Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

(gemeint iſt Goethe) lo8zuknallen.“ I< ſetze voraus, daß 
Wolgaſt die Litteraturgeſchihte genügend beherrſ<t. Dann 
muß er wiſſen, daß gerade Menzel von ſeinem <riſtlich- 
germaniſchen Standpunkte aus Goethe in ſchroffſter Weiſe 
angegriffen hat. Was. bleibt zur Rechtfertigung dieſe8 von 
Wolgaſt gewählten Ausdru>&3? Nur. „Menzel, der Fran- 
zofenfreſjer“ nach Börne und „Menzel, der Denunziant“ nach 
Heine. Da3 leßtere ſcheint ihm. bei feiner offenbar gereizten 
Stimmung vorgeſchwebt. zu haben. Wir lächeln über dieſen 
Ableger der Dr. Löwenbergſc<hen Dum-Dum-Manier. Wenn 
wir, um das JInhaltloſe de3 Prinzips „von jeder um ſich 
ſelbit willen ſich hervordrängenden Tendenz“ an einem Bei- 
ſpiele darzulegen, auf die Tendenz de8 Gedichtes „Der 
gleitende Purpur“ verweiſen, jo wüäſfen: wir uns frei von 
jedem Denunziantentum. Wie faſt jede. Schimpferei entſpringt 
auch dieje der Gereiztheit der. Hilfloſigkeit. Selbſt der Ge- 
währ3mann Wolgaſts, Dr. Riß. M. Meyer, ſagt von den 
Gedichten Konr.. F. Meyer3, daß es ihnen. nicht an Ten- 
deuz fehlt. Weiteres habe i< auch nicht behaupten und 
beweiſen wollen. Mein Urteil über die Lyrik Meyers (nur 
um. diefe handelt es ſich) finde ich. ferner beſtätigt in „Dr. 
F. Kirchner, die deutſche Nationallitteratur de8 19. Jahr- 
hundert8.“ Darin heißt. es: „In ſeiner (K. F. Meyer3) 
Sammlung „Gedichte“ 1883 finden ſich freilich nicht wenige, 
die beſjer fortgeblieben wären, ſei es wegen des zu dürftigen 
Inhalts, jei es wegen der nicht genug durc<gefeilien Form.“ 
Was Dr. Rich. M. Meyer und Dr. Fr. Kirchner urteilen, 
ganz dasjelbe habe ich behauptet und, wa3 mehr fagen will, 
im einzelnen nachgewieſen. Wozu. alſo „entrüſtet“ ſich die 
„Stt. K.“, wenn der gejunde Menſchenverſtand der nahezu 
geſamten hamburgiſchen Lehrerſchaft eine „Auswahl aus 
dieſer für die „Litt. K.“ alles Hohe und Süße umſchließenden“ 
Lyrif ablehnt? „Entrüſten“ ſich die Herren auc< über Dr. 
Rich. M. Meyer und Dr. Fr. Kir<hner? In Hinſicht auf 
die Dichter Falke und K. F. Meyer erinnere ich an Goethes 
Wort: „Die deutſche Sprache iſi auf einen [ſo hohen Grad 
der AuSsbildung gelangt, daß einem jeden gegeben iſt, ſowohl 
in Proja als in Rhythmen und Reimen ſich, dem Gegenſtand 
wie der Empfindung gemäß, nach jeinem Vermögen glüälich 
auszudrücen.“ 
Do nun zu den zwei Gedichten. 
Schäfers Sonntagslied (17. Nov. 1805). 
Von Ludw. Uhland. 
1. Das iſt der Tag des Herrn ! 
I<H bin allein auf weiter Flur. 
No<h eine MorgengloFe nur, 
Nun Stille nah' und fern. 
. Anbetend knie' ieh hier. 
O ſüßes Grau'n! geheimes Wehn! 
Al3 knieten viele ungeſeh'n 
Und beteten mit mir. 
3. Der Himmel nah' und fern, 
Er. iſt ſo klar und feierlich, 
So ganz als wollt' er öffnen ſich. 
Das iſt der Tag des Herrn! 
Morgenpredigt. 
Von Guſtav Falke. 
1. Die Felder lagen ſtill und ſc<wer, 
Der Sommer brachte Segen. 
Wir gingen kreuz und gingen quer 
Und kamen von den Wegen. 
2. E8 ſtand ein roter Mohn im Korn 
Und eine weiße Winde, 
ES hing ein kleines Neſt im Dorn 
AuZ3. Halmen und aus Rinde. 
3. Ein Sonntag war's, da8 Dorf verfte>t 
In Andacht und in Frieden, 
Und wir von Wall und Buſch umhe>t 
Von allen abgeſchieden. 
4. Dort fiel nun wohl vom Kanzelbord 
- In die erbaute Menge 
Gar manches gute Liebeswort 
Und. manches. Wort. der. Strenge. 
