E3 folgt nun aber aus der Gemeinjamkeit des Bil-
dungsinhalt3 zugleich die Möglichkeit einer bildenden
Thätigkeit als Gemeinſ<aft der den Inhalt geſtalten-
den Thätigkeit. Wer je vom andern gelernt hat, wem je
etwa3 klar wurde, indem er ſehen lernte mit demſelben Blis,
mit dem zuvor der andere jah und zu dem er ihm gleichſam
hinaufzuheben wußte, dem muß dieſer Sinn der bildenden
Gemeinſchaft klar ſein, und er muß erkennen, wie alle
Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des ZIntellekt38 wie des
Willens gänzlich hierauf beruht. Hier iſt nicht die Rede
von einem Einpflanzen von außen und andererſeit3 paſſiver
Entgegennahme. Die intenſivſte Förderung durch den andern
bedeutet vielmehr zugleich intenſivſte Selbſtthätigkeit und
umgekehrt. Wenn es aber nicht dieſe Gemeinſchaft von Be-
wußtſein und Bewußtſein gebe, ſo bliebe allein übrig, daß
der eine dem andern den toten Stoff zuſ<öbe und es ihm
Üüberließe, ob und wie er ihn verarbeitete. Denn freilich
würde das Lehren und Lernen notwendig zu dem verächtlichen
mechanijc<en Treiben, zu dem nur beiderſeitige Geiſte3träg-
heit e38 leider oft werden läßt.
Der bildende Einfluß der Gemeinſchaft erſtre>t ſich
auf den ganzen Stufengang der Befreiung de8 Bewußtſeins.
Er erſtre>t ſich ſelbſt auf die ſinnliche Wahrnehmung. E3
wäre undenkbar, daß da38 Chao38 der Eindrücke jich in eine
geordnete Objektwelt umſchüfe, wie es do< in jedem nor-
malen Kinde in den erſten LebenS3jahren vollbracht wird,
wenn ein jedes von Anbeginn ausſchließlich auf ſeine indi-
viduellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und ergänzenden
Vorſtellungen angewieſen wäre; wenn nicht ein Commercium
beſtände, dur; das der Erkenntniöerwerb anderer, zunächſt
der Umgebung de3 Kinde3, durc< deren Vermittlung aber der
ganzen Vergangenheit des Menſchengeſc<hlec<t38, ihm zugäng=
würde. Die Vorſtellung der umgebenden ſinnlichen Welt iſt
Gemeinbeſitz in inhaltvollſten Sinne, vor allem ſofern kein
einzelner fie vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der andern.
Für die Pädagogit iſt dieje Thatjache von fundamentaler
Bedeutung. Beſonders greiſbar aber ſtellt ſich diejer Sach-
verhalt dar in der menſchlichen Sprache und ihrer unermeß-
lichen Bedeutung für die menſchliche Erkenntnis, für die Ge-
ſtaltung eines menſchlichen Bewußtſein8 überhaupt. Bedenkt
man, wie Unmittztbar und unauslöſchlich die Dinge unſerer
Erkenntnis die Farbe der menſchlichen Sprache tragen, wie
wir ſelbſt in der Abſonderung von unſerer Umgebung im
ſtillen einſamen Denken: der Worte der Sprache un3 fort
und fort bedienen, aber wenigſtens die Fiktion (den
Schein) einer Mitteilung feſthalten, ſo leuchtet ein, wie
allgemein ſinnlos es iſt, auc< nur von theoretiſ<er Bildung
des Einſehen zu reden ohne Berüdſichtigung dieſer weſent-
lichen Bedingung: de3 Leben3 in der Gemein|]<aft.
E3 kann dieſe Beziehung de3 Individium garnicht innig
genug gedacht werden zur Gemeinſ<aft. Wir verſtehen unter
Gemeinſchaft, daß die Menſc<en einen geiſtigen Beſit gemein
haben und zu gleichen Rechten genießen müſſen, daß alſo der
eine mit ſeinem geiſtigen Inhalte mit nichten in bloßer Ab-
hängigkeit vom andern verharrt.
Was aber vom theoretiſ<en Lernen gilt, das gilt
ebenſo allgemein von der Bildung de8 Willen3. Man lernt
das Lernen nur, indem man wollen lernt. Alſo iſt gewiß
jeder wahre Unterricht, der freie Einſicht und nicht bloß
autoritative Annahme bewirkt, zugleich Erziehung, indem
die Verſtande3belehrung ohne Willengentwiä lung garnicht er-
reicht würde.
Das Selbſtbewußttein und mithin da3 jelbſtbewußte
Wollen entwickelt ſich allein in un3 mit der Gemeinſchaft
von Bewußtſein und Bewußtſein, eine Gemeinſchaft, die vor
allem Gemeinſchaft des Wollen3 ijt. Gerade in der tieſſten
Einigkeit mit dem andern unterſcheide ih mich von ihm und
finde mich ſelbſt. In jedem Menſchen iſt ein Unendliches ;
Ddeſien werde ic< in mir jfelbit erſt inne, indem i< die
Unendlichfeit im andern ahne.
