Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

genug thut. Indem ſich bei ihm Nachdenken und pädago- 
giſche Praxi8 wechſelweiſe ergänzten, fah er immer klarer 
Ziel und Weg der Erziehung. Er erkannte, daß aller Unter- 
richt von der Anſchauung ausgehen, zu klaren Begriffen fort: 
ſchreiten und den Willen durch Beiſpiel und ſtete Übung 
zur ſittlichen Feſtigkeit hinführen müſſe. Durch eine den 
natürlichen Entwiclungsgeſezen des menſchlichen Körpers 
und Geiſtes entſprechende erziehliche Einwirkung von Eltern- 
haus, Schule und Leben müſſe der Menſc<h emporgeführt 
werden bis zu jener Stufe der Selbſtändigkeit, wo er die 
Vollendung ſeiner Perſönlichkeit in die eigne Hand nehmen 
könne. Dieſe eigne Vervollkommnung hält Peſtalozzi nur 
für möglich durch die Mitarbeit an der Vervollkommnung 
der Geſellſchaft. Individuale und ſoziale Erziehung3aufgabe 
greifen bei ihm organiſch ineinander, ſich wechſelſeitig hebend 
und belebend. Einen klaſſiſchen AusdruF giebt Peſtalozzi 
dieſem Gedanken in dem Worte: 
„Der Menſch iſt nicht um jeiner ſelbſt willen in der 
Welt, ſondern daß er ſich ſelbſt nur durch die Vollendung 
jeiner Brüder vollende.“ 
Die erſte franzöſiſche Revolution hatte dem Menſc<en die 
politiſchen Rechte und die individuelle Freiheit gebracht, aber 
das höchſte Recht, das ihn erſt zur vollen Menſchenwürde 
emporheben konnte, das Recht auf Erziehung, das heißt auf 
Entfaltung jeiner natürlichen Anlagen, nicht gegeben. Peſta- 
l[ozzi verfündete dieſe3 Recht und legte e8 dem Staate als 
oberſte Pfliht auf. So erhebt er den Rechtsſtaat zum Er- 
ziehungsſtaat. In dieſem jollen alle Einrichtungen und Zu- 
ſtände ſo geſtaltet werden, daß fie den Menſchen leicht und 
ſicher zur innern Freiheit hinführen, jener Stufe, wo er fein 
eigner Geſeßgeber wird. Als erſte ſoziale Pflicht lehrt er 
durc<<h Wort und Beiſpiel den Saß : 
„cht mir, ſondern den Brüdern; nicht der eigenen 
Ichheit, ſondern dem Geſchlechte.“ 
So ſind in Peſtalozzis Werken Gedanken enthalten, die 
das Erziehung3problem in ſeinem ganzen Umfange und 
ſeiner ganzen Tiefe erfaſſen und bleibende Geltung haben. 
Zwar hatte Peſtalozzi weder Neigung no< Gej<hi>, ſeine 
Ideen in eine organiſ<he Einheit, ein Syſtem zu faſſen ; zwar 
mangelte ihm die Gabe einer anſchaulichen künſtleriſchen 
Darſtellung, wie ſie Rouſſeau in ſo hohem Grade eignete; 
zwar fehlte e8 ihm zur Umſetzung ſeiner Theorien in die 
Praxis an Lehrgeſchi& und an organiſatorichem Talent, aber 
was wollen dieſe kleinen Nebelfle>en bedeuten gegenüber der 
Fülle, der Wärme und der Fruchtbarkeit der Jdeen, die 
jeinem Geiſte entſtrahlten! Peſtalozzi hat ſelbſt ſchwer unter 
jeinen Keinen Menſ<lichkeiten gelitten ; ſe find die Quelle 
des tiefen Weh3, das oft durch feine Seele zog. Unverſtand 
und Bös3willigkeit haben darin jogar einen ſittlichen Deſekt 
erblifen wollen. Man jah nicht oder wollte nicht ſehen, 
daß das Genie den Gegenſatß zwiſchen Jdeal und Wirklichkeit 
ſtärker empfinden muß al38 andere Sterblihe. Gewiß wird 
es in Stunden, wo erhabene Jdeen aus der Tieſe des Herzens 
quellen, die reinſten Freuden genießen, aber dann, wenn ſich 
an die Zdeale die Bleigewichte des realen Leben8 hängen, 
von der Menſchheit ganzem Jammer erfaßt werden. Als 
der S0jährige Greis die wohlorganiſierte Anſtalt Zeller3s in 
Beuggen beſichtigte, da rief er au8: „Das iſt'8, was ich 
juchte!“ Und als ihm die Schüler ſein Lieblingslied ſangen: 
„Der du von dem Himmtel biſt, 
. Alles Leid und Schmerzen ſtilleſt, 
Den, der doppelt elend iſi, 
Doppelt mit Erquiäung fülleſt: 
A<b, ic; bin des Treiben3 müde, 
Was ſoll all der Schmerz und Luſt? 
Süßer Friede, komm, ac<h komm in meine Bruſt!“ 
da drängte jich no< einmal aller Schmerz und alle Luſt 
jeines Erdenwallens in eins zuſammen, und Thränen ents= 
ſtrömten den Augen des großen Menſc<enfreundes und 
Volkslehrers. Peſtalozzi hat ſelbſt einmal geſagt: „Es giebt 
Genies des Herzens, des Geiſtes und der Kunſt.“ Soll ich 
jeine Bedeutung in ein Wort zuſammenfaſſen, ſo lautet es: 
 
