genug thut. Indem ſich bei ihm Nachdenken und pädago-
giſche Praxi8 wechſelweiſe ergänzten, fah er immer klarer
Ziel und Weg der Erziehung. Er erkannte, daß aller Unter-
richt von der Anſchauung ausgehen, zu klaren Begriffen fort:
ſchreiten und den Willen durch Beiſpiel und ſtete Übung
zur ſittlichen Feſtigkeit hinführen müſſe. Durch eine den
natürlichen Entwiclungsgeſezen des menſchlichen Körpers
und Geiſtes entſprechende erziehliche Einwirkung von Eltern-
haus, Schule und Leben müſſe der Menſc<h emporgeführt
werden bis zu jener Stufe der Selbſtändigkeit, wo er die
Vollendung ſeiner Perſönlichkeit in die eigne Hand nehmen
könne. Dieſe eigne Vervollkommnung hält Peſtalozzi nur
für möglich durch die Mitarbeit an der Vervollkommnung
der Geſellſchaft. Individuale und ſoziale Erziehung3aufgabe
greifen bei ihm organiſch ineinander, ſich wechſelſeitig hebend
und belebend. Einen klaſſiſchen AusdruF giebt Peſtalozzi
dieſem Gedanken in dem Worte:
„Der Menſch iſt nicht um jeiner ſelbſt willen in der
Welt, ſondern daß er ſich ſelbſt nur durch die Vollendung
jeiner Brüder vollende.“
Die erſte franzöſiſche Revolution hatte dem Menſc<en die
politiſchen Rechte und die individuelle Freiheit gebracht, aber
das höchſte Recht, das ihn erſt zur vollen Menſchenwürde
emporheben konnte, das Recht auf Erziehung, das heißt auf
Entfaltung jeiner natürlichen Anlagen, nicht gegeben. Peſta-
l[ozzi verfündete dieſe3 Recht und legte e8 dem Staate als
oberſte Pfliht auf. So erhebt er den Rechtsſtaat zum Er-
ziehungsſtaat. In dieſem jollen alle Einrichtungen und Zu-
ſtände ſo geſtaltet werden, daß fie den Menſchen leicht und
ſicher zur innern Freiheit hinführen, jener Stufe, wo er fein
eigner Geſeßgeber wird. Als erſte ſoziale Pflicht lehrt er
durc<<h Wort und Beiſpiel den Saß :
„cht mir, ſondern den Brüdern; nicht der eigenen
Ichheit, ſondern dem Geſchlechte.“
So ſind in Peſtalozzis Werken Gedanken enthalten, die
das Erziehung3problem in ſeinem ganzen Umfange und
ſeiner ganzen Tiefe erfaſſen und bleibende Geltung haben.
Zwar hatte Peſtalozzi weder Neigung no< Gej<hi>, ſeine
Ideen in eine organiſ<he Einheit, ein Syſtem zu faſſen ; zwar
mangelte ihm die Gabe einer anſchaulichen künſtleriſchen
Darſtellung, wie ſie Rouſſeau in ſo hohem Grade eignete;
zwar fehlte e8 ihm zur Umſetzung ſeiner Theorien in die
Praxis an Lehrgeſchi& und an organiſatorichem Talent, aber
was wollen dieſe kleinen Nebelfle>en bedeuten gegenüber der
Fülle, der Wärme und der Fruchtbarkeit der Jdeen, die
jeinem Geiſte entſtrahlten! Peſtalozzi hat ſelbſt ſchwer unter
jeinen Keinen Menſ<lichkeiten gelitten ; ſe find die Quelle
des tiefen Weh3, das oft durch feine Seele zog. Unverſtand
und Bös3willigkeit haben darin jogar einen ſittlichen Deſekt
erblifen wollen. Man jah nicht oder wollte nicht ſehen,
daß das Genie den Gegenſatß zwiſchen Jdeal und Wirklichkeit
ſtärker empfinden muß al38 andere Sterblihe. Gewiß wird
es in Stunden, wo erhabene Jdeen aus der Tieſe des Herzens
quellen, die reinſten Freuden genießen, aber dann, wenn ſich
an die Zdeale die Bleigewichte des realen Leben8 hängen,
von der Menſchheit ganzem Jammer erfaßt werden. Als
der S0jährige Greis die wohlorganiſierte Anſtalt Zeller3s in
Beuggen beſichtigte, da rief er au8: „Das iſt'8, was ich
juchte!“ Und als ihm die Schüler ſein Lieblingslied ſangen:
„Der du von dem Himmtel biſt,
. Alles Leid und Schmerzen ſtilleſt,
Den, der doppelt elend iſi,
Doppelt mit Erquiäung fülleſt:
A<b, ic; bin des Treiben3 müde,
Was ſoll all der Schmerz und Luſt?
Süßer Friede, komm, ac<h komm in meine Bruſt!“
da drängte jich no< einmal aller Schmerz und alle Luſt
jeines Erdenwallens in eins zuſammen, und Thränen ents=
ſtrömten den Augen des großen Menſc<enfreundes und
Volkslehrers. Peſtalozzi hat ſelbſt einmal geſagt: „Es giebt
Genies des Herzens, des Geiſtes und der Kunſt.“ Soll ich
jeine Bedeutung in ein Wort zuſammenfaſſen, ſo lautet es:
Peſtalozzi war ein Genie des Herzens. Darin
liegt auch das Geheinmis der wunderbaren Wirkung, die
ſeine äußerlich ſo unanſehnliche, ja unordentliche Perſönlichkeit
auf alle ausübte, die je zu den Füßen des Meiſters ſaßen.
