehen wollen und ich den Shawl um
Deine zarten, jugendlichen Schultern lege, um diefen
herrlichen Nacken, -- dann ſtell ich mir vor, Du wä-
reſt meine junge Braut, und wir kämen gerade von
der Trauung, nnd ich führte Dich zum erſten Mal in
meine Wohnung, Dic<h, Du junge, bebende Schönheit.“
Und in einem andern Zuſ ſammenhange jagt er: „Weißt
Du wohl, Nora, =-- manchmal wünſc<e ich, eine Gefahr
möge Dir drohen, damit im Leben, Blut und alles,
alles für Dich wagen könnte!“ Nun, er wird bald
genug auf die Probe geſtellt werden! -- Nora iſt an
dieſem Abend einſilbig, ſtill, von unheimlicher Rude.
Sie weiß, was kommen muß, und ihr Entſchluß iſt
gefaßt: Auf dem Schreibtiſ< im Arbeitszimmer ihres
Manues liegt em Brief von Günther, der alles offen-
bart. Noch dieſe Nacht wird Helmer ihn leſen, wid
Daun, dann -- ja dann kommt das Wunderbare! Dann
wird Helmer, der ſtarke Mann, der liebende Gatie,
alles, alles au? fich nehmen, wird der Gattin alles,
ſein Amt, jeine bürgerliche Chre, opfern wollen. Doch
das darf nicht geſchehen; dieſes Opfer ſoll er nich
bringen; Nora will das Wunderbare unmöglich maden
ſie wil! noch in dieter Nacht den Tod im Watter
ſuchen.
Helmer geht in fein Zimmer; jetzt lieſt er den
Brief. Und Nora rafft haſtig ein Tuc< um ihre
Schultern, ein Abſchiedsfeuſfzen an ihren Mann und aun
ihre Kinder ringt fich aus der beklemmten Bruſt; dann
will jie der Thür 31. 29 ZU wät. Helmer tritt ihr
in den Weg. Er hat den Brief gelejen. Jeßt, jet
wird das Wunderbare kommen! Nora ſieht ihn am =-
in atemloſer Angſt, in bebender Andacht und hinwieder-
um in unnennbarem Enbüden; denn ſie weiß es [a
icher: jeßt mutz das W Wunderbare kommen, und mit
ihm das tiefe, ſJ<Gmerzenvolle Glü>, wovon der Dichter
jigt. „Das Wunderbare! Kommt denn wirklich das
Wunderbare.“ Wer iſt es, der jezt vor Nora ſteht?
Iſt das ein Mann, der alles, was feine Gattin aus
rührender Liebe und kindlich harmlojem Unverſtand ge-
frevelt hat, auf feine ſtarken Schultern nimmt? Iſt
das ein Held, der kühn dem Hohn und der Verachtun?
der Welt die Stirn bietet, um fein Weib zu rettenqg
Wer iſt es, der jet vor Nora ſteht? Jt das ein
Prieſter, dex des Daſeins tragiſch hohe Würde, der
Menſchheit unfaßbare Größe lehrt? ein gottbegeitteter
Prophet, der es in Wort und That verkündet, daß in
den myſtiſchen Tiefen der Menſ<enbruſt mehr als der
grimnme, zähnefletimende Kampf ums Daſein, mehr als
Naturgeſetz und Formel beſhloſen iſt? = Ad nein,
nein! Das Wunderbare ſ<rumpft zum Zwerghapten
zuſammen; vor Nora iteht ein kleiner, bellender und
winſelnder Egoiſt.
Doh verzeihen Sie, daß ic< hier mitten in der
Kataſtrophe die Erzählung einynweilen unterbrehe. I<4Y
muß zunächſt verſjuchen, den Helmer innerlich zu zer-
legen, um zu einem tieferen Verſtändnis, zu einer um-
ſhtigen Würdigung ſeines Charakters zu gelangen.
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das HöHtte itt?
