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Beſſimismus aud Pädagogil. *)
Von Dr. piil. P. Bergemann-Jena.
Unter den mannigfachen geiſtigen Strömungen der
Ge genwart nimmt der BeſjimiSmus, bei un8 durch
Scop enhauer zuerſt im großen Stile ſyſtematiſiert,
eine bedeutſame Stellung ein und giebt immer wieder
von neuem zu mehr oder minder lebhaften Kontroverſen
in der Unterhaltung wie in der Litteratur Veranlaſſung.
Das große Intereſſe für dieſe eigentümliche Erj<einung
des modernen Geiſtesleben iſt vor allem auf den Ein-
fluß Eduards von Hartmann zurückzuführen, deſſen
Schriften, von allen Gebildeten viel gelejen, in fehr
hohem Maße dazu beigetragen haben, fich mit den ein-
ſchlägigen Problemen zu befaſſen. Dieſer Philojoph
hat auch unter den Pädagogen für ſeine pejjumi jüſche
Weltanſchauung Propagandu zu machen verſucht, ohne
aber dabei vom Glücke begünſtigt worden zu Jein: man
hat die Berechtigung ſeiner Forderungen beſtritten. Je-
doch kann ic< nicht wuhin zu jagen, daß man etwas
zu flüchtig darüber hinweggegangen i iſt, ohne eine ge-
nauere Prüfung vorz zunehmen und eine ausführliche
Widerlequng zu verſüchen. Dies iſt allerdings nicht
allzu ſonderbar, wenn man bedenkt, das Hartmann
jeine diesbezüglichen Annchten in erſter Linie den Pä-
dagogen herbartij Her Nichtung zur Beurteilung vor-
gelegt hat -- dieſe aber, eine eſtgeſ<hlojjene Gruppe
bildend, franken in hohem Grade an den Fehlern,
welche wiſſenſchaftliche Schulen aufzuweijen pflegen, vor
allem an ſtarrem Fejthalien am Überlieferten und an
hohmütigem Abweiſen fremder, nichtzünſtiger Geijtes-
produkte. == Auch ich have bereits ein paar Yeal Ge-
legenheit geyommen, meinen antipe)fimiſt dm Stand-
punkt, beſonders mit Rüchicht auf die Pädagogik, zu be-
tonen, ghne jedoch ausführlicher micß darüber ausge-
ſprochen zu haben. Dies möchte ich in diefer Abhand-
lung thun, verweiſe aver, da eine jalche für eine Zeit-
ſchrift beſtinmie jtets in gewüſjen engen Grenzen e-
halten werden muß, behufs eingehenderer Orientierung
auf mein demnäcdht erjeheinendes Buch) „Die peſſimie
tde Unterſtrömug in der Pädagogif des 19. Jahr-
(under t5.“ --
Um ſieh ein Urteil darüber bilden zu können, ob
der Reſſimismus eine pädagogii< verweribare Weltan-
Ihanmumg in vder mieht, welche Steilungen ihm gegen:
über die Erzieher einzunehmen haben, muß man zunächſt
über fein Weſen in Klarheit gekommen jein. Das itt
keineswegs fo leicht, wie es wohl den Anſchein hat,
wewt mau fich einfach an die Bedeutung des Wortes
„Beſanismus hält. Cs giebt nämlich eine ganze
Neibe von Spielarten ve?) imüſcher 2 Betrachtuingsiweit,
die 1i< oft erheblich von einander unterſcheiden; ja,
nicht Jelten gehen * deſfimismus ind Oprimismias
ganz eigonartige Verbindungen ein, Häufig fmdet 1ich
der Veſſiuismus auch gepaart mit Cymismus, 7o zwar,
daß manchmal jetter von dietem nd faimm nod) unter-
icheiden läßt = daher gilt os, bei der Bogrifſsbeſtimms-
niig aus dem vorhandenen Weaterial wt großer Vor-
Nat zu GUETE So intereſſant und auch naheliegend
es bei dizſer Unterinhumig wäre, auf die Entſtehungs
gefäyichte des modernen Poſſimismus einen Bli> zu
werken, den peſſimiſtiſchen "Anklängen in der Litteratur
der ver]<iodeiſten Bölker alter und neuer Zeit nachzu:
gehen, die populäre Denkweiſe in den Bereich der Be-
trahtung zu ziehen, Jo muß ich hier doch darauf ver-
*) Mit Zuſtimmung der Nedaktion und des Herrn Verfaſſers
der „Pädagogiſchen Zeitung“ entnommen.
