Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

Erziehung heraus, jedoch nur, wie geſagt, als Einſicht, daß 
das Phyſiſche als ein Mittel dem fittlichen Zwe un- 
tergeordnet werden muß. 
Die zweite Stufe der Aktivität iſt der Wille im engeren 
Sinne. Wille unterſcheidet ſich darin von Trieb, daß dieſer 
von einem Gegenſtande widerſtandslos gefeſſelt wird, während 
der Wille abwägt, urteilt; durch den Willen lenken wir 
ſogar bewußt den Trieb um. Der Wille fragt nach der 
Wahrheit und Falſchheit des Triebes, jein Urteil bildet die 
Maxime ſeines Handeln3; der Wille bejagt die Objekt- 
ſezung aber als eines ſeinſollenden Objekts, hat aber 
nicht minder als die Vorſtellung des ſeienden Gegenſtandes 
die Bedeutung einer für ſich gültigen, dem empiriſchen 
Subjekt mit unbeugſamem Anſpruch gegenübertretende 
Setzung. Dies iſt der bedeutſame Sinn des Willen3: als 
des entſchiedenen Vorſatzes einer Sac<he. Aljo kann 
der Wille nicht die Reſultante blinder Triebe jein. In der 
Selbſtbeſtimmung des Objekts iſt der Wille dem Trieb über- 
legen: er iſt die Feſtigkeit, d. h. beharrende Cinheit 
der Bewußtſein3richtung, iſt konzentrierter Trieb. Der 
Wille iſt nicht im Sinnlichen des Triebe3 mehr befangen ; 
ihm gilt die Sache mehr als die Perjon, ſogar als die eigene. 
Auch der Wille iſt ſittlich indiſſerent, wie der bloße Trieb. 
Gar manchmal hat ein perverſer Wille „Großes“ hervor- 
gebracht. Was ſind denn die Großen der Gej<ichte oft 
anders als höchſt beſonnene und willensſtarke Verbrecher. 
Der Wille gehor<t alſo einer Maxime; aber nicht jede 
Maxime taugt, wie uns die Apoſtrophe eben erinnert, zu 
einer allgemeinen Geſeßgebung. Zwar hält der Wille 
die Einheit der Bewußtſeinrichtung feſt, aber er erhebt ſich 
noc< nicht zur Frage nac< dem unbedingt Gejetlichen, 
no< nicht auf den Standpunkt de3 Unbedingten. Das 
fäßt den bloßen Willen no< zurü> hinter dem reinen oder 
Vernunftwillen. 
Da3 Verhältni8 der drei Stufen iſt dieſes: Trieb be- 
zeichnet nur das Vorhandenſein einer Strebung überhaupt, 
d. h. Richtung der Aktivität auf irgend ein Ziel, ohne Be- 
wußtſein einer ſtreng feſtzuhaltenden, jede Ausweichung ver- 
bietenden Einheit der Richtung; auf der Stufe des Willens 
tritt das Bewußtſein hinzu, e8 fehlt aber no< die Ein- 
ſicht, daß, wie wir ſagten, jede Richtung ins Unendliche 
weiſt; es fehlt die Meſſung des einzelnen, empirij<en Wollens 
an dem nicht mehr empirijchen Ziel des unbedingt Sein- 
ſollenden. Der Vernunftwille bringt dies hinzu; er erhebt 
ſich zum ſc<lechthin übergeordneten Standpunkt des undbe- 
dingt Geſeßlichen. Der empiriſche Gegenſiand wird mit 
au8drülichem Bewußtſein nur bedingt gewollt, um eines 
ferneren und ferneren Zwede3 halber. 
Der Vernunftwille kann ſich nun allerdings niemals empi- 
riſch beweiſen, weil er über das Empiriſche hinausſtredt; wir 
urteilen zwar über die Handlung unſeres Nächſten, aber als 
über einen unſichtbaren Zeugen ſeines Willens. Nur vor dem 
eigenen Bewußtſein erweiſt ſich das Vernunftgeſeßs mächtig, 
ja unbedingt herrſchend in dem unerbittlichen Gericht über 
unſer empiriſche3 Thun. Da3 aber denke ich, iſt eine mäch- 
tige, praktiſche Wirkung des Vernunftgeſetes, wie wenig auch 
uns es zweifelhaft erſcheint, daß dieſes Geſe nicht mächtig 
genug iſt, unſeren Willen ganz in ſeine Bahnen zu zwingen. 
Die Gewalt aber, die das Vernunftgeſeß als die „beſſere 
Perſon“ in mir auSübt, kommt der Vernunft einzig und allein 
aus der Einheit, in der ſie gleichſam das ganze Willen5- 
vermögen in ſeinem letzten Grunde, im Selbſtbewußtſein, 
zuſammenfaßt. Dieſe Konzentration aller Zwe&e im Bli&- 
punkte des Unbedingten iſt die Wurzel ſeiner Kraft. 
Jſt das die Form des Vernunftwillens, ſo wiſſen wir, 
daß das Material, an dem ſich die Form bethätige, gleichſam 
realiſieren muß, der Naturboden iſt. Das iſt die große Be- 
deutung, die in der Technik liegt, daß ſte dieſe Bezogenheit 
der Welt der Zwe&e auf das Reich der Natur ausdrüdt. 
