nicht darauf verzichten, den Willen des Kindes durch Geſet
und Gewöhnung, wenn auch auf Koſten der Freiheit, dahin
zu richten, wo, wie wir erwarten, ſeine Vernunft und ſein
Wollen ſchließlich ſelbſt zielen wird. 'So iſt und bleibt für
mich denn die Bildung des ſittlichen Charaſter38 die Haupt-
aufgabe, derart, daß ich die äſthetiſche ihr nicht als gleich-
wertig zur Seite zu ſiellen vermag ohne zu verkennen, daß
dieſe jener eine thatfräftige Hilfe zu leiſten vermag,
allerding38 nur, ſoweit die Kunſt eine ſolche Auffaſſung von
ihrer Aufgabe hat, wie ſie Schiller, Viſcher und andere ver-
treten. (Vergl. hierzu auch den Abſchnitt über äſthetiſche
Erziehung in Martentens <riſtlicher Sthik). Nur jc<wer wider-
ſtehe ich an diefer Stelle dem Wunſche, Herbarts bejondere
Stellung in Betracht zu ziehen. Wenn er unier den Gliedern
der Erfenntnis an dritter Stelle das äſthetiſche Intereſſe
aufführt, fo muß dabei ſeine Auffaſſung des Begriffs Aſthetik
heachtet werden, der, Ethik mit umfaſſend, j9 diejer über-
geordnet wird, 10 daß für ihn „die äſthetiſche Darſtellung
der Welt das Hauptgeſchäft der Erziehung wird“. (Vergl.
Herbarts8 ſämtliche Werke von Karl Kehrbach, Bd. 1).
Das hervorragendſte Mittel nun zur ſittlichen Bildung
iſt uns der Religion3unterricht. Wohl glaube ich, daß die
Wiſſenſchaft eine vom Chriſtentum abgelöſte (aber nicht eine
von ihm unbeeinflußte oder unabhängige) Ethif aufzujtellen
vermag; dieſe wird aber um ihres abſjtrakien Charakters
willen eine praktiſche Bedeutung kaum erhalten, am aller-
wenigſten für die Erziehung. Dazu kommt, daß nac< meiner
Überzeugung der <riftiliche Glaube allein davor zu |chüßen
vermag, daß jener Zwieſpalt zwiſchen Sollen und Thun,
von dem vorhin die Rede war, weder zur Verzweiflung no<
zur Reſignation und Gleichgiltigkeit führt. Mithin präziſiert
ſich jezt für mich die Erziehungsaufgabe als religibs-ſttliche
Charakterbildung. Nun jagt Wolgaſt : „Wenn die Lehrer
die fünſtleriſche Erziehung als gleichberechtigten Faktor neben
der inteldeftuellen und moraliſchen gelten laſſen wollen, [o
werden ſie auch mit einem Male wiſſen, wo die dichteriſche
Jugendſchrift, die dbiSher dem ganzen UmJang der Erziehung
Heil bringen ſollte, ihre naturgemäße Auſgabe zu erfüllen
hat. Solange in der Erziehung für die Schulung des Kunjti-
aenuſjes kein Raum iſt, 10 lange man nicht weiß, daß es
überhaupt derartize3 geben kann, daß bie Kunſt eine ſehr
weſenhafte, wenn auc< nicht gerade handareifliche Sache iſt,
eine Sache der gewaltigſten Schöpferkraft und Sache der
feinſt empfindenden Geiſter, 10 lange kann die dichteriſche
Jugendſchrift nißt anders gewertet und verwendet werden,
al3 es geſchicht. S8 bleibt nichts übrig, ais die Tendenz
einzuführen, die Belehrung, die Veredlung, die Religiontät,
die Vatertandsliebe uſw.“ Von denſelben Anjchauungen wie
Otto Ernſt ausgehend kommt er alſo dazu, Religioſität,
Vaterlandsliebe 2c. mit dem üblen Namen Tendenz zu be-
legen, obgleich er ſelbſt von dem Grundſaß ausgeht: „Viuß
die Jugendſchrift immer und unter allen Umſtänden als
Erziehungsmittel aufgefaßt werden ? Dieſe Frage iſt un-
bedingt zu bejahen.“ I< kann mich des Eindrudes nicht
erwebren, daß die i<arfe Ausdruc3weiſe der Jugend]<riften:
kritifer (vergl. die Denkſchrift der Patriotiſchen Geſellſchaft)
mehr als jener GeſichtSpunktt zu Angriffen gereizt hat, zumal
wenn 10 (gelinde gejagt) mißverſtändliche Sätze wie der:
„Eine in modernen Knſchauungen lebende Familie, in der
das Wort Gott ein leerer Klang iſt, kann nicht die Vor-
bedingungen geben, die für eine fol<e Lektüre (ein dichteriſ<-
wertvolles Gotte3idyll von Jeremias Gotthel]) nötig jind“
in Beziehung geſeßt werden zu den Anſchauungen, die Otto
Ernſt in ſeinem Vortrage „Religion oder Litteratur als
Zentrum des Veolksi<ulunterrichts“ (Offenes Viſier) zum
Ausdru>ä brachte. I< gebe mich wahrlich keiner Täuſchung
bin über das Maß und den Wert der Religioſität in unterm
Volke, diefen Begriff im weiten Sinne genommeit; meine
Erfahrungen, Feſtſtelungen der Art, wie ſie Rade in ſeinem
Vortrage: „Die ſittlicG-religidſe Gedankenwelt unſerer JInduſtrie-
arbeiter“ auf dem Evangeliſch-ſozialen Kongreß gab, be-
weiſen, daß ſelbſt in Kreiſen, die fernab von der Kir<e leden,
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TIchwere Vorwürfe zu erheben.
