ein ungeheurer Irrtum, der ſi dadurch rächt, daß
heute dem Chriſtentum ſo viele feindlim oder gleich
gültig gegenüberſtehen. Glücklicherweiſe aber hat es
zu allen Zeiten Lehrer gegeben, welche ſi< weniger
um die Erklärung dieſer Dogmen gekümmert haben als
darum, die Perſon Chriſti den ihnen anvertrauten
Seelen menſ<li< nahe zu bringen, die den Glauben
an ihn nicht auf abſtrahierte Begriffe, ſondern auf die
Forderungen des Gemütes gegründet haben, die ihn
zeigten in ſeinem unbedingten Gehorſam gegen den
himmliſchen Vater, in ſeiner unendlichen Liebe zu den
Brüdern, bis zum furchtbarſten Tode getreu, durch
feine Verſuchung zu erſchüttern, durc< keinen Undank
zu erbittern, von einem Wahrheit3mute ohne Gleichen,
wie von einer ſanftmütigen Milde ohne Gleichen.
Das ſind die Züge, die bei allen Gegenjätßen in den
Lehrbegriffen der verſchiedenen Konſeſſionen, bei allen
Schwankungen theologiſ<er Meinungen, bei allen
Reſultaten der hiſtoriſ<en Kritik ſtehen geblieben ſind.
Durc< dieſe Züge hat der Stifter unſerer Religion
von der Zeit feines Erdenwandels bi8 auf den heutigen
Tag die Menſchen gewonnen, den härteſten Widerſtand
beſiegt und Unzählige zu Gott geführt. Dieſer Charalter
von großartiger Einfachheit wirkt, wie Dreyer in
ſeinem „Undogmatiſchen Chriſtentum“ ſagt, auf alle
beſtimmend, verurteilend und begeiſternd ; er begleitet
uns in alle LebenSverhältniſſe und Gemütszuſtände,
wie der Polarſtern den nächtlihen Wanderer; er läßt
keinen wieder frei, in deſſen Geſicht8kreis er einmal
getreten iſt. Dieſen bis auf den heutigen Tag fort
und fort wirkenden Chriſtus ſollte man den hiſtoriſchen
nennen, denn er ruft fort und fort die gewaltigſten
hiſtoriſ<en Wirkungen hervor. Die geſchichtlichen
Thaten und Ereigniſje werden aus den Gemütern der
Menſchen geboren -- in dieſen aber iſt, ihnen ſelbſt
bewußt oder unbewußt, Chriſtus eine der ſtärkſten,
treibenden Kräfte, von innen heraus die Welt regierend,
umgeſtaltend, verklärend. Dieſer, mit Rec<t jo zu
nennende hiſtoriſche Chriſtus iſt niemals zweifel-
haft geweſen, und er iſt es, nicht die Saßungen
der Kir&e, welher die Glaubensgewißheit jhaſſt.
Dieſen Chriſtus können wir lehren, ohne mit den
Reſultaten der Wiſſenſ<aften in Widerſpruch zu kommen.
Und darin liegt die Verſöhnung und Gewähr des
Herzensfriedens, daß wir die Religion von vornherein
niht in Gegenſaß zu den übrigen Bildungselemeuten,
ſondern in volle Harmonie zu ihnen ſeen. So dürfen
wir Überzeugt ſein, daß unſere Schüler die Religion
als ein köſtlihes8 Kleinod ſich allen Anfechtungen gegen,
über, die von außen kommen, ebenſo wie allen Zweifeln,
die in ihnen auftauchen, zum Troß bewahren werden.
Ehomas More,
deſſen Utopia ſowie die utopiſtiſchen Romane im
allgemeinen.
Über dieſe3 Thema ſpra<ß Herr Guſtav Tuch vor
einiger Zeit im „Verein für das Studium der neueren
Sprachen.“ Der Redner ſtellte zunähſt den Begriff
„Staat3roman“ feſt. Man bezeichnet damit Werke der.