Alfo muß die Lehre von der WillenZerziehung von
der Vorausſezung des Lebens in der Gemeinſchaft von An-
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eeempaatiie +
fang an ausgehen und die Konſequenzen dieſer Vorausſezung
auf Schritt und Tritt beachten. Dieſe Auffaſſung der Er-
ziehungöslehre wollen wir im Titel Sozialpädagogik in Er-
innerung halten.
Der Begriff der Sozialpädagogif erkennt alſo folgendes
als Grundſäße an: einerſeits iſt die Erziehung des JIndivi-
diums8 in jeder weſentlichen Richtung ſozial, d. h. durch
Gemeinſchaft bedingt, andererſeit8 iſt eine menſchliche Ge-
ſtaltung des ſozialen Lebens fundamental bedingt durc< eine
ihm gemäße Erziehung der Individuen, die an ihm teilnehmen
ſollen: Darum muß denn auch die lezte, die umfaſſendſte
Aufgabe der Bildung für den Einzelnen und für alle Ein-
zelnen ſich beſtimmen. Das Thema diejer Wiſſenſ<aft iſt:
die ſozialen Bedingungen, die für die Bildung des ZIndi-
viduums beſtehen und die Bedingungen, unter denen die
Bildung des ſozialen Leben3 beſteht. Dies jind aber nicht
zwei trennbare Aufgaben, ſondern da38 Gejeß, naß dem ſich
die intellektuelle und Willen3bildung de8 Einzelbewußtjein
entwidelt, iſt dasſelbe auc< für die allgemeine Bildung des
Gemeinſchaft8slebens. Gemeinſchaft und Individuen entwicteln
ſich nach demſelben einen Geſeße de3 Bewußtjeins.
Eine Sozialpädagogit darf aljo der Frage naß den Grund-
geſezen des Gemeinſc<haftöleben3, nac< den Grundgeſeßen,
in denen das joziale Leben ſich abſpielt, ni<ßt aus dem
Wege gehen.
Die Gemeinſchaft iſt das Einzelbewußtjein, ins große
projiziert, das Einzelbewußtſein iſt ein Mikroko8mo3, aber
darum in ſeinem Inhalt nicht ärmer oder gar ander3artig
als der Makroko8mos der Gemeinſchaft. Hier wie dort ſteht
an der Spitze das Grundgeſes des Bewußtſeins. Die Be-
ziehung und Sammlung allez Mannigſaltigen auf eine Ein-
heit, auf einen geiſtigen Blidpunkt „Vernunft“ bedeutet micht
nur die höchſte Einheit des menſchlichen Einzelbewußtjeins,
ſondern die ideale Einheit, welc<e den Begriff der Menic<h-
heit Ihafft. Die Entwiälung der Gemeinſ<afi muß durc<
dieſelben wejentlichen Stufen fortſchreiten, wel<e die Ent-
wiälung de35 Einzelnen durchläuft: aus dem Reiche der Not-
wendigkeit dur<ß Arbeit und Willensregelung ins Reich der
Vernunſt, der Freiheit.
Hiermit beſchließt der eigentlich theoretiſ<e Teil des
Buche3. Die beiden übrigen Bücher, von denen das erſtere
die Hauptbegriſfe der Ethik und Sozialphiloſophie giebt, das
zweite eigentlich pädagogiſ<e von der Organiſation und Me-
thode der Willenzerziehung handelt, i< jage: dieſe beiden
Bücher wollen wir mit feuchtem Finger bejpreen. Das
zweite Buch giebt ein Syſtem der Tugenden, d. bh. die Be-
thätigung8formen des einzelnen kraft der Notwendigkeit des
Gemein] <<aft3leben3; die Tugenden gliedern ſn< nach den
uns bekannten Grundformen de38 Willensleben3. Die Tugend
des Vernunſtwillen3s iſi die Tugend der Wahrheit, die
höchſte und alle3 beherrſ<ende. Die Tapferkeit oder
ſittliche Stärke iſ; die Tugend des Willens im engeren Sinne ;
Reinheit oder Maß iſt die eigentümliche Tugend des
unmittelbaren Trieblebens.
Dazu kommt no<h, als individuelle Grundlage der 1ozi-
alen Tugend: die Tugend der Gerechtigkeit.
Wir mühen es uns verjagen, die näheren Formulierungen
und die Charakteriſierung der Tugenden anzudeuten ; in ihnen
fommt die volle ſittliche Kraft der Perſönlichkeit Natorp3
zum ſc<önſten Au3Zdru&; allein ſchon dieſer Abſchnitt de3
Buches wäre würdig, an dieſer Stelle durc< eingebendes
Referat zur verdienten großen Wirkung zu gelangen.
Wie Natorp das Syſiem der Tugenden ableitet aus
den Grundſormen der Aktivität, 10 geſchieht es auch mit der
geſamten Materie des ſozialen Lebens. Auch hier giebt es
drei planvoll ineinander greifende Funktionen, die in beſtän-
diger Selbſterneuerung das ſoziale Leben im ganzen erhalten.
Dem Triebleben entſpricht die Okonomie, die bloß wirti<aft-
lihen Berufe ; dem Willen: die regierenden Thätigkeiten; dem
Vernunftwillen die bildenden Berufe. Wie aber alle Stufen
der Aktivität im Bewußttein des8ſelben Menſchen zur Erſc<ei-
nung kommen, ſo dürfen au< dieſe verſchiedenen Berufe