Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

Vereinigung ſichern ihr den Ruhm, der Frage der äſthetiſchen 
Erziehung Bahn gebrochen zu haben. Es wäre nur zu 
wünſchen, daß durch eine zuſammenfaſſende Darſtellung über 
das Geleiſtete wie über das Gewollte und Grſtrebte die Rn- 
gelegenheit dem Intereſſe der geſamten deutſchen Lehrerſchaft 
und allen anderen Schulintereſſenten nahe gebracht würde. 
Neben die genannten Beſtrebungen tritt die um die Jugend- 
ſc<rift. E38 war ſelbſtverſtändlih und unbedingt geboten, 
hier fritiſch vorzugehen. Troß des oft gebrauchten Wortes : 
Für die Jugend ift das Beſte gerade gut genug! hat ſich doch 
eine Unzahl von Leuten für befähigt gehalten, al8 „Jugend- 
ſchriftſteller“ auftreten zu können. Aber der gute Wille 
qualifiziert nicht. Dazu kommt, daß alle, die von einer be- 
jtimmten Se begeiſtert ſind, ihre Hoffnung auf die Jugend 
jezen; ſo wurde denn von Sozialdemokraten und andern die 
Jugend] 'hrift mißbraucht zur Propaganda. Die Lehrerſchaft 
mußte aljo dieſem Gebiete ihre Aufmerkſamkeit zuwenden und 
hat e8 mit Eifer und Fleiß gethan. Wolgaſt und dem 
Hamburger Prüfungs5ausſchuß gebührt das Verdienſt, für die 
Beurteilung dem äſthetiſchen Geſicht8punkt zu ſeinem Rechte 
verholfen zu haben, der bis dahin unberücſichtigt geblieben 
war. Die dichteriſche Jugend] <rift joll und muß als Kunſt: 
werk gewertet werden. Iſt es deswegen nötig, die „ſpezifiſche 
Jugendſchrift“ zu verwerfen und die Tendenz mit dem Berdikt 
zu belegen ? von Boritel gab jelbſt zu, daß die Frage, 90 
die Tendenz mit dem Weſen des Kunſtwerks vereinbar ſei, 
ſtrittig iſt. „Die Tendenz wird erſt der Kunſt gefährlich, 
wenn der Künſtler fich aus]<ließlich in den Dienſt jener 
idealen Mächte (Moral, Religion, PatriotiSmus8) oder gar 
no< weit niedriger ſtellt oder auch wohl auf Grund recht 
vorteilhafter Bedingungen unterordnet.“ Wie leicht auch tas 
Kunſtwerk zum Tendenzwerk? geſtempelt werden fann, ewe 
die Charakteriſierung des Erkmann-Chatrian]chen Buches iü 
dem Vorwort des Überſeters, was übrigens auch durch vas 
Vorwort mit Liliencron8 Krieg3novellen zeſchieht. Denn 
wenn dasjelbe zur Erklärung, daß das Verzeichnis nicht viel 
Kriegserzählungen enthält, jagt: „Die meiſten ſchildern den 
Krieg nur mit halber Wahrhaftigkeit Sie ſchildern nur die 
Freude der Sieger und nicht die Leiden der Gefallenen, nur 
die erfreulichen und nicht die bedauer lichen Folgen der Kriege“ 
und dann fortfährt: „Iſt der Kriegsſchilderer nur der 
Mahnung und nicht auch der Warnung (Schillers im Tel) 
eingedent, jo lügt und fälſcht er; denn die Aufgabe der 
Kunſt iſt nicht da38 Verſchweigen und Vervüllen, jondern 
das Darſtellen, das Ausmalen“, 1o kann man aus dieſer 
Steigerung auch den Kriegsnovellen eine Tendenz unter- 
Ichieben. 
Daß die Tendenz mit dem Kunſtwerk vereinbar jei, 
haben wir bei Viſcher veſtätigt geſunden. Dazu kommt noch 
ein5. Gewiß iſt es wahr, „daß irgendweiche eindringliche 
Wirkung auf die Menichennatur nur dur< das Medium der 
Perſönlichkeit geſchehen kann.“ Das gilt von der Perſönlichkeit, 
die uns des Dichters Genius vor die Seele „aubert, aber 
auc<ß von dem hinter und in dem Werke ſich offenbarenden 
Künſtler. Wohl jagt Schiller: „Der große Künſtler zeigt uns 
den Gegenſtand (ſeine Darſtellung hat reine Objektivität) ; der 
mittelmäßige zeigt ſich jelbjt (feine Darſtellung hat Sud- 
jektivität) ; der ſchlechte ſeinen Stoff (die Darſtellung wird 
durch die Natur des Mittel38 und durch die Schranken des 
Küntjtler3 beſtimmt)“ ; wir werden aber vom Werke immer 
zu dem Künſtler gezogen werden und jedes jeiner Werke 
wird uns zu einer Äußerung einer Individualität. Wenn 
Un jene idealen Mächte in einer Perſönlichkeit lebendig 
wirkſam jind, joll ſie darum är die Kunſt verloren ein? 
