Full text: Hamburgische Schulzeitung - 3.1895 (3)

hängnisvollen Zwieſpalt zwiſ<en Glauben und Wiſſen. 
ein Ende zu machen? Etwa dadurc<, daß die Autorität 
der Kirche wieder in ihre vollen Rechte eingejezt wird 
und man Lehre und Wiſſenſchaft eindämmt in die 
Feſſeln alter Redhtgläubigkeit, daß man Belohnung 
und Strafen in Ausſicht fellt, je nachdem der Prediger 
oder Lehrer ſich zu den Saßungen der Kirche verhält ? 
I<h meine, wir haben in den Regierungsbeſtrebungen 
der 40. und 50. Jahre, welc<he für uns die bekannten 
Regulative brachten, bereits die Erfahrung gemacht, 
daß es vergeblich Bemühen war, den gewaltigen Strom 
moderner Bildung zu hemmen. Viel ungeſehenes Herze- 
leid auf der einen Seite und Heuchelei und Streber- 
tum auf der andern ſind die Früchte jener Beſtrebungen 
- 
geweſen. Und doch, die Ausſöhnung zwiſchen dieſen 
feindlichen Gegenfäßen iſt möglich. Wir müßen uns 
zuerſt nur daran erinnern, daß Religion und Theologie, 
Chriſtentum und Dogmatik, nicht identiſch ſind. Theologie 
und Dogmatik find nur menſ<liche, dem Irrtum unter- 
worfene Verſuche des wiſſenſchaftlichen Verſtandes, ſich 
jene Har zu machen. Ein Widerſpruch «egen die 
Dogmatik iſt alſo no<h kein Kampf gegeu Religion 
und Chriſtentum; er kann vielmehr dazu dienen, da3- 
ſelbe richtiger, larer, umfahjender einzuſehen, damit es 
mehr und m hr zur That werde. Wo nan die Jrx- 
tümer des fir<lihen Lehrſyſtems klar zu Tage liegen 
und zu einer Gefahr für die Wertſchäzung der Religion 
ſelbſt werden, find wir da verpflichtet, für dieje Jrr- 
tümer einzutreten, ſie von Generation auf Generation 
zu verpflanzen? Aber darüber zu urteilen, wo8 Wahr- 
heit und Jrrtum, ſei nicht unjere Sache, wird uns 
entgegengehalten, das bleibe Sache der Kirche und 
ihrer Organe ; ihren Enticheidungen habe die Schule 
willigen und unbedingten Gehorſam zu leiſten. Wer 
ſo ſpricht, vergißt wieder, daß Religion und Chrijten- 
tum nicht Sache des urteilenden Verſtande8, ſondern 
Leben und Erfahrung des Gemütes und eine durch ſie 
bedingte Willensrichtung ſind. Freilich, man kann uns 
zwingen und man hat es ja gethan, unjern Kindern 
einen ganz beſtimmten Lehrgehalt gedächtniSmäßig und 
bis zu einem gewiſſen Grade auch verſtandeSmäßig 
anzueignen, niemals aber, daß wir bei jolchem Unter- 
richt nun auch mit unſerm eigenen Herzen und unſerer 
innerſten Überzeugung betheiligt find. Und was iſt 
die Folge, wenn wir nur mit halber Liebe uns dieſer 
ſhHönſten und größten Aufgabe unſeres Berufs zu- 
wenden? Für uns das Gefühl des Unbefriedigtſeins, 
für unſere Kinder, daß ſie vielleicht Shaden nehmen 
an ihrer Seele, daß ſie mit der Schale den edlen 
Kern wegwerfen, weil wir es nicht verſtanden, die 
Religion ihnen lieb und wert zu machen. So bleibt 
alfo für un8 die Forderung beſtehen, daß 
wir um der Religion, um des Heils unſerer Kinder 
willen, nicßt lehren, wa8 wir ſelber nicht glauben, 
ſondern nur da8, was ſich uns als wahr und frucht- 
bringend erwieſen hat. 
Wir ſtehen im öffentlihen Dienſte der Wahrheit, 
das ſollten wir nie vergeſſen. Aufrichtigkeit und 
Wahrheitsliebe ſind die jpeziſiſ<en Tugenden, die von 
uns verlangt werden, ſte find die Grunvbedingungen 
unſere3 Wirkens, denn au? ihnen beruht das Vertrauen 
der Kinder und ihrer Eltern. i 
Unſere Aufgabe beſteht niht in der Übermittelung 
von Religionskenntniſſen, ſondern in der Pflanzung 
und Pflege der Religion ſelbſt. Die Anlage zur 
Religioſität iſt dem Menſ<hen angeboren; ſie iſt ſeine 
beſte und für die rehte Lebensführung und Lebens- 
 