Litteratur, die ſi< mit der beſtmöglichen Geſtaltung
des Staats8weſens8 und Volkslebens befaſſen, ohne dabei
ſiH auf eine folgerichtlihe Weiterbildung der geſ<i<t-
lichen Entwi&lung und des Beſtehenden einzulaſſen, oder
aber ohne ihrem Syſtem eine phyloſophiſ<e oder reli-
giöſe Weltanſhauung zur Grundlage zu geben. Die
Staatsromane ſind ſcharf zu ſcheiden von den ſozialen
Nomanen und den, die Idee und das Wejen des
Staats behandelnden wiſſenſchaftlihen Arbeiten. Im
ſozialen Romane bemüht ſich der Verfaſſer, die Konflikte,
die aus Standes- und Klaſſen-Unterſ<heidungen erwachſen,
an perſönlihen Geſchifen zu verdeutlichen und auf
Einzelfragen der Geſittung und des bürgerlichen Lebens
einzugehen. Die Staatsromane richten ſim dagegen
auf das allgemeine. Die wiſſenſchaftlichen Arbeiten
gleicher Tendenz unterſcheiven ſich aber von ihnen dur<
methodiſ<e Umfaſſung des ganzen Gegenſtandes, dann
aber auc< dadur<, daß ſie den Zujammenhang mit der
Vergangenheit und die Herleitung aus der einen oder
andern Weltanſ<hauung aufrehthalten.
Rlatos „Kritias“ und „Athen und Atlantis“ ge-
hören niht zu den Staatsromanen. Seine beiden
Werke: „Zehn Bücher vom Staat“ und „die Geſetze“
werden dagegen als Aus8gangspunkt dieſer Litteraturart
angenommen. Zwar haben wanche dies nicht aner-
kennen wollen, weil Plato keine Romane, ſondern ernſt-
haſte philoſophiſhe Werke zu hinterlaſſen gedachte.
Allein er ſtellte aus willkürlich herausgegriſſen That-
ſahen und Gedanken kühne, fünſtlerijm höht eindru>3-
volle, von der Wirklichkeit jedoch abſtrahierende Pro-
bleme auf, was dur<ſchlagend dafür iſt, daß die beiden
Werke den Staats8romanen zuzurechnen ſind. Thomas
Mores Utopia wird aus ganz anderen Gründen in
dieſelbe Kategorie eingereiht. Seit dem erſten Exr-
ſ<heinen dieſes Buches in lateiniſcher Sprache ind 378
Jahre verfloſſen und es läßt ſich jezt mit Beſtimmtheit
fagen, daß ſeine Jdeale, in den Ländern die. an euro-
päiſher Ziviliſation feſthalten, nicht zur Durchführung
Fommen werden. Aber die Utopia gleicht nicht dem
Werke eines Plato, der hochphiloſophiſm; und fein
dialektiſch zwar, jedo<h abſeit3 vom Leben ein Welt-
gebäude einſeitig konſtruiert. More war ein vollendeter
Renner des Rlato. Aber er war auch ein gewiegter
Juriſt, Unterſheriff London8, Geſandter Englands und
ſeine3 Handelsſtande8, Unterhändler mit dem ſpaniſchen
Karl und den Hanſeaten, Parlamentarier, Sprecher des
Unterhauſes und Reichskanzler eines großen Landes. Die
unzähligen Beziehungen in Staat und Geſellichaſt, die
Verkehrtheiten, Schlechtigkeiten und da3 Elend, die Tag
für Tag an ihn herantraten, erregten ſein Mitgefühl
mit allem, was menſc<lic<h iſt, aufs äußerſte, 1pornten
ihn zur ſchärfſten Kritik an. Er erhoſſte von einem
kommuniſtiſhen Gemeinweſen die Erlöjung aus den
beſtehenden Übeln. Daß fein Werk darauf ausging,
auf Fürſten EindruX zu machen, hat er mit andern
Verfaſſern aus den Zeiten der Renaiſſance und des
Humaniö8mus gemein. Mit der Beſchreibung der Inſel
Utopia hatte er England vor Augen, wie CraSmuSs von
Rotterdam erzählt und More3 begeiſterter Biograph
Kauts8ky nachweiſt. Sein Vaterland hätte More gern
aus einem Unland, einer Utopia, zu einer Eutopia,
einem GlüF3lande erhoben. In ſeiner Stellung im
und für das Leben beruht Mores Stärke, die Bedeu-
tung ſeiner Scrift, ihre raſche Verbreitung, häufige
Wiederauflegung und Überſezung in viele Sprachen.
Mores Kommuni3mus iſt, auc< abgeſehen von der Ab-
ſtraktion, der Schroffheit und Härte Platos, die das
heutige, ethiſ<e und äſthetiſm<e Gefühl tief beleidigt,
dadurch von dem in den „Zehn Bücher vom Staat“ auf-
geſtellten dadur< verſ<ieden, daß dieſe nur für eine bevor-
zugte Kaſte berechnet iſt, dem ein halbvertiertes Sklaven-
tum zur Folie dienen ſollte. Ebenſo entfernt ijt More
aber auch vom heutigen Kommunismus und Sozialis-
mus, weil zwiſhen der damaligen und heutigen Zeit