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5. Hier ward uns eine Vredigt ring3 
Au3 Sonne und. aus Stille, 
Da3 Leuchten eines Schmetterlings, 
Das Zirpen einer Grille. 
6. Und hier und da ein Liebe3wort 
So abſeit38 von den Wegen. 
Die Ähren wogten- leiſe fort, 
Der Sommer brachte Segen. 
Beide Gedichte behandeln al38. Thema: „Gotte8dienſt in 
der Einjamkeit der Natur am Sonntagmorgen.“ Das Uh- 
landj<e Gedicht bedarf feiner Erklärung; Situation und 
Stimmung ſprechen in einfach inniger Weiſe zu Aug', Ohr 
und Herzen de3. Leſer3, ſelbſt eines ungebildeten. Wolgatt 
gebraucht reichlich zwei Spalten der „Päd. Ref.“, „um den 
Kollegen“ (alfo gebildeten Männern) „die Schönheit Falke- 
ſcher Poeſie zu erſchließen.“ Das ſpricht jon zu ungunſten 
de3 Falkeſchen Gedichtes. Ein Dichter. jollte keinen Aaron 
nötig haben. Gedichte ſind keine Rätſel. Die Lyrik muß 
imſtande ſein, unmittelbar auf das Gemüt zu wirken. Wird 
die geiſtige Kraft des Leſers oder Hörer3 erhebli in An- 
ſpruch genommen, um nur das finngemäße Verſtändnis her- 
auSzudeuten, wie iſt dann die weſentlichſte Wirkung der Lyrik, 
die gleich- und mitklingende Stimmung, möglich? 
Wenden wir uns nun dem Einzelnen zu! 
=. 
„Wir gingen kreuz und gingen quer.“ 
Auszuführen, was Falke damit. jagen will, hätte ſich: Wol- 
gaſt erſparen können. Das fühlt ein Blinder mit dem Stoc>. 
Etwas anderes aber iſt es, ob der Dichter berechtigt iſt, der 
Logif der Sprache Gewalt anzuthun, indem. er die Wörter 
de38 einen Begriff38 „freuz und quer“ auSeinander reißt. 
Selbſt das Vorbild Fr. Stolberg8, welcher dichtet : 
„Mich treibt umher mein wilder Sinn, 
Er treibet mich kreuz, er treibet mich quer.“ 
läßt mich dies verneinen. Stolberg vermeidet vielleicht ab- 
ſichtlich das „und“. Man vergleicße das analoge, gleich 
unzulängliche Trennen in 
„Wir ſc<hrieben dann und ſ<rieben wann.“ 
oder gar 
„Wir ſchwärmen nun und ſ<wärmen nimmer.“ 
Die dichteriſche Freiheit darf nicht zu der Willkür, ſtiliſtijch 
Unſtatthafte3 zu verwenden, ausarten. 
„GS ſtand ein roter Mohn im Korn 
Und eine weiße Winde. 
E83 hing ein kleines Neſt im Dorn 
Aus Halmen und aus Rinde.“ 
Nac< Wolgait ſoll „diejer Singular eine der größten Fein- 
heiten des Gedichtes ſein,“ ferner „darf ſich dieje Strophe 
würdig dem Schönſten an die Seite ſtellen, was die deutſche 
Stimmungslyrik aufzuweiſen bat.“ Der Mohn und die 
Winde ſollen „unter der De>e des Bewußtſeins das Liebe3- 
paar widerſpiegeln“ und das Neſt den Ausbli> derſelben in 
die Zukunft. Das freilich war mir, der i< anläßlich meiner 
Beurteilung das Gedicht vielfach geleſen habe, überraſchend 
neu. War e3 mir doch kaum zum Bewußtſein gekommen, 
daß da3 „Wir“ im Gedichte ein luſtwandelnde38 Liebe3paar 
ſein ſollte! Zn den angeführten Zeilen ein allegorij<hes 
Ruppenſpiel ſehen zu wollen, muß jede rein lyriſche Wirkung 
ertöten. Wer die Litteraturgeſchichte kennt, weiß auch, daß 
derartige ſpißfindige, künſtliche Mittelhen nur in Zeiten des 
Verfall3 der lyriſchen Dichtkunſt Anerkennung fanden. Seit 
dieſer Exegeſe Wolgaſt8, der dem Dichter perſönlich nahe 
ſteht, iſt mir das Gedicht geradezu unleidlich geworden. 
Wenn etwas „gemacht“ und nicht „gewachſen“ iſt, jo it 
es dieje Strophe. Man vergleiche, wie einfa<, naiv |<ön, 
ohne alles Raffinement, den Todfeind der echten Lyrik, das 
Ühlandſc<he Gedi<t unmittelbar zum Herzen ſpricht. -- Daß 
ferner „Rinde“ mit Rüdſicht auf den Reim und nic<t aus 
klarer Anſ<hauung des „kleinen Neſtes“ heraus angewendet
	        
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