Peſtalozzi war ein Genie des Herzens. Darin 
liegt auch das Geheinmis der wunderbaren Wirkung, die 
ſeine äußerlich ſo unanſehnliche, ja unordentliche Perſönlichkeit 
auf alle ausübte, die je zu den Füßen des Meiſters ſaßen. 
Und dieſe ſeine Jünger trugen die Begeiſterung für die 
Erziehungsſache mit in ihre Heimatländer und ſtreuten einen 
Samen aus, deſſen Triebkraft nimmermehr erliſcht. 
Der empfänglichſte Boden für die Gedanken Peſtalozzis 
fand ſich in Deutſchland, beſonder3 in Preußen. Als dort 
der abſolutiſtij<e Staat unter den Hammerſchlägen des 
Korſen jäh zuſammenbrach, da ſah man ſelbſt in den rüc- 
ſtändigſten Kreiſen ein, daß hier nur durch außergewöhnliche 
Mittel geholfen werden könne. Der große Staat3mann Stein 
erfannte, daß eine Wiedergeburt Preußens nur durch die 
Entfeſſelung aller Volkskräſte möglich fei. Er rief das 
preußiſche Volk aus dem Eigendienſt in Feld, Werkſtatt und 
Geſchäft zum Dienſt für das Gemeinwohl und das Vater=- 
land und erhob es ſo durch Selbſtthätigkeit zur Selbſt: 
ſtändigkeit und zum Bewußtſein der eignen Kraft. Fichte, 
Schleiermacher, Jahn verlangten eine Nationalerziehung. 
Zum erſtenmal durchdrang der Erziehung8gedanke das ganze 
Staatsleben. Wie weit die leitenden Staat3männer in die 
Ideen Peſtalozzis eingetaucht waren, dafür nur zwei Belege. 
Stein jagt von Peſtalozzis Methode, daß ſie 
„die Selbſtthätigkeit des Geiſte3 erhöhe, deu religiöſen 
Sinn und alle edlern Gefühle de8 Menſchen errege, das 
Leben in der Jdee befördere und den Hang zum Leben 
im Genuß mindere und ihm entgegenwirke.“ 
Staatsrat Süvern ſchreibt: 
„Alle3 wird der Staat in und mit ſeinen Bürgern 
erreichen können, wenn er forgt, daß ſie alle in einem 
Geiſte von Jugend auf für die großen Zwede, deren 
Gegenſtand ja ihre eigne Gejamtheit iſt, gebildet, dadurch 
zugleich ſchon früh innerlich konſolidiert werden. Nicht 
die Kräfte der Natur ſind es, worauf der preußiſche Staat 
gegründet iſt, jondern die lebendigen, unendlicher Erhöhung 
und Entwieklung fähigen Kräfte der Menſchenwelt.“ 
Das ſind Peſtalozziſche Gedanken in Peſtalozziſcher 
Sprache. Selbſt al8 das Metternichſc<he Polizeiregiment 
alles politiſche Leben ertötete, wirkte im Schulweſen 
dieſer Leben erwe&ende Geiſt weiter. Erſt im Jahre 1840, 
wo die Romantik auf den Thron und die Reattion ins 
Land fam, mußte der unerſchütterliche Freund der Volks3- 
bildung Altenſtein dem geiſtloſen, gefügigen Eichhorn 
weichen. Auf politiſchem Gebiete zeigte die Reaktion, die 
nach Prof. Ziegler immer geiſtlos iſi, ihre ganze Beſchränktheit 
dadurc<, daß ſie der Einführung der Verfaſſung in Preußen 
und Öſterreich ſelbſt jeht noch widerſtrebte, wo ſie ſich 
bereit8 in verſchiedenen Mittel- und Kleinſtaaten als die 
höhere Staatsform erwieſen hatte. Leider trat auch in den 
beiden deutſchen Großſtaaten der konſtitutionelle Staat nicht 
auf dem Wege der Reform, ſondern der Revolution ins 
Leben und riß dadurch zwiſchen Regierung und Volk eine 
tiefe Kluft auf. Dieſe wurde noch dadurch erweitert, daß 
die ſiegreiche Reaktion den alten abjolutiſtiſchen Geiſt in 
die jungen Verfaſſungsſtaaten zurüfbrachte. Doh begann 
die reaktionäre Hochflut ſich endlich zu verlaufen, und nun 
hub auf dem neuen Grunde ein ſröhlihes Grünen und 
Sprießen an. 
Mit der Verwirklichung des Verſaſſung3rechts trat auch 
die Volk3ſ<ule in eine neue Epoche der Entwicklung, ja 
ſie wurde eigentlich erſt mit dem Verfaſſung3ſtaat ſicher 
begründet. Das Korrelativ zu dem Rechte der Mitwirkung 
an der Geſtaltung des Staat3wejen3 war die Pflicht des 
Staates auf Bildung feiner Bürger. Vor allen Dingen 
mußte die Lehre vom AbſolutiSmus, „vom beſchränkten 
Unterthanenverſtand“ entkräftet werden. Der deutſche Kon- 
ſtitutionaliSmus dachte ſozialer als der von Frankreich, 
England, Holland und andern Staaten, der in ſeinem 
doktrinären JIndividualiSzmu8 au< das Recht, dumm zu 
bleiben, als unveräußerlides Men] c<henrecht anjah. Als aber 
die Franzoſen die militäriſche Überlegenheit Deutſchlands
	        
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