Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

 
Eine Wochenſchrift für die Angelegenheiten des Unterrichts, 
der Erziehung und des Tehrerſtandes. 
Herausgegeben 
von Lehrern und Lehrerinnen. 
Rommiſſionär HS. Reßler, Leipzig, Seeburgſtr. 40. 
Schriftleitung: 
U. Struve, Hamburg-Eilbe>, 
Jungmannſtr. 21, p. 
Verlag: 
Shröder & Jeve, Hamburg, 
Kl. Reichenſftr. 9-11. Fſpr. 2080. 
 
Die Hamburgiſche Schulzeitung erſcheint jeden Mittwoch in einem Bogen Großquartformat zum Preiſe von | Mark 50 Pfg. für das Vierteljahr. 
Beilage: Die monatlich erſcheinende Jugendſchriften-Warte, Schriftleiter H. Wolgaſt. -- Beſtellungen nehmen außer den Verlegern, alle 
Buchhandlungen, Zeitungsgeſchäfte und Poſtämter an. -- Beiträge ſind an die Schriftleitung, Bücher zur Beſprechung an Herrn Hauptlehrer Martens, 
Samburg-St. Georg, Baunmeiſterſtr. 8, zu ſenden. Unzeigen werden für die Petitzeile von 63 mm Breite mit 20 Pfg., Beilagen nach Übereinkunft 
berechnet. -- Poſt- Liſte Nr. 3188. -- Klagen über unpünktliche Zuſtellung find gefl. ſofort dem Verlage mitzuteilen. 
 
 
8. Jahrgang. 
Stittwo, den 6. Juni 1900. 
Fr. 23. 
 
 
Inhalt: Neue Beiträge zur deutichen Wortforſbung. Eine Buc- 
beſprehung von P. H. = Eine Kinderheilſtätte an der Nordſee. Von 
Hedwig Schmidt. -- Beſtrebungen zur Hebung des Kleingewerbes 
in Oſterreich. Von K. -- Au3 Hamburg. -=-- Vom Landgebiet. =- 
Pädadogiſche Rundſchau. = Vom Büchermarkt. =- Vereins8-Anzeiger. 
-- Briefkaſten. 
 
Jceue Beiträge 
zur deutſchen Wortforſchung. 
Eine Buchbeſprechung. 
E38 iſt wiederholt und von verſchiedenen Seiten darauf 
hingewieſen, daß bei der deutichen Wortforſ<hung bi8her das 
deutIc<e Wort nicht gebührend berücſfichtigt werde. Dieſe 
Klage iſt leider nur zu berechtigt. Die bedauerliche That- 
jac<ße geht aus verſchiedenen Urſachen hervor *. 
Zunächſt iſt es der verſ<iedene Umfang des 
Wortſchaßes d2r in Betracht kommenden Sprachen. Da 
thunlichjt die Spracgeſtalten gleicher Zeitalter miteinander 
verglichen werden müſſen, iſt in der Stammkunde deutſcher 
Wörter neben dem Griechiſchen und Lateiniſchen des Gothiſche, 
Althoc<deutſ<e und Altſächſiſche zu berücfichtigen. Und wie- 
viel reicher it das uns erhaltene Schrifttum erſterer beiden 
Sprachen, als dasjenige der letztgenannten! Der Wortſchaß 
des Altlateiniſc<hen beträgt nam Dr. George3 Wörterbuche 
22 165 Wörter, der des Altgrieht<hen nach dem Wörter- 
buche von Bensler-Autenrieth 29 077 Wörter. Dagegen ſind 
uns in der Bibelüberjezung Wulfilas nur etwa 3500 gothiſche 
Wörter, im Evangeliumbuche de3 Heliand 3200 aitjäch'nt<e 
Wörter erhalten. Hieraus allein |c<on ergiebt jich ohne 
weiteres eine unvergleichliche Überlegenheit der lateiniſchen 
und grießiſ<en Sprache behufs Ableitung neubhochdeutſcher 
Wörter aus älteren Formen. 
Daß uns nur 1o ſpärliche Reſte des Schrifttums der 
altgermaniſchen Mundarten erhalten geblieben jind, findet 
jeine Erklärung 1. in dem rauheren, feuchteren Klima 
Mittel- und Nord-Europa3, wo Inſchriften auſ Stein, Holz 
und Tierhaut weit |<nellerer Zerſtörung ausgeſezt waren 
als im warmen trodäneren Süden; 2. in den großen Bölker- 
wanderungen und oft Jahrzehnte daueruden verheerenden 
Kriegen in Mittel-Europa; 3. in dem Beſtreben <riſtlicher 
Prieſter und mancher weltlicher Herrſcher, alle aus der 
Zeit des Heidentum3 ſtammenden Schriften und 
Denkmale möglichſt zu vernichten. 
Die gelehrte Wortforſchung bat dieſen Umſtänden bisher 
nicht Rechnung getragen und ungerechtfertigterweije den 10- 
genannten altklaſſiſchen Sprachen ohne weiteres den Vorzug 
vor den altgermaniſchen Mundarten eingeräumt. Die ganze 
1 Die folgenden Gedanken ſind der erſten Abhandlung des unten 
genannten Werkes entnommen. 
 
