Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

dienen, beſonder8 dem politiſch - moraliſchen Leben, joll 
dieſem eine Grundlage, eine theoretiſche oder Gefühl3grund- 
lage geben Schon durc< Kant wurde dieje Wendung vor- 
bereitet, indem er zeigte, daß wir von tran3szendenten Dingen 
nicht3 wiſſen und die religiöſen Wahrheiten nur mit dem 
Gefühl erfaſſen können. Von der Kulturkampf-Zeit an bis 
heute iſt an dem neuen kirc<enpolitiſchen Charakter nichts 
geändert. Die kirchliche Eheſchließung wie die obligatoriſche 
Taufe bleibt aufgehoben und iſt in da3 Belieben jedes Ein- 
zelnen geſtellt; die Religion iſt damit zur Privat- 
jache geworden. Formell find darnach die deutſchen 
Staaten konfeſſion3lo8, praktiſch freilich nicht; denn durch 
den Religion3untericht in der Schule jucht der Staat zur 
Religion zu erziehen. Was ſein Ziel dabei iſt und jein 
kann, deutet Schiller in der Glo>e an. Die Menſc<hen zu 
„anften Sitten“ zu gewöhnen, iſt der hiſtoriſche Segen der 
Ordnung. „Sie wob das Teuerſte der Bande, den Trieb 
zum Vaterlande.“ In der Herſtellung und Aufrechterhaltung 
der ſtaatlichen Ordnung wird no< von manchen die aus- 
ſchließliche Aufgabe der Religion und des Religionsunter- 
richte3 in Kirche und Schule geſucht. Sie lag auch darin, 
bis Jeſus Chriſtus kam und die Bruder- und Vaterlands- 
liebe zur allgemeinen Menſchen-, ja zur Feindesliebe erwei- 
terte. Jene Ordnung und die <riſtliche Liebe wurden von 
dem ewigen Gott hergeleitet, der alles ſchuf und ordnete. 
Damit ſuchte die Religion nicht bloß den geſellj<haftlichen 
und moraliſchen, ſondern auc<h den urſächlichen und natür- 
lißen Zuſammenhang der Dinge zu erklären. „Edel jei der 
Menſ<, hilfreich und gut“, das war ſchon der Kern der 
älteſten Religion. Im Laufe der Jahrhunderte haben ſich 
die Sitten veredelt, und die <riſtlichhe Moral iſt die höchſte 
Blüte der religiöſen Entwi>kelung geworden. Lange Zeit 
wurden darum als die Hauptſache des Religionsunterrichts 
Glaubeus8- und Sittenlehre bezeichnet. Man bekundete damit, 
daß das Höchſte, was die Religion bezwe>e, die Veredeluug 
der Sitten ſei, de8 moraliſchen Verhaltens, das ſeine Be- 
gründung in dem Glauben an einen Gott, an einen drei- 
einigen Gott der Liebe, an eine göttliche Weltordnung 
fand. War dana< die Glaubenslehre nicht Selbſtzwe> , 1o 
do< die Grundlage der Sittenlehre und inſofern ein wich- 
tiges Stü> derſelben. Auch heute noch bildet nichts anderes 
die einzige Thätigkeit der Religion3verkünder, als dieje 
Sittenlehre der Hriſtlichen Kirche derartig in3 Volk 
zu bringen, daß ſie fein Denken und Handeln leitet 
und beſtimmt. Den Kultus kann man daher anjehen als 
die Vermittelung, die Organiſation der religiöſen Moral, 
und dann kann es für den Religionslehrer keine 
andere Aufgabe geben als die Einführung der Kin- 
der in dieſen Kultus, al8 eine ſc<on in ſrüher Ju- 
gend beginnende und dur< die ganze Schulzeit hin- 
dur<gehende Seelſorge. Die „Allgemeinen Beſtimmun- 
gen“ in Preußen ſuchen dieſen Zwe& zu erreichen durch 
„Einführung in das Bekenntnis der Gemeinde und in das 
Verſtändnis der Heiligen Schrift“, womit „eine lebendige 
Anteilnahme am Leben und Gotte3dienſt der Gemeinde und 