Nach Sokrates hätte nicht wieder vergeſſen werden ſollen, 
daß die Technik in eine konkrete Ethik unerläßlich hinein» 
gehört. Zit einerſeit3 die Technik, als Anwendung von 
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Fn nn 
Naturkräften auf naturgegebenem Stoff zweifellos rein theo- 
rethiſch, nämlich naturwiſſenſchaftlich zu begründen, ſo ſtellt 
ſie nicht minder weſentlich andererſeit3 die Naturkraft in den 
Dienſt menſ<hliher Zwe>e. Nun kann aber kein. menſchlicher 
Zwe außer Beziehung bleiben zu dem höchſten menſchlichen 
Zwe: dem Menſc<en ſelbſt, oder der Menſchenbildung, 
und dieſe iſt, dem regierenden Prinzip nach, Willens bil- 
dung. Zielt nun ſchließlich alle Theorie auf Technik, jo iſt 
klar, wie alles thevretiſche Bewußtſein auS3nahmlos zugleich 
eine Beziehung auf8 Willen8bewußtjein gewinnen und ſich 
ihm ſchließlich unterordnen muß. (Theorie -- Technik -- 
Ethik.) Umgekehrt bleibt das Willen3bewußtſein auſs theore- 
tiſche jeinem ganzen Stoff nach angewieſen ; die Entwieklung des 
praktiſchen Bewußtſeins iſt durchaus gebunden an den Fort- 
ſchritt der theoretiſchen Erkenntnis, die ihm den Stoff bietet. 
Nun haben wir uns aber gegenwärtig zu halten, daß 
ein Selbſtbewußtſein, ſo paradox es klingen mag, im Menjc<hen 
ſich nur entwickelt im Wechſelverhältnis von Bewußtjein 
zu Bewußtſein, nur in einer Gemeinſ<aft, gleichgültig, 
ob wir auf dem tiefſien Boden des bloßen Triebes vder 
dem des Vernunftwillens ſtehen. Zwiſchen Gemeinſchaft und 
Erziehung beſteht ein nicht bloß äußeres Verhältnis. Der 
einzelne Menſ< iſt eigentlich nur eine Abſtraktion, gleich dem 
Atom des Phyſiker3. Der Menſ<<, hinſichtlich alles deſſen, 
was ihn zum Menſchen macht, iſt nicht erſt als einzelner 
da, um dann auc< mit anderen in Gemeinſchaft zu treten, 
ſondern er iſt ohne dieſe Gemeinſchaft garnicht Men1ch. 
Dies vergaß die Sozialwiſſen|<aft, wenn ſie die Ge- 
ſellſchaft aus einem Contrat Social, aus einer bloß äußeren 
Verbindung zuvor iſoliert gedachter Einzelner zu erklären 
unternahm; dies überſah die Ethik, jo oft ſie aus dem Eg0- 
i8mu38, al3 dem einzig urſprünglichen und jelbſtverſtändlichen 
Trieb im Menſchen, deſſen ſittliches Leben und Denken durch 
irgend eine Entwiälung hervorgehen ließ; und wenn die 
Erziehungslehre niht als Grundjat erkennt und an die 
Spitze ſtellt, daß Erziehung ohne Gemeinſ<aft überhaupt 
nicht beſtände, ſo verfehlt ſie in wichtigen Hinſfichten ihre 
Kufgabe. 
In der Erziehung handelt es ſich um das Bewußtjein 
ſeinem Inhalt und der Geſeßlichkeiten nach, in die er ſich 
ausrolt. 
Dieſe ſind von Haus für alle dieſelben. Folglic< giebt 
e8 feinen reinen, d. bh. gejezmäßig erzeugten Inhalt des Be- 
wußtſeins3, der des Einzelnen aus)]<hließliches Eigentum wäre. 
Aller echter Bildungsinhalt iſt an jich Gemeingut. So 
ſicher der äußere Ko3mos3 in ſeinem Aufbau und dem Wechſel 
ſeiner Erſcheinungen einem Geſeße folgt, das nach keinem 
zufälligen (egozentriſchen) Standpunkt des Beobachters fragt, 
jo ſicher unterliegt der Aufbau und die aufſteigende Ent- 
wiälung der inneren Welten der Erkenntnis, der Sittlichkeit 
und ſelbſt der Kunſtgeſtaltung Geſeßen, die unterſchied8los 
dieſelben ſind für alle. Die Eigenart einer individuellen 
Anſicht, die oft mit ſo viel Stolz prätendierte Perſönlichkeit, 
die, je eigenartiger ſie iſt, von einer modernen Richtung um 
ſo mehr als ideal geprieſen wird, Perſönlichkeit it nichts 
als eine Beſchränkung des unermeßlichen Inhaltes der 
menſc<lißen Bildung. Es iſt traurig, dieje einfachen Wahr- 
heiten nicht bloß ausſpre<en und von neuem betonen, 
jondern noch verteidigen zu jollen gegen den Wahn eines 
Paradoxenjägers, den man, im härteſten Widerjpruch mit 
ſeiner eigenſten Abſonderlichkeit, jezt zum Philoſophen „umzu- 
werten“ bemüht ſc<eint. 
Erhebung zur Gemeinſ<aft ijt Erweiterung. 
des Selbſt. Damit ſtreitet die echte Individualität der 
Bildung überhaupt niht. Dieſe iit die Errungenſchaft von 
Sokrate8, Plato und Kant, eben den Männern, über die die 
Zeitphrafen des Individualizmus ſich am hochmütigjten hin- 
wegſezen. Die Geſeßlichkeiten, nach denen ſich aller Inhalt 
unferes Bewußtſein und alfo unſerer Bildung geſtaltet, 
find allgemeinſte Geſetzlichkeiten alles Bewußtſeins überhaupt: 
das iſt der IndividualiSmus echter Bedeutung.
	        
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