Full text: Hamburgische Schulzeitung - 3.1895 (3)

ein ungeheurer Irrtum, der ſi dadurch rächt, daß 
heute dem Chriſtentum ſo viele feindlim oder gleich 
gültig gegenüberſtehen. Glücklicherweiſe aber hat es 
zu allen Zeiten Lehrer gegeben, welche ſi< weniger 
um die Erklärung dieſer Dogmen gekümmert haben als 
darum, die Perſon Chriſti den ihnen anvertrauten 
Seelen menſ<li< nahe zu bringen, die den Glauben 
an ihn nicht auf abſtrahierte Begriffe, ſondern auf die 
Forderungen des Gemütes gegründet haben, die ihn 
zeigten in ſeinem unbedingten Gehorſam gegen den 
himmliſchen Vater, in ſeiner unendlichen Liebe zu den 
Brüdern, bis zum furchtbarſten Tode getreu, durch 
feine Verſuchung zu erſchüttern, durc< keinen Undank 
zu erbittern, von einem Wahrheit3mute ohne Gleichen, 
wie von einer ſanftmütigen Milde ohne Gleichen. 
Das ſind die Züge, die bei allen Gegenjätßen in den 
Lehrbegriffen der verſchiedenen Konſeſſionen, bei allen 
Schwankungen theologiſ<er Meinungen, bei allen 
Reſultaten der hiſtoriſ<en Kritik ſtehen geblieben ſind. 
Durc< dieſe Züge hat der Stifter unſerer Religion 
von der Zeit feines Erdenwandels bi8 auf den heutigen 
Tag die Menſchen gewonnen, den härteſten Widerſtand 
beſiegt und Unzählige zu Gott geführt. Dieſer Charalter 
von großartiger Einfachheit wirkt, wie Dreyer in 
ſeinem „Undogmatiſchen Chriſtentum“ ſagt, auf alle 
beſtimmend, verurteilend und begeiſternd ; er begleitet 
uns in alle LebenSverhältniſſe und Gemütszuſtände, 
wie der Polarſtern den nächtlihen Wanderer; er läßt 
keinen wieder frei, in deſſen Geſicht8kreis er einmal 
getreten iſt. Dieſen bis auf den heutigen Tag fort 
und fort wirkenden Chriſtus ſollte man den hiſtoriſchen 
nennen, denn er ruft fort und fort die gewaltigſten 
hiſtoriſ<en Wirkungen hervor. Die geſchichtlichen 
Thaten und Ereigniſje werden aus den Gemütern der 
Menſchen geboren -- in dieſen aber iſt, ihnen ſelbſt 
bewußt oder unbewußt, Chriſtus eine der ſtärkſten, 
treibenden Kräfte, von innen heraus die Welt regierend, 
umgeſtaltend, verklärend. Dieſer, mit Rec<t jo zu 
nennende hiſtoriſche Chriſtus iſt niemals zweifel- 
haft geweſen, und er iſt es, nicht die Saßungen 
der Kir&e, welher die Glaubensgewißheit jhaſſt. 
Dieſen Chriſtus können wir lehren, ohne mit den 
Reſultaten der Wiſſenſ<aften in Widerſpruch zu kommen. 
Und darin liegt die Verſöhnung und Gewähr des 
Herzensfriedens, daß wir die Religion von vornherein 
niht in Gegenſaß zu den übrigen Bildungselemeuten, 
ſondern in volle Harmonie zu ihnen ſeen. So dürfen 
wir Überzeugt ſein, daß unſere Schüler die Religion 
als ein köſtlihes8 Kleinod ſich allen Anfechtungen gegen, 
über, die von außen kommen, ebenſo wie allen Zweifeln, 
die in ihnen auftauchen, zum Troß bewahren werden. 
Ehomas More, 
deſſen Utopia ſowie die utopiſtiſchen Romane im 
allgemeinen. 
Über dieſe3 Thema ſpra<ß Herr Guſtav Tuch vor 
einiger Zeit im „Verein für das Studium der neueren 
Sprachen.“ Der Redner ſtellte zunähſt den Begriff 
„Staat3roman“ feſt. Man bezeichnet damit Werke der. 
Litteratur, die ſi< mit der beſtmöglichen Geſtaltung 
des Staats8weſens8 und Volkslebens befaſſen, ohne dabei 
ſiH auf eine folgerichtlihe Weiterbildung der geſ<i<t- 
lichen Entwi&lung und des Beſtehenden einzulaſſen, oder 
aber ohne ihrem Syſtem eine phyloſophiſ<e oder reli- 
giöſe Weltanſhauung zur Grundlage zu geben. Die 
Staatsromane ſind ſcharf zu ſcheiden von den ſozialen 
 
