Eine Wochenſchrift für die Angelegenheiten des Unterrichts,
der Erziehung und des Tehrerſtandes.
Herausgegeben
von Lehrern und Lehrerinnen.
Rommiſſionär HS. Reßler, Leipzig, Seeburgſtr. 40.
Schriftleitung:
U. Struve, Hamburg-Eilbe>,
Jungmannſtr. 21, p.
Verlag:
Shröder & Jeve, Hamburg,
Kl. Reichenſftr. 9-11. Fſpr. 2080.
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Beilage: Die monatlich erſcheinende Jugendſchriften-Warte, Schriftleiter H. Wolgaſt. -- Beſtellungen nehmen außer den Verlegern, alle
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berechnet. -- Poſt- Liſte Nr. 3188. -- Klagen über unpünktliche Zuſtellung find gefl. ſofort dem Verlage mitzuteilen.
8. Jahrgang.
Stittwo, den 6. Juni 1900.
Fr. 23.
Inhalt: Neue Beiträge zur deutichen Wortforſbung. Eine Buc-
beſprehung von P. H. = Eine Kinderheilſtätte an der Nordſee. Von
Hedwig Schmidt. -- Beſtrebungen zur Hebung des Kleingewerbes
in Oſterreich. Von K. -- Au3 Hamburg. -=-- Vom Landgebiet. =-
Pädadogiſche Rundſchau. = Vom Büchermarkt. =- Vereins8-Anzeiger.
-- Briefkaſten.
Jceue Beiträge
zur deutſchen Wortforſchung.
Eine Buchbeſprechung.
E38 iſt wiederholt und von verſchiedenen Seiten darauf
hingewieſen, daß bei der deutichen Wortforſ<hung bi8her das
deutIc<e Wort nicht gebührend berücſfichtigt werde. Dieſe
Klage iſt leider nur zu berechtigt. Die bedauerliche That-
jac<ße geht aus verſchiedenen Urſachen hervor *.
Zunächſt iſt es der verſ<iedene Umfang des
Wortſchaßes d2r in Betracht kommenden Sprachen. Da
thunlichjt die Spracgeſtalten gleicher Zeitalter miteinander
verglichen werden müſſen, iſt in der Stammkunde deutſcher
Wörter neben dem Griechiſchen und Lateiniſchen des Gothiſche,
Althoc<deutſ<e und Altſächſiſche zu berücfichtigen. Und wie-
viel reicher it das uns erhaltene Schrifttum erſterer beiden
Sprachen, als dasjenige der letztgenannten! Der Wortſchaß
des Altlateiniſc<hen beträgt nam Dr. George3 Wörterbuche
22 165 Wörter, der des Altgrieht<hen nach dem Wörter-
buche von Bensler-Autenrieth 29 077 Wörter. Dagegen ſind
uns in der Bibelüberjezung Wulfilas nur etwa 3500 gothiſche
Wörter, im Evangeliumbuche de3 Heliand 3200 aitjäch'nt<e
Wörter erhalten. Hieraus allein |c<on ergiebt jich ohne
weiteres eine unvergleichliche Überlegenheit der lateiniſchen
und grießiſ<en Sprache behufs Ableitung neubhochdeutſcher
Wörter aus älteren Formen.
Daß uns nur 1o ſpärliche Reſte des Schrifttums der
altgermaniſchen Mundarten erhalten geblieben jind, findet
jeine Erklärung 1. in dem rauheren, feuchteren Klima
Mittel- und Nord-Europa3, wo Inſchriften auſ Stein, Holz
und Tierhaut weit |<nellerer Zerſtörung ausgeſezt waren
als im warmen trodäneren Süden; 2. in den großen Bölker-
wanderungen und oft Jahrzehnte daueruden verheerenden
Kriegen in Mittel-Europa; 3. in dem Beſtreben <riſtlicher
Prieſter und mancher weltlicher Herrſcher, alle aus der
Zeit des Heidentum3 ſtammenden Schriften und
Denkmale möglichſt zu vernichten.