Der S&rzieher muß vieles kennen, manches verſte-
hen und nicht zum leßten die Menſchen. Wer aber
einen Menſchen, inſonderheit einen weſentlih in ſich
abgeſchloſſenen, ausgebildeten Charakter, wie Helmer,
verſtehen will, der hat vor allen Dingen auf den Ziel-
punkt, deu bewußten oder unbewußten, theoretiſc<h-prak-
tiſchen oder bloß praktiſ<en Zielpunkt ſeines Lebens zu
achten. Und wer einen Menſchen rechter und gerechter
Weiſe würdigen will, der muß vor allem über den
normalen Zielpunkt des Lebens im klaren ſein. Was
itt denn mun das Normale in dieſer Beziehung? Wel-
des iſt das Ziel der Erziehung? „Harmoniſche Bil-
dung!“ ſo antworten die einen -=-- „Bildung zum
Wahren, Guten und Schönen!“ Die erſte dieſer beiden
Antworten ſieht auf das zu erziehende Subjekt und
fordert proportionale Ausgeſtaltung der in demjelben
ruhenden Anlagen; die andere iſt einerjeits 1pecieller,
inſofern ſie auf die Mittel, die Wege der Erziehung
hinwe oiſt; andererſeits allgemeiner, umſaender, indem
jie zugleich auf das zu realiſierende Totalobjekt, das
Weltganze, den Bli lenkt; die eine itt praftijyh-py<ho-
logiſ<, die andere hat einen tieferen philojfophilchen
Hintergrund; die eine iſt ſubjektiv, die andere objekiiv ;
die eine iſt weſentlih formal, die andere material.
Eine Vereinigung der beiden erzielt etwa: Harmoniſche
Vildung durch Erziehung zum Wahren, Schönen und
Guten, entipr hend den intellektuailen, äthetiſch2n und
moraliſchen Anlagen des Judividuums.
Aber =-- fhlummert hier nicht ein aber? Ent-
halten mht die erwähnten Zielbeitimmungen =- von
anderweitigen Austtellungen hier abgejehen = einen
Betonungsmangel, den Mangel nämlich, daß nicht an-
gegeben wird, welches unter den dreien das Wicdhtigite,
Harmoniiche Bildung, Ausgeſtaltung
der intellektuellen, ätbetiichen und moraliſchen Tähig-
keiten des Individuums? Wohlan, aber weicher itt der
Grundton in diejem Dreiklang? Das Wahre, das
Schöne, das Gute? Aber iſt nicht eines das Größte
unter ihnen? Cs klingt hier der vauliniſche Lobgeſang
der Liebe an. Die Liebe das Größte. Die Liebe aber
iit nah <ritlicher Sittenlehre der Gipfelvunkt des
Guten. Zſt ſonac< die Liebe höher als alle Weishett
und alle TS hönheit. 19 iſt das Gute das Höchtte, und
boſer heißen: Ziel der
Wahren, zum Schönen
es müßte in jetter Beſümmuug
Erziehung iſt die Bildung zum
und vor allem zum Gutem.
Doh ich höre hier einen Cinwand, wie
«nemme
Der
es ſ;Heint =-- von Bedeutung it. Die Veſchältigung
mit demjelben wird uns einen Schritt weiter fübreit.
Der Einwand iit diefer: IW08 zicht wahr it, das iſt
auch nicht aut; ein Sittengeſes, das wicht vor dem
Forum der Wahrheit beſtehen kann, ij'e überhaupt hin-
fällig. Ferner: Was nicht gut in und meh? ideal
wahr itt, das iſt auch uicht ſchön; eine Hinitleriiche
Verkörperung unwehrer oder unfittlicher Gedanken, Ge-
fühle und Ideen iſt auch äſthetiim verfehlt, entbehrt
aud) der wirklichen Schönheit, Furzum: das Wahre,
das Schöne, das Gute mud meinander, miteinander,
durcheinander, 10 daß eine Weltai Hdaumg Der einen
Art, in ihrer Vollendung gedacht, fei es die thooretiſ<ze,
die äſthetiſ<e oder die ethiſche, die beiden andern nit
umfaßte. Das hat ſeinen Grund darin, daß das Wahre,
Das Schöne und das Gute tiefinnerlich eus find; ſe
bilden eine Einheit, haben eine in der Tiefe des Dateins
ſprießende gemeinſame Wurzel. Oder == um in einem
andern Bilde zu reden == das Wahre, das Schöne
und das Gute ſind Radien eines uitd desfkelben Kreiſes;