Nomanen und den, die Idee und das Wejen des 
Staats behandelnden wiſſenſchaftlihen Arbeiten. Im 
ſozialen Romane bemüht ſich der Verfaſſer, die Konflikte, 
die aus Standes- und Klaſſen-Unterſ<heidungen erwachſen, 
an perſönlihen Geſchifen zu verdeutlichen und auf 
Einzelfragen der Geſittung und des bürgerlichen Lebens 
einzugehen. Die Staatsromane richten ſim dagegen 
auf das allgemeine. Die wiſſenſchaftlichen Arbeiten 
gleicher Tendenz unterſcheiven ſich aber von ihnen dur< 
methodiſ<e Umfaſſung des ganzen Gegenſtandes, dann 
aber auc< dadur<, daß ſie den Zujammenhang mit der 
Vergangenheit und die Herleitung aus der einen oder 
andern Weltanſ<hauung aufrehthalten. 
Rlatos „Kritias“ und „Athen und Atlantis“ ge- 
hören niht zu den Staatsromanen. Seine beiden 
Werke: „Zehn Bücher vom Staat“ und „die Geſetze“ 
werden dagegen als Aus8gangspunkt dieſer Litteraturart 
angenommen. Zwar haben wanche dies nicht aner- 
kennen wollen, weil Plato keine Romane, ſondern ernſt- 
haſte philoſophiſhe Werke zu hinterlaſſen gedachte. 
Allein er ſtellte aus willkürlich herausgegriſſen That- 
ſahen und Gedanken kühne, fünſtlerijm höht eindru>3- 
volle, von der Wirklichkeit jedoch abſtrahierende Pro- 
bleme auf, was dur<ſchlagend dafür iſt, daß die beiden 
Werke den Staats8romanen zuzurechnen ſind. Thomas 
Mores Utopia wird aus ganz anderen Gründen in 
dieſelbe Kategorie eingereiht. Seit dem erſten Exr- 
ſ<heinen dieſes Buches in lateiniſcher Sprache ind 378 
Jahre verfloſſen und es läßt ſich jezt mit Beſtimmtheit 
fagen, daß ſeine Jdeale, in den Ländern die. an euro- 
päiſher Ziviliſation feſthalten, nicht zur Durchführung 
Fommen werden. Aber die Utopia gleicht nicht dem 
Werke eines Plato, der hochphiloſophiſm; und fein 
dialektiſch zwar, jedo<h abſeit3 vom Leben ein Welt- 
gebäude einſeitig konſtruiert. More war ein vollendeter 
Renner des Rlato. Aber er war auch ein gewiegter 
Juriſt, Unterſheriff London8, Geſandter Englands und 
ſeine3 Handelsſtande8, Unterhändler mit dem ſpaniſchen 
Karl und den Hanſeaten, Parlamentarier, Sprecher des 
Unterhauſes und Reichskanzler eines großen Landes. Die 
unzähligen Beziehungen in Staat und Geſellichaſt, die 
Verkehrtheiten, Schlechtigkeiten und da3 Elend, die Tag 
für Tag an ihn herantraten, erregten ſein Mitgefühl 
mit allem, was menſc<lic<h iſt, aufs äußerſte, 1pornten 
ihn zur ſchärfſten Kritik an. Er erhoſſte von einem 
kommuniſtiſhen Gemeinweſen die Erlöjung aus den 
beſtehenden Übeln. Daß fein Werk darauf ausging, 
auf Fürſten EindruX zu machen, hat er mit andern 
Verfaſſern aus den Zeiten der Renaiſſance und des 
Humaniö8mus gemein. Mit der Beſchreibung der Inſel 
Utopia hatte er England vor Augen, wie CraSmuSs von 
Rotterdam erzählt und More3 begeiſterter Biograph 
Kauts8ky nachweiſt. Sein Vaterland hätte More gern 
aus einem Unland, einer Utopia, zu einer Eutopia, 
einem GlüF3lande erhoben. In ſeiner Stellung im 
und für das Leben beruht Mores Stärke, die Bedeu- 
tung ſeiner Scrift, ihre raſche Verbreitung, häufige 
Wiederauflegung und Überſezung in viele Sprachen. 
Mores Kommuni3mus iſt, auc< abgeſehen von der Ab- 
ſtraktion, der Schroffheit und Härte Platos, die das 
heutige, ethiſ<e und äſthetiſm<e Gefühl tief beleidigt, 
dadurch von dem in den „Zehn Bücher vom Staat“ auf- 
geſtellten dadur< verſ<ieden, daß dieſe nur für eine bevor- 
zugte Kaſte berechnet iſt, dem ein halbvertiertes Sklaven- 
tum zur Folie dienen ſollte. Ebenſo entfernt ijt More 
aber auch vom heutigen Kommunismus und Sozialis- 
mus, weil zwiſhen der damaligen und heutigen Zeit
	        
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