Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

ordneten höheren Zweden die Einheit zu ſtiften, die durch 
unſeren früheren Willen nicht geleiſtet worden iſt. 
Es droht alſo keine8wegs die Gefahr, daß wir durch 
die Erhebung zur Jdee die Erfahrung etwa ganz überfliegen 
und in jenen luftleeren Raum, von dem Kant einmal ſpricht, 
UnNZ verſteigen würden; jenſeit8 der Erfahrung liegt nicht der 
Richtpunkt irgend eines redlichen Beſtreben3 für den Menſchen; 
ſein Wille und ſein Verſtand kann nur in der Lebensluft 
der Grfahrung atmen und ſich fortbewegen. I< will vom 
Zeitlihen aus8 das Ewige: heißt richtiger: ich will 
vom Ewigen aus da3 Zeitliche, das Zeitliche ſchaffen vom 
Standpunkt des ewigen Geſees der Jdee aus (als der 
Aufgabe: Ginheit unter allen Zwe>en des menſc<- 
lichen Handeln3 zu ſtiften). 
Alle Tendenz des Willen3 iſt Tendenz zur Einheit; 
ohne das läßt ſich überhaupt nicht8 von Tendenz verſtehen, 
denn Tendenz heißt Richtung, und Richtung geht immer 
auf Eines und ſchließlich auf ein Unendliche3. 
Hieraus erklärt ſich, was man mit der Freiheit des 
Willen3 Richtiges im Sinn hat. Es8 iſt zunächſt die 
Freiheit des Bewußtſein3, die Erhebung des geiſtigen 
Blies, des Geſicht3punkte3 de38 praktiſchen Urteil3 über 
den vermeinten Zwang des Naturgeſeze8, das do< nie 
unbedingt zu zwingen vermag; denn es iſt ſelbſt nicht un- 
bedingt; e8 läßt thatſächliß< das Urteil des Willens frei; 
denn die8 wird durch einen unbedingten Zwe> beſtimmt. 
Das Gejeß der JZödee iſt eben dann für ihn richtend, 
im Doppeljinn der Richtung gebenden und des richterlich 
Ent) Heidenden. (Schluß folgt.) 
Die ungariſche Bürgerſchule. 
Von jeher haben die politiſchen Vorgänge im Magyaren- 
ſtaate die Aufmerkſamkeit der europäiſchen Völker erregt. 
Selbſt von allerhöc<hſter Stelle de8 Deutſ<en Reiche3 iſt 
bekanntlich dem Ungarnvolke gelegentlich der Centenarfeier 
zu feinen freiheitlichen Inſtitutionen Beifall gezollt worden. 
Uns Lehrer intereſſiert in erſter Linie das Schulweſen dieſer 
ate welches ebenfalls im Geiſte de3 Fort]<ritt8 organi- 
tert iſt. 
Wie in Bayern, ſo muß au< in Ungarn jedes Kind 
mindeſten38 4 Jahre, nämlich vom ſechſten bis zehnten Leben3- 
jahre, die jogenannte allgemeine Volks8ſchule beſu<en. In 
diejer jißen die Kinder der Armen und Reichen friedlich 
nebeneinander. Privatſchulen beſtehen faſt ausſchließlich aus 
fkonfeſſionellen oder nationalen Gründen, ſelten aus Stande8- 
rüdjichten. Auch ſtaatliche Vorſ<ulen giebt e8 in Ungarn 
mMht. Die Gymnaſien und Realgymnaſien entnehmen ihre 
Schüler aus den Volksſ<hulen. Nur die tüchtigſten Knaben, 
die mindeſten3 da3 zehnte Leben3jahr über)<ritten haben, 
gelangen in die höheren Schulen, in denen ſie ſich die 
Studienreiſe erwerben können. Talentvolle Knaben, welche 
jedoc<h nicht beabſichtigen, ſpäter die Univerſität zu beſuchen, 
treten nach vierjährigem erfolgreichem Volköſchulbeſuch in die 
Bürgerſ<ule; denn au< dieſe Anſialt iſt mit Berechti- 
gungen fo ausgeſtattet und derartig organiſiert, daß der 
Bejuch dieſer Schule inbezug auf das praktiſc<e Leben 
gleichwertig dem Beſuche des Gymnaſiums erſ<eint. 
Die ungariſc<e Bürgerſchule iſt vierſtufig, ſodaß die 
tüchtigſten Schüler derſelben geradezu mit dem Austritte 
aus der Schule ihrer Schulpflicht genügt haben. Die Mehr- 
zahl derjelben abſolviert jedo< die Bürgerſchule erſt mit 
dem vollendeten fünfzehnten oder ſechzehnten LebenS3jahre. 
Die Lehrfächer dieſer Schule ſind außer denjenigen der 
VolkR<ule no< fremde Sprachen (mindeſtens Deutſch), 
Mathematik (Geometrie, Algebra, kaufmänniſches Rechnen, 
Buchführung), Realien, Phyſik, Chemie, geometriſches Zeichnen. 
Die Abſolvierung der vierſtufigen Bürgerſchule berechtigt 
zum Eintritte in 1. die mittleren Fachſchulen, 2. die im 1. 
Artikel des Geſees von 1883 angeführten Manipulation3- 
ämter, 3. die entſprechenden Klaſſen des Gymnaſiums und 
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der Realſchule. Im letzteren Falle muß der Schüler eine 
Prüfung mit Erfolg ablegen, die ſich aber bloß auf die 
Abweichung der Stundenpläne von einander erſtrect. 
