Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

nicht darauf verzichten, den Willen des Kindes durch Geſet 
und Gewöhnung, wenn auch auf Koſten der Freiheit, dahin 
zu richten, wo, wie wir erwarten, ſeine Vernunft und ſein 
Wollen ſchließlich ſelbſt zielen wird. 'So iſt und bleibt für 
mich denn die Bildung des ſittlichen Charaſter38 die Haupt- 
aufgabe, derart, daß ich die äſthetiſche ihr nicht als gleich- 
wertig zur Seite zu ſiellen vermag ohne zu verkennen, daß 
dieſe jener eine thatfräftige Hilfe zu leiſten vermag, 
allerding38 nur, ſoweit die Kunſt eine ſolche Auffaſſung von 
ihrer Aufgabe hat, wie ſie Schiller, Viſcher und andere ver- 
treten. (Vergl. hierzu auch den Abſchnitt über äſthetiſche 
Erziehung in Martentens <riſtlicher Sthik). Nur jc<wer wider- 
ſtehe ich an diefer Stelle dem Wunſche, Herbarts bejondere 
Stellung in Betracht zu ziehen. Wenn er unier den Gliedern 
der Erfenntnis an dritter Stelle das äſthetiſche Intereſſe 
aufführt, fo muß dabei ſeine Auffaſſung des Begriffs Aſthetik 
heachtet werden, der, Ethik mit umfaſſend, j9 diejer über- 
geordnet wird, 10 daß für ihn „die äſthetiſche Darſtellung 
der Welt das Hauptgeſchäft der Erziehung wird“. (Vergl. 
Herbarts8 ſämtliche Werke von Karl Kehrbach, Bd. 1). 
Das hervorragendſte Mittel nun zur ſittlichen Bildung 
iſt uns der Religion3unterricht. Wohl glaube ich, daß die 
Wiſſenſchaft eine vom Chriſtentum abgelöſte (aber nicht eine 
von ihm unbeeinflußte oder unabhängige) Ethif aufzujtellen 
vermag; dieſe wird aber um ihres abſjtrakien Charakters 
willen eine praktiſche Bedeutung kaum erhalten, am aller- 
wenigſten für die Erziehung. Dazu kommt, daß nac< meiner 
Überzeugung der <riftiliche Glaube allein davor zu |chüßen 
vermag, daß jener Zwieſpalt zwiſchen Sollen und Thun, 
von dem vorhin die Rede war, weder zur Verzweiflung no< 
zur Reſignation und Gleichgiltigkeit führt. Mithin präziſiert 
ſich jezt für mich die Erziehungsaufgabe als religibs-ſttliche 
Charakterbildung. Nun jagt Wolgaſt : „Wenn die Lehrer 
die fünſtleriſche Erziehung als gleichberechtigten Faktor neben 
der inteldeftuellen und moraliſchen gelten laſſen wollen, [o 
werden ſie auch mit einem Male wiſſen, wo die dichteriſche 
Jugendſchrift, die dbiSher dem ganzen UmJang der Erziehung 
Heil bringen ſollte, ihre naturgemäße Auſgabe zu erfüllen 
hat. Solange in der Erziehung für die Schulung des Kunjti- 
aenuſjes kein Raum iſt, 10 lange man nicht weiß, daß es 
überhaupt derartize3 geben kann, daß bie Kunſt eine ſehr 
weſenhafte, wenn auc< nicht gerade handareifliche Sache iſt, 
eine Sache der gewaltigſten Schöpferkraft und Sache der 
feinſt empfindenden Geiſter, 10 lange kann die dichteriſche 
Jugendſchrift nißt anders gewertet und verwendet werden, 
al3 es geſchicht. S8 bleibt nichts übrig, ais die Tendenz 
einzuführen, die Belehrung, die Veredlung, die Religiontät, 
die Vatertandsliebe uſw.“ Von denſelben Anjchauungen wie 
Otto Ernſt ausgehend kommt er alſo dazu, Religioſität, 