Und dieſe ſeine Jünger trugen die Begeiſterung für die
Erziehungsſache mit in ihre Heimatländer und ſtreuten einen
Samen aus, deſſen Triebkraft nimmermehr erliſcht.
Der empfänglichſte Boden für die Gedanken Peſtalozzis
fand ſich in Deutſchland, beſonder3 in Preußen. Als dort
der abſolutiſtij<e Staat unter den Hammerſchlägen des
Korſen jäh zuſammenbrach, da ſah man ſelbſt in den rüc-
ſtändigſten Kreiſen ein, daß hier nur durch außergewöhnliche
Mittel geholfen werden könne. Der große Staat3mann Stein
erfannte, daß eine Wiedergeburt Preußens nur durch die
Entfeſſelung aller Volkskräſte möglich fei. Er rief das
preußiſche Volk aus dem Eigendienſt in Feld, Werkſtatt und
Geſchäft zum Dienſt für das Gemeinwohl und das Vater=-
land und erhob es ſo durch Selbſtthätigkeit zur Selbſt:
ſtändigkeit und zum Bewußtſein der eignen Kraft. Fichte,
Schleiermacher, Jahn verlangten eine Nationalerziehung.
Zum erſtenmal durchdrang der Erziehung8gedanke das ganze
Staatsleben. Wie weit die leitenden Staat3männer in die
Ideen Peſtalozzis eingetaucht waren, dafür nur zwei Belege.
Stein jagt von Peſtalozzis Methode, daß ſie
„die Selbſtthätigkeit des Geiſte3 erhöhe, deu religiöſen
Sinn und alle edlern Gefühle de8 Menſchen errege, das
Leben in der Jdee befördere und den Hang zum Leben
im Genuß mindere und ihm entgegenwirke.“
Staatsrat Süvern ſchreibt:
„Alle3 wird der Staat in und mit ſeinen Bürgern
erreichen können, wenn er forgt, daß ſie alle in einem
Geiſte von Jugend auf für die großen Zwede, deren
Gegenſtand ja ihre eigne Gejamtheit iſt, gebildet, dadurch
zugleich ſchon früh innerlich konſolidiert werden. Nicht
die Kräfte der Natur ſind es, worauf der preußiſche Staat
gegründet iſt, jondern die lebendigen, unendlicher Erhöhung
und Entwieklung fähigen Kräfte der Menſchenwelt.“
Das ſind Peſtalozziſche Gedanken in Peſtalozziſcher
Sprache. Selbſt al8 das Metternichſc<he Polizeiregiment
alles politiſche Leben ertötete, wirkte im Schulweſen
dieſer Leben erwe&ende Geiſt weiter. Erſt im Jahre 1840,
wo die Romantik auf den Thron und die Reattion ins
Land fam, mußte der unerſchütterliche Freund der Volks3-
bildung Altenſtein dem geiſtloſen, gefügigen Eichhorn
weichen. Auf politiſchem Gebiete zeigte die Reaktion, die
nach Prof. Ziegler immer geiſtlos iſi, ihre ganze Beſchränktheit
dadurc<, daß ſie der Einführung der Verfaſſung in Preußen
und Öſterreich ſelbſt jeht noch widerſtrebte, wo ſie ſich
bereit8 in verſchiedenen Mittel- und Kleinſtaaten als die
höhere Staatsform erwieſen hatte. Leider trat auch in den
beiden deutſchen Großſtaaten der konſtitutionelle Staat nicht
auf dem Wege der Reform, ſondern der Revolution ins
Leben und riß dadurch zwiſchen Regierung und Volk eine
tiefe Kluft auf. Dieſe wurde noch dadurch erweitert, daß
die ſiegreiche Reaktion den alten abjolutiſtiſchen Geiſt in
die jungen Verfaſſungsſtaaten zurüfbrachte. Doh begann
die reaktionäre Hochflut ſich endlich zu verlaufen, und nun
hub auf dem neuen Grunde ein ſröhlihes Grünen und
Sprießen an.
Mit der Verwirklichung des Verſaſſung3rechts trat auch
die Volk3ſ<ule in eine neue Epoche der Entwicklung, ja
ſie wurde eigentlich erſt mit dem Verfaſſung3ſtaat ſicher
begründet. Das Korrelativ zu dem Rechte der Mitwirkung
an der Geſtaltung des Staat3wejen3 war die Pflicht des
Staates auf Bildung feiner Bürger. Vor allen Dingen
mußte die Lehre vom AbſolutiSmus, „vom beſchränkten
Unterthanenverſtand“ entkräftet werden. Der deutſche Kon-
ſtitutionaliSmus dachte ſozialer als der von Frankreich,
England, Holland und andern Staaten, der in ſeinem
doktrinären JIndividualiSzmu8 au< das Recht, dumm zu
bleiben, als unveräußerlides Men] c<henrecht anjah. Als aber
die Franzoſen die militäriſche Überlegenheit Deutſchlands