Ganz entſprechend vrganiſiert iſt die vierſtufige Mädchen- 
Bürgerſchule. Sie nimmt die tüchtigen Volksſchülerinnen 
auf, die mindeſtens das zehnte, in der Regel jedo< das 
elfte LebenöSjahr überſchritten haben und gewährt dieſen in 
ihren vier aufeinander folgenden Jahreskurfen eine weiter- 
gehende Bildung, welche den fortſchreitenden Anforderungen des 
praktiſchen Lebens entſpricht. Eine Reihe von Fachſchulen öfſnen 
den Abiturientinnen der Mädchenbürgerſchule ihre Pforten. 
Auch das Mädchengymnaſium nimmt diejenigen von ihnen 
auf, die ſich zum Univerſitätsbeſuche vorbereiten wollen. 
Aljio der Weg zu den akademiſc<en Ämtern und Würden 
iſt auch den intelligenten Mädchen der breiten Volk3j <ichten 
erreichbar. 
Eine no< höhere Bedeutung erhält die ungarijc<e 
Knaben-Bürgerſchule dadurch, daß ſie vielfach durch Auſbau 
einer dreiſtufigen Oberhürgerſ<hule zu einer ſiebenſtufigen 
Bildungsanſtalt ausgeſtaltet wird. Dieſe dreiſtufige Ober- 
bürgerf<ule wird von 15--18jährigen jungen Leuten 
beſucht, die in der Regel 4-5 Jahre in der Volkſchule 
waren und darauf die Unterbürgerj<hule mit ihren vier 
Jahreskurſen abſolviert haben. Die Lehrpläne der Ober- 
bürgerſ<hule ſind denen unſerer Oberrealſ<ule ähnlih. Von 
den fremden Sprachen werden außer Deutjch no< Franzöjiy< 
und Engliſch gelehrt. Latein iſt fakultativ. Für Religion 
und Sittenlehre iſt wöchentlih eine Stunde beſtimmt. 
Mathematik und Naturwiſſen] <haſten werden bejonder3 von 
prattiſchen Geſichtöpunkten aus beirieben, indem diejenigen 
Wiſſenſchaften mit beſonderer Gründlichkeit behandelt werden, 
die der Schüler in ſeinem ſpäteren Berufe voraus3ſichtlich 
auc< wirklicg verwenden kann. 
Das Abgang8zeugni8 der Oberbürger]c<ule berechtigt 
nicht nur zum einjährigen Militärdienſi, ſondern gewährleiſtet 
den Inhabern auch die Berechtigung zum Antritte jämtlicher 
Verwaltung38ämter, für welche Hochſ<ulſiudien nicht vor- 
geſchrieben ſind. Abiturienten der Oberbürger|<ule werden 
angeſtellt al8: 1. Gemeinde- und Bezirkönotare, 2. Geometer 
und Gefäl3beamte, 3. Kuratoren, Rechnung3- und Kontroll 
beamte, 4. Eiſenbahn-, Poſt» und Telegraphenbeaimte 
(mittlere und höhere Laufbahn), 5. Staats3kaſſierer, Steuer- 
beamte. Ferner jind ſü berechtigt zum Eintritt in die: 
1. Berg-, Forſt-, Handel8- und landwirt]<aktlic<he Akademie, 
9. Militärakademie, Tierarzneiſ<ule, nautijhe Sdule, 
3. Anſtalt zur Heranbildung von Profeſſoren für das Zeichnen, 
4. Kurſe zur Ausbildung der Apotheker. 
Au3 dieſer Zuſammenſtellung der Berechtigungen, welche 
der erfolgreiche Beſuch der ungariſchen Bürgerſchule gewährt, 
geht hervor, daß dieſes Unterrichtöinſtitut eine hervorragende 
Stelle im GeſamtorganiSmu38 des ungariſchen Schulweſen3 
einnimmt, und in den leßten Jahrzehnten hat dasjelbe 
fortwährend an Bedeutung gewonnen. Schon jeßt er- 
werben die Schüler der Bürgerſchule faſt diejelben Rechte, 
die den Gymnaſiaſten erreichbar ſind. Naß der Statijt:k 
hat Ungarn 3 0351 586 Volksſchüler, 34 164 Bürgerſc<üler 
und 33 586 Gymnaniaſten. Die Bürgerſchule wirkt 
gleichzeitig entlaittend auf das GÖymnaſtum. Während in 
Preußen 2,2 % aller Schüler die neunſtufige böhere Schule 
bejuchen, beträgt die Zahl der ungariſG<en Gymnaſiaſten 
nur 1,6 % der Geſamtjc<ülerzahl. 
Für Städte mit mindeſiens 5000 Einwohnern, in denen 
Feine Bürgerſchule beſteht, ſchreibt das Gees wenigſtens die 
Errichtung einer höheren Volk3ſchule vor, welche das ſiebente, 
achßte und neunte Schuljahr der gutbegabten Volksſ<üler ums 
faßt und dieſen eine Bildung verſ<afft, die ſich der Bürger- 
ſchulbildung nähert. An dieie höhere Volk3ſhule können je 
nac< dem vorberrſ<enden Erwerbszweige der Landſchaft noch 
landwirt]<aftliche, gewerbliche oder kaufmänniſche Fachklayyen 
angegliedert werden. Die Statiſtik zählt in Ungarn 16564 
Volksſchulen, 54 höhere Volks8ſchulen, 174 Bürgeri<ulen, 
147 Gymnatnien bezw. Realgymnaſien und nur 23 Realichulen.
	        
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