Vaterlandsliebe 2c. mit dem üblen Namen Tendenz zu be- 
legen, obgleich er ſelbſt von dem Grundſaß ausgeht: „Viuß 
die Jugendſchrift immer und unter allen Umſtänden als 
Erziehungsmittel aufgefaßt werden ? Dieſe Frage iſt un- 
bedingt zu bejahen.“ I< kann mich des Eindrudes nicht 
erwebren, daß die i<arfe Ausdruc3weiſe der Jugend]<riften: 
kritifer (vergl. die Denkſchrift der Patriotiſchen Geſellſchaft) 
mehr als jener GeſichtSpunktt zu Angriffen gereizt hat, zumal 
wenn 10 (gelinde gejagt) mißverſtändliche Sätze wie der: 
„Eine in modernen Knſchauungen lebende Familie, in der 
das Wort Gott ein leerer Klang iſt, kann nicht die Vor- 
bedingungen geben, die für eine fol<e Lektüre (ein dichteriſ<- 
wertvolles Gotte3idyll von Jeremias Gotthel]) nötig jind“ 
in Beziehung geſeßt werden zu den Anſchauungen, die Otto 
Ernſt in ſeinem Vortrage „Religion oder Litteratur als 
Zentrum des Veolksi<ulunterrichts“ (Offenes Viſier) zum 
Ausdru>ä brachte. I< gebe mich wahrlich keiner Täuſchung 
bin über das Maß und den Wert der Religioſität in unterm 
Volke, diefen Begriff im weiten Sinne genommeit; meine 
Erfahrungen, Feſtſtelungen der Art, wie ſie Rade in ſeinem 
Vortrage: „Die ſittlicG-religidſe Gedankenwelt unſerer JInduſtrie- 
arbeiter“ auf dem Evangeliſch-ſozialen Kongreß gab, be- 
weiſen, daß ſelbſt in Kreiſen, die fernab von der Kir<e leden, 
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TIchwere Vorwürfe zu erheben. 
- „das Wort Gott“ kein leerer Klang iſt. Es liegt mir fern, 
behaupten zu wollen, daß Wolgaſt oder andere Kritiker der 
Vaterlandsliehe gleichgiltig. gegenüber ſtünden ; es muß aber 
- doch zugegeben werden, daß die Art der Kritik, in3beſondere 
auh der Ausdru> Tendenz, in etwas es veranlaßt hat, jo 
Die neuere Entwicklung 
hat es bis in die Reihen der wiſſenſchaftlichen Vertreter der 
Sozialdemokratie hinein (Bernſtein, Schippel 2c.) zum Bes 
wußtſein gebracht, daß die Nationalität ungleich reeller ge- 
wertet ſein will als nur als „Ausfluß gehobener Stimmung“. 
Viſcher ſagt im Anhange ſeiner Poetik über Satyre, didak- 
tiſche Poeſie, Rhetorik, „eine Miſchung des Schönen mit dem 
Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein äſthetiſch, 
doc< von allgemein menſchlicher, geſchichtlicher Bedeutung iſt“, 
dieje „gehören zu den gewaltigſten Hebeln des ethiſchen, 
volitiſchen Leben3 und die Bewegung der Geichichte wäre 
ohne ſie nicht zu denken.“ Wenn Wolgaſt behauptet : „So=- 
lange in der Erziehung für die Schulung des Kunſtgenußes 
fein Naum iſt . . . ſolange kann die dichteriſ<e Jugend- 
ſchrift nicht ander3 gewertet werden -- es bleibt nichts übrig, 
al3 die Tendenz einzuführen“, jo erſchwert er jich und allen 
Freunden der äſthetiſchen Grziehung die Situation unnötiger- 
weiſe, weil er zwei Alternativen ſtellt, die in viejer Weije 
ſich nicht bedingen. I< verweiſe wieder auf Viſcher, der 
die didaktiſche Poeſie im Anhang ſeiner Poeſie behandelt 
und hierbei beſonders die Tendenzpoeſie in Betracht zieht. 
