Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

E3 folgt nun aber aus der Gemeinjamkeit des Bil- 
dungsinhalt3 zugleich die Möglichkeit einer bildenden 
Thätigkeit als Gemeinſ<aft der den Inhalt geſtalten- 
den Thätigkeit. Wer je vom andern gelernt hat, wem je 
etwa3 klar wurde, indem er ſehen lernte mit demſelben Blis, 
mit dem zuvor der andere jah und zu dem er ihm gleichſam 
hinaufzuheben wußte, dem muß dieſer Sinn der bildenden 
Gemeinſchaft klar ſein, und er muß erkennen, wie alle 
Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des ZIntellekt38 wie des 
Willens gänzlich hierauf beruht. Hier iſt nicht die Rede 
von einem Einpflanzen von außen und andererſeit3 paſſiver 
Entgegennahme. Die intenſivſte Förderung durch den andern 
bedeutet vielmehr zugleich intenſivſte Selbſtthätigkeit und 
umgekehrt. Wenn es aber nicht dieſe Gemeinſchaft von Be- 
wußtſein und Bewußtſein gebe, ſo bliebe allein übrig, daß 
der eine dem andern den toten Stoff zuſ<öbe und es ihm 
Üüberließe, ob und wie er ihn verarbeitete. Denn freilich 
würde das Lehren und Lernen notwendig zu dem verächtlichen 
mechanijc<en Treiben, zu dem nur beiderſeitige Geiſte3träg- 
heit e38 leider oft werden läßt. 
Der bildende Einfluß der Gemeinſchaft erſtre>t ſich 
auf den ganzen Stufengang der Befreiung de8 Bewußtſeins. 
Er erſtre>t ſich ſelbſt auf die ſinnliche Wahrnehmung. E3 
wäre undenkbar, daß da38 Chao38 der Eindrücke jich in eine 
geordnete Objektwelt umſchüfe, wie es do< in jedem nor- 
malen Kinde in den erſten LebenS3jahren vollbracht wird, 
wenn ein jedes von Anbeginn ausſchließlich auf ſeine indi- 
viduellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und ergänzenden 
Vorſtellungen angewieſen wäre; wenn nicht ein Commercium 
beſtände, dur; das der Erkenntniöerwerb anderer, zunächſt 
der Umgebung de3 Kinde3, durc< deren Vermittlung aber der 
ganzen Vergangenheit des Menſchengeſc<hlec<t38, ihm zugäng= 
würde. Die Vorſtellung der umgebenden ſinnlichen Welt iſt 
Gemeinbeſitz in inhaltvollſten Sinne, vor allem ſofern kein 
einzelner fie vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der andern. 
Für die Pädagogit iſt dieje Thatjache von fundamentaler 
Bedeutung. Beſonders greiſbar aber ſtellt ſich diejer Sach- 
verhalt dar in der menſchlichen Sprache und ihrer unermeß- 
lichen Bedeutung für die menſchliche Erkenntnis, für die Ge- 
ſtaltung eines menſchlichen Bewußtſein8 überhaupt. Bedenkt 
man, wie Unmittztbar und unauslöſchlich die Dinge unſerer 
Erkenntnis die Farbe der menſchlichen Sprache tragen, wie 
wir ſelbſt in der Abſonderung von unſerer Umgebung im 
ſtillen einſamen Denken: der Worte der Sprache un3 fort 
und fort bedienen, aber wenigſtens die Fiktion (den 
Schein) einer Mitteilung feſthalten, ſo leuchtet ein, wie 
allgemein ſinnlos es iſt, auc< nur von theoretiſ<er Bildung 
des Einſehen zu reden ohne Berüdſichtigung dieſer weſent- 
lichen Bedingung: de3 Leben3 in der Gemein|]<aft. 
E3 kann dieſe Beziehung de3 Individium garnicht innig 
genug gedacht werden zur Gemeinſ<aft. Wir verſtehen unter 
Gemeinſchaft, daß die Menſc<en einen geiſtigen Beſit gemein 
haben und zu gleichen Rechten genießen müſſen, daß alſo der 
eine mit ſeinem geiſtigen Inhalte mit nichten in bloßer Ab- 
hängigkeit vom andern verharrt. 
Was aber vom theoretiſ<en Lernen gilt, das gilt 
ebenſo allgemein von der Bildung de8 Willen3. Man lernt 
das Lernen nur, indem man wollen lernt. Alſo iſt gewiß 
jeder wahre Unterricht, der freie Einſicht und nicht bloß 
autoritative Annahme bewirkt, zugleich Erziehung, indem 
die Verſtande3belehrung ohne Willengentwiä lung garnicht er- 
reicht würde. 
Das Selbſtbewußttein und mithin da3 jelbſtbewußte 
Wollen entwickelt ſich allein in un3 mit der Gemeinſchaft 
von Bewußtſein und Bewußtſein, eine Gemeinſchaft, die vor 
allem Gemeinſchaft des Wollen3 ijt. Gerade in der tieſſten 
Einigkeit mit dem andern unterſcheide ih mich von ihm und 
finde mich ſelbſt. In jedem Menſchen iſt ein Unendliches ; 
Ddeſien werde ic< in mir jfelbit erſt inne, indem i< die 
Unendlichfeit im andern ahne. 