- „das Wort Gott“ kein leerer Klang iſt. Es liegt mir fern,
behaupten zu wollen, daß Wolgaſt oder andere Kritiker der
Vaterlandsliehe gleichgiltig. gegenüber ſtünden ; es muß aber
- doch zugegeben werden, daß die Art der Kritik, in3beſondere
auh der Ausdru> Tendenz, in etwas es veranlaßt hat, jo
Die neuere Entwicklung
hat es bis in die Reihen der wiſſenſchaftlichen Vertreter der
Sozialdemokratie hinein (Bernſtein, Schippel 2c.) zum Bes
wußtſein gebracht, daß die Nationalität ungleich reeller ge-
wertet ſein will als nur als „Ausfluß gehobener Stimmung“.
Viſcher ſagt im Anhange ſeiner Poetik über Satyre, didak-
tiſche Poeſie, Rhetorik, „eine Miſchung des Schönen mit dem
Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein äſthetiſch,
doc< von allgemein menſchlicher, geſchichtlicher Bedeutung iſt“,
dieje „gehören zu den gewaltigſten Hebeln des ethiſchen,
volitiſchen Leben3 und die Bewegung der Geichichte wäre
ohne ſie nicht zu denken.“ Wenn Wolgaſt behauptet : „So=-
lange in der Erziehung für die Schulung des Kunſtgenußes
fein Naum iſt . . . ſolange kann die dichteriſ<e Jugend-
ſchrift nicht ander3 gewertet werden -- es bleibt nichts übrig,
al3 die Tendenz einzuführen“, jo erſchwert er jich und allen
Freunden der äſthetiſchen Grziehung die Situation unnötiger-
weiſe, weil er zwei Alternativen ſtellt, die in viejer Weije
ſich nicht bedingen. I< verweiſe wieder auf Viſcher, der
die didaktiſche Poeſie im Anhang ſeiner Poeſie behandelt
und hierbei beſonders die Tendenzpoeſie in Betracht zieht.
Obgleich derſelbe ſchon die didaktiſche Poeſie nicht mehr zur
Poeſie rechnet, zieht er eine Parallele zwiſchen Poeſie und
Architektur und ſagt: „Wie jens mit dem ethiſchen Gebiete,
jo iſt dieſe mit dem des zwe>dmäßigen durc< die engjtien
Bande verflochten. So mündet die Kunſt an ihrem Antangs-
und Endpunkte in das außer-äſthetiſche Gebiet: Dort erhebt
jich ihre Baſis auf dent breiten Boden des praktiſchen
Bedürfniſſe3, hier ſire&t ſich ihr Gipfel in die Luft der
ſ<hmudloſen Wahrheit,“ und mahnt bezüglich der Tendenz-
poeſie: „Im übrigen iſt es auch hier in der Ordnung, daß
mait fich nicht immer auf die Höhe des ſtrengſten äſthetiſchen
Maßſtabe3 ſtellt, ſondern zu rechter Zeit auf den praktiſch-
ethiſ<en herüberneigt und zuſrieden iſt, wenn ein Tendenz-
Roman, lyriſches Tendenzgedicht, namentlich aber Tendenz-
drama einmal die trägen Gemüter mit ſtarken Hebeln faßt,
erſchüttert, für große Jdeen der Humanität, der Nationalität,
der Freiheit und Gerechtigkeit vegeijtert.“
Auch ich möchte der äſtbeiiſchen Erziehung eine größere
Berücichtigung eingeräumt ſehen. Die Freude an der Form,
am Schönen iſt tief in der menſ<lichen Natur begründet
und auch der Kunſttrieb hat durchaus ein Anrecht auf Aus-
bildung. I< habe durchaus kein Hehl daraus gemacht, daß
ich fünſtleriſces Empfinden nicht als ein Vorrecht der pri-
vilegierten Klaſſen anſehe, ſondern der Überzeugung vin,
daß alle Glieder unſere3 Volke3 ein volles Anrecht auch an
die idealen Schätze haben, die wir in der Kunſt beſiten,
nicht aus „national-ökonomiſchen Gründen um der künſt-
leriſc<en Produktion willen“, ſondern „aus ſozial-ethiſchen“
(um mich der AusSdru>ksweiſe von Otto Ernſt zu bedienen),
die für mic< in der von Profeſſor Paulſen entwidelten
Gedankenreihe liegen. Von dieſem Geſihbt8punkte aus muß
und fann ich die Gründung und das Vorgehen der Lehrer-
vereinigung für die Pflege der künſtleriſchen Bildung als
eine überaus bedeutſame und wertvolle Ergänzung unſerer
Erziehungsarbeit betrachten. Unendlich viel iſt in Bezug auf
äſthetiſche Erziehung vernachläſſigt und geſündigt. Mag auch
im einzelnen eine kritiſche Stellung geboten ſein, mag manches
den gehegten Erwartungen nicht entiprehen, jo muß doch
rühmend auerfannt werden, daß hier ein großer und wert«-
voller Gedanke ſich in der wiäſſenſ<haftlihen wie praktiſchen
Pädagogik einzugliedern verſucht. Die Schülervorſtellungen
und -Konzerte, die Bemühungen um künſtleriſchen Wand-
ſ<mud für Schulen, die Fruchtbarmachung unſerer Kunſt-
ſ<häße für Schüler dur< Profeſſor Lichtwark, der wohl als
geiſtiger Vater der ganzen Bewegung bezeichnet werden
darf; dieſe und alle übrigen Beſtrebungen der genannten