Die gelehrte Wortforſchung bat dieſen Umſtänden bisher
nicht Rechnung getragen und ungerechtfertigterweije den 10-
genannten altklaſſiſchen Sprachen ohne weiteres den Vorzug
vor den altgermaniſchen Mundarten eingeräumt. Die ganze
1 Die folgenden Gedanken ſind der erſten Abhandlung des unten
genannten Werkes entnommen.
Ausbildungs3weiſe des deutſ<en Gelehrten begüntjtigt,
ja erzeugt geradezu dieſe Bevorzugung der griechiſ<en und
lateiniſchen Sprache -- und hierin liegt eine zweite Ur-
ſache der genannten Zurücjezung des Germaniſchen in der
deutſchen Wortforſ<hung. Noch ehe der kleine Lateinchüler
ſeine Mutterſpra<ße au< nur einigermaßen kennt, muß er
ſich in die alten Sprachen hineinarbeiten ; das Erlernen der-
felben nimmt durch viele Jahre hindurch täglich einen be-
trächtlichen Teil ſeiner Zeit und Kraft in Anjprucß. Seine
Lehrer legen ſeinen Fortſchritten in diejen Sprachen mehr
Gewicht bei als denjenigen im Deutſ<en; ja, er muß es
hören, daß dieſe alten Sprachen klaſſiſch, muſterhaft, vor-
bildlich ſeien, während das Deutſche „nur“ eine neuere, micht-
Hatje Sprache fei. So wächſt er unfehlbar hinein in
die bekanntlich in weiten Gelehrtenkreiſen herrichende Über-
ichäzung der alten Sprachen, die in der Regel mit ganz
ungerechtfertigter Geringachtung der deutic<en Sprache ver-
bunden iſt. Da auf unſeren höheren Schulen die geſchicht:
liche Entwi>lung unterer Mutteriprache nur im Vorbeigehen
geſtreift wird und Alt- und Mittelhoc<hdeutich nicht Unterricht3-
gegenſtand ſind, fo werden unfere Akademiker, die verhältmis5-
mäßig geringe Zahl der Germaniſten und ihre Schüler aus-
genommen, den gelehrten Aberglauben an die Minderwertigkeit
der deutſchen Sprache gegenüber den altklaſiij<hen Sprachen
zeitlebens nicht lo8. Und jeldſt die lateinjHuliich vor-
gebildeten Germaniſten neigen dazu, bei Vergleichung von
Wörtern, die im Deutſ<en, wie im Griehiſchen und Latei-
ni chen in ähnlier Form vorkommen, Entlehnung der
deutſchen Wörter aus jenen Sprachen anzunehmen, wo doch
nichts weiter als Urverwandt'c<aft vorliegt. (In früheren
Jahrhunderten, al8 es noc< keine vergleihende Sprach-
for|ihung und keine Germaniſtik gab, ging man darin 1o
weit, daß man z. B. das grunddeutſche Wort Naye als aus
dem lateiniſc<en nasus gebildet anſah, und Sprachreiniger
es dur< eine neugebildete langatmige Zuſammenſetzung ver-
drängen wollten.)
In neueſter Zeit hat der Fleiß zweier Sprachgelehrten
ein gewaltiges Rüſtzeug zur deutſchen Wortfor|<hung ge-
Ihaffen: es iſt das altnordiſch-(izländiſc<-)Jengliſc<e
Wörterbuch von Clea3by und Vigſuſjon. Der Eng-
länder Richard Clea8by war durch ſeine außerordentlichen
Sprachkenntniſſe = er hatte auf verſchiedenen deutſchen
Hochſchulen ſtudiert und beherrichte u. a. faſt alle deutichen
Mundarten --- zu ſolcher Arbeit beſonders befähigt. Doch
vor der Vollendung des Rieſenwerkes ſtarb er 1847, nach-
dem er ſiebeneinhalb Jahre daran gearbeitet. Gudbrand
Vigfuſſon, geborner J8länder und bedeutender Sprachfori<er,
vollendete, unter Mitwirkung mehrerer engliſ<er Gelehrten,
das Wörterbuch, über welch-?8 Jacob Grimm, dem Cleasby