Alfo muß die Lehre von der WillenZerziehung von 
der Vorausſezung des Lebens in der Gemeinſchaft von An- 
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eeempaatiie + 
fang an ausgehen und die Konſequenzen dieſer Vorausſezung 
auf Schritt und Tritt beachten. Dieſe Auffaſſung der Er- 
ziehungöslehre wollen wir im Titel Sozialpädagogik in Er- 
innerung halten. 
Der Begriff der Sozialpädagogif erkennt alſo folgendes 
als Grundſäße an: einerſeits iſt die Erziehung des JIndivi- 
diums8 in jeder weſentlichen Richtung ſozial, d. h. durch 
Gemeinſchaft bedingt, andererſeit8 iſt eine menſchliche Ge- 
ſtaltung des ſozialen Lebens fundamental bedingt durc< eine 
ihm gemäße Erziehung der Individuen, die an ihm teilnehmen 
ſollen: Darum muß denn auch die lezte, die umfaſſendſte 
Aufgabe der Bildung für den Einzelnen und für alle Ein- 
zelnen ſich beſtimmen. Das Thema diejer Wiſſenſ<aft iſt: 
die ſozialen Bedingungen, die für die Bildung des ZIndi- 
viduums beſtehen und die Bedingungen, unter denen die 
Bildung des ſozialen Leben3 beſteht. Dies jind aber nicht 
zwei trennbare Aufgaben, ſondern da38 Gejeß, naß dem ſich 
die intellektuelle und Willen3bildung de8 Einzelbewußtjein 
entwidelt, iſt dasſelbe auc< für die allgemeine Bildung des 
Gemeinſchaft8slebens. Gemeinſchaft und Individuen entwicteln 
ſich nach demſelben einen Geſeße de3 Bewußtjeins. 
Eine Sozialpädagogit darf aljo der Frage naß den Grund- 
geſezen des Gemeinſc<haftöleben3, nac< den Grundgeſeßen, 
in denen das joziale Leben ſich abſpielt, ni<ßt aus dem 
Wege gehen. 
Die Gemeinſchaft iſt das Einzelbewußtjein, ins große 
projiziert, das Einzelbewußtſein iſt ein Mikroko8mo3, aber 
darum in ſeinem Inhalt nicht ärmer oder gar ander3artig 
als der Makroko8mos der Gemeinſchaft. Hier wie dort ſteht 
an der Spitze das Grundgeſes des Bewußtſeins. Die Be- 
ziehung und Sammlung allez Mannigſaltigen auf eine Ein- 
heit, auf einen geiſtigen Blidpunkt „Vernunft“ bedeutet micht 
nur die höchſte Einheit des menſchlichen Einzelbewußtjeins, 
ſondern die ideale Einheit, welc<e den Begriff der Menic<h- 
heit Ihafft. Die Entwiälung der Gemeinſ<afi muß durc< 
dieſelben wejentlichen Stufen fortſchreiten, wel<e die Ent- 
wiälung de35 Einzelnen durchläuft: aus dem Reiche der Not- 
wendigkeit dur<ß Arbeit und Willensregelung ins Reich der 
Vernunſt, der Freiheit. 
Hiermit beſchließt der eigentlich theoretiſ<e Teil des 
Buche3. Die beiden übrigen Bücher, von denen das erſtere 
die Hauptbegriſfe der Ethik und Sozialphiloſophie giebt, das 
zweite eigentlich pädagogiſ<e von der Organiſation und Me- 
thode der Willenzerziehung handelt, i< jage: dieſe beiden 
Bücher wollen wir mit feuchtem Finger bejpreen. Das 
zweite Buch giebt ein Syſtem der Tugenden, d. bh. die Be- 
thätigung8formen des einzelnen kraft der Notwendigkeit des 
Gemein] <<aft3leben3; die Tugenden gliedern ſn< nach den 
uns bekannten Grundformen de38 Willensleben3. Die Tugend 
des Vernunſtwillen3s iſi die Tugend der Wahrheit, die 
höchſte und alle3 beherrſ<ende. Die Tapferkeit oder 
ſittliche Stärke iſ; die Tugend des Willens im engeren Sinne ; 
Reinheit oder Maß iſt die eigentümliche Tugend des 
unmittelbaren Trieblebens. 
Dazu kommt no<h, als individuelle Grundlage der 1ozi- 
alen Tugend: die Tugend der Gerechtigkeit. 
Wir mühen es uns verjagen, die näheren Formulierungen 
und die Charakteriſierung der Tugenden anzudeuten ; in ihnen 
fommt die volle ſittliche Kraft der Perſönlichkeit Natorp3 
zum ſc<önſten Au3Zdru&; allein ſchon dieſer Abſchnitt de3 
Buches wäre würdig, an dieſer Stelle durc< eingebendes 
Referat zur verdienten großen Wirkung zu gelangen. 
Wie Natorp das Syſiem der Tugenden ableitet aus 
den Grundſormen der Aktivität, 10 geſchieht es auch mit der 
geſamten Materie des ſozialen Lebens. Auch hier giebt es 
drei planvoll ineinander greifende Funktionen, die in beſtän- 
diger Selbſterneuerung das ſoziale Leben im ganzen erhalten. 
Dem Triebleben entſpricht die Okonomie, die bloß wirti<aft- 
lihen Berufe ; dem Willen: die regierenden Thätigkeiten; dem 
Vernunftwillen die bildenden Berufe. Wie aber alle Stufen 
der Aktivität im Bewußttein des8ſelben Menſchen zur Erſc<ei- 
nung kommen, ſo dürfen au< dieſe verſchiedenen Berufe
	        
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