 
Ausbildungs3weiſe des deutſ<en Gelehrten begüntjtigt, 
ja erzeugt geradezu dieſe Bevorzugung der griechiſ<en und 
lateiniſchen Sprache -- und hierin liegt eine zweite Ur- 
ſache der genannten Zurücjezung des Germaniſchen in der 
deutſchen Wortforſ<hung. Noch ehe der kleine Lateinchüler 
ſeine Mutterſpra<ße au< nur einigermaßen kennt, muß er 
ſich in die alten Sprachen hineinarbeiten ; das Erlernen der- 
felben nimmt durch viele Jahre hindurch täglich einen be- 
trächtlichen Teil ſeiner Zeit und Kraft in Anjprucß. Seine 
Lehrer legen ſeinen Fortſchritten in diejen Sprachen mehr 
Gewicht bei als denjenigen im Deutſ<en; ja, er muß es 
hören, daß dieſe alten Sprachen klaſſiſch, muſterhaft, vor- 
bildlich ſeien, während das Deutſche „nur“ eine neuere, micht- 
Hatje Sprache fei. So wächſt er unfehlbar hinein in 
die bekanntlich in weiten Gelehrtenkreiſen herrichende Über- 
ichäzung der alten Sprachen, die in der Regel mit ganz 
ungerechtfertigter Geringachtung der deutic<en Sprache ver- 
bunden iſt. Da auf unſeren höheren Schulen die geſchicht: 
liche Entwi>lung unterer Mutteriprache nur im Vorbeigehen 
geſtreift wird und Alt- und Mittelhoc<hdeutich nicht Unterricht3- 
gegenſtand ſind, fo werden unfere Akademiker, die verhältmis5- 
mäßig geringe Zahl der Germaniſten und ihre Schüler aus- 
genommen, den gelehrten Aberglauben an die Minderwertigkeit 
der deutſchen Sprache gegenüber den altklaſiij<hen Sprachen 
zeitlebens nicht lo8. Und jeldſt die lateinjHuliich vor- 
gebildeten Germaniſten neigen dazu, bei Vergleichung von 
Wörtern, die im Deutſ<en, wie im Griehiſchen und Latei- 
ni chen in ähnlier Form vorkommen, Entlehnung der 
deutſchen Wörter aus jenen Sprachen anzunehmen, wo doch 
nichts weiter als Urverwandt'c<aft vorliegt. (In früheren 
Jahrhunderten, al8 es noc< keine vergleihende Sprach- 
for|ihung und keine Germaniſtik gab, ging man darin 1o 
weit, daß man z. B. das grunddeutſche Wort Naye als aus 
dem lateiniſc<en nasus gebildet anſah, und Sprachreiniger 
es dur< eine neugebildete langatmige Zuſammenſetzung ver- 
drängen wollten.) 
In neueſter Zeit hat der Fleiß zweier Sprachgelehrten 
ein gewaltiges Rüſtzeug zur deutſchen Wortfor|<hung ge- 
Ihaffen: es iſt das altnordiſch-(izländiſc<-)Jengliſc<e 
Wörterbuch von Clea3by und Vigſuſjon. Der Eng- 
länder Richard Clea8by war durch ſeine außerordentlichen 
Sprachkenntniſſe = er hatte auf verſchiedenen deutſchen 
Hochſchulen ſtudiert und beherrichte u. a. faſt alle deutichen 
Mundarten --- zu ſolcher Arbeit beſonders befähigt. Doch 
vor der Vollendung des Rieſenwerkes ſtarb er 1847, nach- 
dem er ſiebeneinhalb Jahre daran gearbeitet. Gudbrand 
Vigfuſſon, geborner J8länder und bedeutender Sprachfori<er, 
vollendete, unter Mitwirkung mehrerer engliſ<er Gelehrten, 
das Wörterbuch, über welch-?8 Jacob Grimm, dem Cleasby
	        
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