von Borjtel fragt, um die 2 Wirkung der Tendenzpoeſie zu 
Harakteriſieren : „Wo iſt dige Wirkung der YMoralpoeten 
des 18. Jahrhunderts, wo die umerer hertfönmlichen 
Gejangbuchverſe mit ihrem vernüzierten Dogma oder der 
Preußenverhimmler derer um Nikolai?“ An anderer 
Stelle wird den „herkömmlichen GejangbuchSreimichmieden“ 
gegenüber „die werbende Kraft eines Lutheriſchen Liedes“ 
anerkannt und dadurch in etwas der Eindruck verwiſcht. als 
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ſei ihm die geſamte geiſtliche Liederdichtung nur „verſifiziertes 
Dogma“. Allerding38 enthält unjer Geſangbuch manches 
wertloje, und noc< mehr, manche38 verdorbene Lied ; darüber 
herrijcht in kirchlichen Kreijen nur eine Meinung, wie die 
bezüglichen Aufſäße von D. Grimm, Senior D. Behrmann 
in der kirchlichen Zeitſchrift beweiſen; dabei darf doch nicht 
vergeſſen werden, daß auch im geiſtlichen Liede ſich der 
Charakter der Zeit geltend macht, daß es wie alle Einzel- 
ericheinungen nur in einer hiſtoriſchen Bedingtheit gerecht 
beurteilt werden kann. Andererfeit3 hängt die Wirkung 
gerade beim geiſilichen Liede nicht bloß von dem Dichter ab, 
jondern auch von der Stimmung, in der es aufgenommen 
wird und von der Intenſität der Vorſtellungen, die ihm 
entgegenfommen. Und daß troß „Preußenverhimmlung“ 
poetiſche Wirkung möglich iſt, ſc<einen mir unſere Freiheits- 
Dichter, mehr noch Geibel u. a. zu veweijen. I< kann des- 
wegen nicht zugeben, daß da38 Weſen de8 Kunſtwerkes die 
Zurückdrängung jeder Tendenz fordert und kann dem Scleik- 
jerichen Worte gegenüber ein anderes anführen. In einem 
Aufſaße über die Aufgaben der äſthetiſchen Tageskritik in 
der „Zeit“ Jagt derſelbe: „Wie hat ſich der Rezenjent zu den 
verſchiedenen religiöſen und politiſchen Parteijtrömungen zu 
ſtellen? Er hat jich meines Erachtens gar nicht zu jtellen. 
Er wäre ein GEE wenn er ſich um eine mißliebige 
Tendenz herumdrücte; er wäre aber noch etwas viel 
Schlimmeres al8 ein "Feigling, nämlich ein intoleranter 
Menſc<, wenn er ein Drama um ſeiner mißliebigen Tendenz 
willen verwerfen wollte. Er hat es mit dem künſtlerij<en 
Gebilde und mit nichts anderem zu thun.“ 
Iſt denn die Tendenz mit dem Weſen des Kunſtwerkes 
vereinbar, dann zwingt uns fein aus der Atthetik her- 
genommener Grund, die o9en von mir aus pädagogiſchen 
Gründen geforderte Poſition auſzugeben, aljo auch die äſthe- 
iſche Erziehung in das Ganze des Erziehungs/y jtems ein- 
zugiledern, nicht al5 gleichwertig der intellektuellen und fitt- 
lichen Erziehung, aber auch nicht jo unterwertig, daß die 
biSherige Mißachtung gerechtfertigt eriheint. Damit will 
ich in Bezug auf die Jugendſchrift nicht den Zuſtand recht: 
fertigen, daß der Schulmeiſter ſich als Künſtler gab, indem 
er feine Belehrung zur Abwechsl ung mal in ein fünſtleri] Hes 
Gewand einzubüllen verſuchte. Der Künſtler ſchafft nicht, 
um zu belehren; die in ihm lebenden Geſtalten wollen frei 
geboren fein. (Vergl. Viſcher: Das Schöne und die Kuni 
S 3). Darum gilt für den Künſtler das Wort: Wer für 
die Jugend ſchreibt, darf nicht für die Jugend ſchreiben ' 
Für den Lehrer aber gilt es zu prüfen, ob die Jugend]c<rift 
vei künftleriſ<er Qualität auch den Anforderungen genügt, 
die er um ſeiner Aufgabe willen ſtellen muß. So wenig 
der Lehrer de n Künſtler zu erjfeten vermag, 10 
wenig der Künſtler den Lehrer. Von hier aus ge- 
jehen, giebt es eine „ſpezifiſche Jugendſchrift“ ; von hier aus 
it es gleiherweite übertrieben, wenn von Berttel Jagt: 
„Man kann nicht Schulmei?ter fein und ein bißchen Künttler 
davei jein wollen, wenigſtens wird der letztere dabei erdrüct, 
wenn er überhaupt jemals lebte“, oder wenn Prok. Sittard 
Ul einer Veſpreehbung des Lorenzjchen Buches die als „littera- 
riſche Hatelſtauden“ abthut, „die die alte Leier immer wieder 
nachbeten, daß die Kunſt nur dazu da ſei, um ſich zu exr- 
heben und zu erbauen.“ BPBPolemiſch ſind jol<e Wendungen 
wie „Scellenbaum, litterariſche Hafelſtaude“ 2c. reHt wirkſam, 
und Hr. Prof. Sittard hat ſicher die Lacher auf ſeiner Seite 
gehadt ; das darf uns aber über die Thatjache nicht hinweg- 
täuſchen, daß er ſich hier zu einer Autorität über eine 
vädagogyſc<e Frage aufwirſt, und dagegen wird jeder Lehrer 
Proteſt erheben. Für die Mitglieder der Jugend] <riften- 
fommiſſionen ergiebt ſich alſo die doppelte Aufgabe : einmal 
ſich ein wohlbegründetes äſthetit<es Urteil anzueignen, dann 
aber die äſthetiſche Beurteilung ins rec<hte Einvernehmen zu 
jeden mit der pädagogiſchen, wie dies aum der neue Statuten- 
entwurf der Geſellichaft thut. Dann iſt e8 aber au< un- 
möglich, den Kunſtgenuß als „die edelſte Lebensfreude“ hin- 
zuſteJon: für Lehrer iſt diefer Superlativ eine unhaltbare,
	        
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