zihten und mich auf die Darlegung und Prüfung der
gegenwärtigen diesbezüglichen Anſichten, wie ſie in the-
oretiſ<er Ausprägnung vorliegen, mich beſchränken. --
Unter Peſjunismus ſchlechtweg pflegt man zumeiſt
nur den eudämonologij hen zu verſtehen, welcher
bejagt, daß, wenn man bei den einzelnen Menſchen die
Luſtgefühle und die Unlujtgefühle im Verlaufe ihres
ganzen Lebens ſummiert und die Summen von einain-
der fubtrahiert, ſtets ein Unluſtüberjihuß ſich ergiebt --
oder, wie Schopenhauer draſtiſch ſich ausdrü>t, daß
fein Menſch ſich ganz glülich fühlen kann, es ſei denn,
daß er betrunken iſt. Nun leuchtet von ſelbſt ein, daß
dieje Anſicht unbeweisbar iſt, da das Experiment,
welches allein ſie beſtätigen würde, numöglich ausge-
führt werden kann. Ganz abgeſehen von den Hinder-
nijen, die Jo auf der Hand liegen, daß Über ſie kein
Wort verloren zu werden braucht, auh deShalb nicht,
weil eine reinliche Summation der Gefühle und ſomit
ein reinliches Reſultat jc<on dadurch ausgeſchloſſen iſt,
daß Jowohl die Luſtgefühle unter ſich wie auch die Un-
lujigefühle unter einander qualitativ verſchieden ſind.
Der eudämonologiſche Peſſimismus hat ſomit gar keine
andere als jubjektive Bedeutung. =- Mit ihm vereinigt
findet ſich häufig die Anſchamumg, daß die Steigerung
der Kultur ſogar noc< eine vejtändige Verminderung
der Glücſeligfeit zur Folge habe: jei ſchon im Natur-
zuſtande ein Unluſtüberſchuß vorhanden, jo wachſe der=
jelbe unaufhörlich, je weiter das Men ichengeſchlecht jich
von demſelben entferne, je mehr jich jeine intelleftnelſen
Fähigkeiten entfalten =- dies die Die emnumg Sc<hopern-
bh auers wie aieh Hartmanns. Bekanntlich behauptet
der eitdämonologiſche Optimismus das gerade Gegen-
teil von dem allen, ohne aber ebenſowenig wie der
Peſimismus irgend welche haltbare Belege dafür auf-
bringen zu könen = vielmehr ſiud beide Antichten
Durdjaus unerweislich.--
Cine andere Art des PBeſſimisnus iſt der mora-
[i]<e, bei dem auch wieder verſchiedene Varationen zu
unterſcheiden find. Die einen behaupten, der Men
jei böſe von Grund aus und fei mie anders geweſen,
es beſtehe zwiſchen den einzelnen Menſchen ein beſtän-
diges „bellnm ommam contra omnes“ (Hobbes), es
tä „homo homimi lupus“ (SSopenhaner ). „zum
Zaume gehalten würden die ſchlimmen ? Reigunge M NU
durch Gewalt oder Klügheitsrücffichten. Die (<hriſtliche)
Kirche hingegen lehrt, daz der Menih zt. nach Gottes
Ebenbild nttließ wie geiſtig vollfommuen (proteſiantiſche
Lehre) dvder indifferent zwiſchen aut und böſe (fatholitche
Lehre) geſchaffen worden ſei, aber dieſen „status orizi-
nals" durd) dein Fall Ndams oingebüß habe. Dexr-
ſelbe habe die Folae gehabt, daß nunmehr den Menſen
dive SÜUDde ZUL „UÜtern 1: ura“ geworden [eoi, 10 daß
er gar mt mehr anders als fündigen kömi: „non
potest non peccare*“ (fleine Abweichungen zwiſchen der
fatholijqen und proteſtantiſcyen Auffaſſung auch hierbei).
Freilich lehrt die Kir<e, daß der Menſch nd) betiern
könne, jedoch mt aus eigener Kraft, ſondern nur mi
Hülfe der Gnado Gottes; und auch Schopenhauer tritt
für die Wbglichteit einer Wandlung zum Beſſern ein,
welche durch) eine übernatürliche Charakier -Umwälzung
vor nich geheit foll, die zur Verneinung des Willens
zum Leben führt (der das Leben bejahende Wille iſt die
Urſache alles Böten, der Sünde). = Sehr oft verbin-
det NM der moraliſche unt dem eudämo! tologiſ hen Vet-
fmiSnus und man behauptet nit Cmphatie, daß die
Kultur, wie jie mit innerer Notwendigkeit Glück zer-
ſtöre und Schmerz vermehre, f9 auch die Schlechtigkeit