Obgleich derſelbe ſchon die didaktiſche Poeſie nicht mehr zur 
Poeſie rechnet, zieht er eine Parallele zwiſchen Poeſie und 
Architektur und ſagt: „Wie jens mit dem ethiſchen Gebiete, 
jo iſt dieſe mit dem des zwe>dmäßigen durc< die engjtien 
Bande verflochten. So mündet die Kunſt an ihrem Antangs- 
und Endpunkte in das außer-äſthetiſche Gebiet: Dort erhebt 
jich ihre Baſis auf dent breiten Boden des praktiſchen 
Bedürfniſſe3, hier ſire&t ſich ihr Gipfel in die Luft der 
ſ<hmudloſen Wahrheit,“ und mahnt bezüglich der Tendenz- 
poeſie: „Im übrigen iſt es auch hier in der Ordnung, daß 
mait fich nicht immer auf die Höhe des ſtrengſten äſthetiſchen 
Maßſtabe3 ſtellt, ſondern zu rechter Zeit auf den praktiſch- 
ethiſ<en herüberneigt und zuſrieden iſt, wenn ein Tendenz- 
Roman, lyriſches Tendenzgedicht, namentlich aber Tendenz- 
drama einmal die trägen Gemüter mit ſtarken Hebeln faßt, 
erſchüttert, für große Jdeen der Humanität, der Nationalität, 
der Freiheit und Gerechtigkeit vegeijtert.“ 
Auch ich möchte der äſtbeiiſchen Erziehung eine größere 
Berücichtigung eingeräumt ſehen. Die Freude an der Form, 
am Schönen iſt tief in der menſ<lichen Natur begründet 
und auch der Kunſttrieb hat durchaus ein Anrecht auf Aus- 
bildung. I< habe durchaus kein Hehl daraus gemacht, daß 
ich fünſtleriſces Empfinden nicht als ein Vorrecht der pri- 
vilegierten Klaſſen anſehe, ſondern der Überzeugung vin, 
daß alle Glieder unſere3 Volke3 ein volles Anrecht auch an 
die idealen Schätze haben, die wir in der Kunſt beſiten, 
nicht aus „national-ökonomiſchen Gründen um der künſt- 
leriſc<en Produktion willen“, ſondern „aus ſozial-ethiſchen“ 
(um mich der AusSdru>ksweiſe von Otto Ernſt zu bedienen), 
die für mic< in der von Profeſſor Paulſen entwidelten 
Gedankenreihe liegen. Von dieſem Geſihbt8punkte aus muß 
und fann ich die Gründung und das Vorgehen der Lehrer- 
vereinigung für die Pflege der künſtleriſchen Bildung als 
eine überaus bedeutſame und wertvolle Ergänzung unſerer 
Erziehungsarbeit betrachten. Unendlich viel iſt in Bezug auf 
äſthetiſche Erziehung vernachläſſigt und geſündigt. Mag auch 
im einzelnen eine kritiſche Stellung geboten ſein, mag manches 
den gehegten Erwartungen nicht entiprehen, jo muß doch 
rühmend auerfannt werden, daß hier ein großer und wert«- 
voller Gedanke ſich in der wiäſſenſ<haftlihen wie praktiſchen 
Pädagogik einzugliedern verſucht. Die Schülervorſtellungen 
und -Konzerte, die Bemühungen um künſtleriſchen Wand- 
ſ<mud für Schulen, die Fruchtbarmachung unſerer Kunſt- 
ſ<häße für Schüler dur< Profeſſor Lichtwark, der wohl als 
geiſtiger Vater der ganzen Bewegung bezeichnet werden 
darf; dieſe und alle übrigen Beſtrebungen der genannten
	        
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