vollendung die allerwichtigſte Anlage. Es gilt, ſie zu 
einem fräftigen Lebensprinzip zu entwi>eln. Können 
wir dieſer Forderung nach unſerer Überzeugung mit 
den uns von der Kirche dargereichten Formen und 
Mitteln ni<t oder nur halb genügen, ſo ſind wir 
damit feine8weg3 der Verpflihtung überhoben, demt 
wir ſind ja nicht Mietlinge im Amte, um korreite 
Anſichten vorzutragen, ſondern Arbeiter im Weinberge 
unſeres Gottes und ihm vor unſerm Gewiſſen ver- 
antwortlicß für das, was wir in Erfüllung unſerer 
Pflicht thun oder nicht thun. Er wird dic Früchte 
aus unſerer Hand fordern. Von einem Abfinden in 
der Weiſe, daß wir äußerlich den fir<hlichen Forderungen 
genügen und innerlih uns do< fagen, IaB wir es 
ganz anders hätten macheu müſſen, darf bei ehrlichen 
und wahrhaftigen Lehrern nicht die Rede jein. Aljo 
müſſen wir das Recht für uns in Anſprucß nehmen 
aus Gründen, die in der Natur der Sache ſelbſt liegen, 
von dem abzuweichen, was die Kir<he als Saßzung 
aufgeſtellt hat. . 
Man fürchte niht, daß die Abwendung vom 
firhlichen Dogmatismus ein Sprung ins Bodenloſe 
ſei, wel<her dem SubjektiviSmus und der Willkür Thür 
und Thor öffnet. Uns bleibt als feſter Boden das 
Evangelium und der Geiſt Chriſti, der den Aufrichtigen 
in alle alle Wahrheit leiten wird. Das Wather pflegt 
ni<G<t unreiner zu werden, je näher der Quelle man 
e8 ſchöpft =- wohl aber trüben ſich die Fluten, die 
hier eine Mühle, dort eine Fabrik getrieben haben. 
Und wenn wir bedenken, welche Faktoren bei Feſt- 
ſtellung der kirhlihen Dogmen mitgewirkt haben, wie 
ſie und mit welcher Abſicht manche derſelben entitanden 
ſind, ſo können wir uns des Gedankens nicht erwehren, 
daß der Vergleiß mit den getrübten Fluten nicht ganz 
unberechtigt ſei. DoH e3 ſei ferne von uns, eine 
pietätloſe Kritik an dem üben zu wollen, was Jahr- 
hunderte hindurg al8 Gefäß des Heiligtums gedient 
hat; auch möchte i< jeden Amts8genotjen warnen, im 
Religion3unterrichte gegen die Dogmen der drifilichen 
Kirche zu polemiſieren, da3 wäre unrecht und thöricht. 
Wir haben, das Ziel unverrückbar im Auge behaltend, 
den Weg zu ſuchen, auf dem wir mit unfern Kindern 
es zu erreichen vermögen. Zſt das Ziel aller religiöſen 
Erziehung eingeſchloſſen und ausgedrüci in dem Wort 
„Chriſtum liebgewinnen“, jo müſien wir uns wohl 
fragen, ob der Dogmati3mus dazu der rechte Weg ſei. 
I< glaube, die meiſten werden darauf mit einem ent- 
ſchiedenen „Nein“ antworten. Was die d<riſtliche 
Kirhe unter argen Streitigkeiten über die Perſon 
Chriſti al8 Lehr- und Glauben8ſäge mit dem Anſpruch 
auf ewige Gültigkeit hingeſtellt hat, enthält kaum einen 
Zug, der unfere Herzen in Liebe zu ihm hinzieht. 
Wenn ſic ſeine Perſon mit den Attributen der Goti- 
heit ausſtattet, ihn auf übernatürlihe Weije geboren 
werden und unter dem römiſchen Landpfleger leiden 
läßt, wenn ſie ihm eine Höllenfahrt zuſchreibt, ihn 
dem Fleiſ<e nag auferſtehen und gen Himmel fahren 
läßt und zuleßt in ihm den Richter der Lebendigen 
und Toten erblit, ſo dürfte dur< Übermittelung diejes 
Lehrgehalt8 die Perſon Chriſti ic<hwerliq in Liebes- 
gemeinſ<haft mit der Kinderſeele zu bringen jein. Denn 
fo ſehr, wie dieſe theologiſ<en Glaubensſätße unſerem 
Intellekt widerſprechen, 10 wenig genügen ſie den 
Forderungen der religidjen Gemüter. Sie erweijen 
ſich nach beiden Seiten hin unfruchtbar. Das Seelen- 
heil, d. i. die innere religiöſe Befriedigung von der 
Annahme dieſer Sätze abhängig machen zu wollen, iſt
	        
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