ein felbſtändiaes Leſen der Heiligen Schrift“ angebahnt wer- 
den ſol. Dieſe beiden Aufgaben des Religion3unterrichts 
fordern alſo Einführung in da3 religiöſe Leben der Gegen- 
wart und Vergangenheit. Nun fragt e8 ſich, inwieweit 
dies geſchieht und geſchehen kann nach Lage der thatjäch- 
lichen Verhältniſſe. Wie bekannt, wird der Einführung in 
das religiöſe Leben der Vergangenheit zu genügen gejucht 
dur< den Unterricht in bibliſ<er und Kirhengeihichte, durch 
Bibelkunde und Vibelleſen mit Erklärung in wöchentlich ein 
bis zwei Stunden. Das dürfte völlig ausreichend jein, um 
den Schülern einen Einbli> in die Kultu3-EntwiFelung der 
Vergangenbeit zu gewähren. Nicht die Lehre vieler Einzel- 
heiten aus dem Kultusleben kann hier die Hauptſache jein, 
jondern daß da3 Weſentliche in den Mittelpunkt IJe- 
itellt und Nebenſäc<hliches nur geſtreiſt oder ganz 
übergangen werde. Hier ſcheint aber noch viel gefehlt 
zu werden. Vom katholiſchen Ritus z. B. wird in evange- 
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liſchen Schulen no< ſehr wenig vorgeführt und no< weniger 
in katholiſchen vom lutheriſchen und reformierten Gottesdienſt. 
Ignorieren und Verdammen aber führt bei geiſtig Unmün- 
digen leißt zur Anſicht der Fehlerhaftigkeit einer kul: 
turellen Einrichtung. Ein Bild vom mohammedaniſchen 
Kultus orientiert nicht bloß über das Leben der Türken, 
ſondern auch der Araber und der vielen Millionen, die in 
dem uns jezt näher gerüc>ten ſc<warzen Erdteil in moham- 
medaniſcher Weiſe beten. Und können unſere Kinder wohl 
den richtigen Begriff vom Heidentum haben, wenn fie nicht 
ein Bild von dem Kultus befommen, dem ungefähr no< die 
Hälfte der Menſchheit huldigt, bei der das religiöſe Leben 
in viel größerem Umfang mit dem ganzen ſozialen Leben 
verquickt iſt al8 bei uns? Wir ſehen, hier giebt es noch 
ſo manches Wichtige nachzuholen und einzuflechten, dafür 
aber Veraltetes und Bedeutungsloſes auszuſcheiden ſowohl 
vei der Vorführung vom Kultusleben der Vergangenheit wie 
bei dem der Gegenwart. “ 
Der Unterricht über die Organiſation des religiöſen 
Qeben3, ſobald er über „das Bekenntni8 der Gemeinde“ oder 
die eigene Konfeſſion hinausgeht, findet in unſeren Volks- 
ſchulen feine einheitliche und befriedigende Darſtellung, ebenſo 
nicht die hiſtoriſche Entwi>kelung desſelben. Ja ſelbſt der 
heimiſche Kultus wird nicht allemal genügend gelehrt. Wird 
doc< von der äußeren Organiſation z. B. der preußiſchen 
Landeskirhe in den preußiſchen Volksſchulen kaum ir- 
gendwo etwas erwähnt, geſchweige denn eingehend behandelt. 
Und doch iſt eine Orientierung über ihre Verwaltung jehr 
notwendig, beſonder3 heute, wo jeder Bürger durch die 
großen und kleinen Synoden teil haben kann an der Selbit- 
verwaltung der Kirche und ſomit als Träger des proteſtantiſchen 
Bewußtſeins an der Fortentwickelung der Kultur zu arbeiten 
eine immer allgemeinere Aufgabe wird. Die Vorführung 
der Kultusformen der Vergangenheit wie der Gegen- 
wart im Heimat- und Auslande fordert aljo not- 
wendig einige Erweiterungen im heutigen Religion3- 
unterricht der Volksſchule, wenn er nicht einſfeitig 
ſein ſoll. Da an eine Vermehrung der Stundenzahl für 
den Neligionzunterricht nicht zu denken iſi, ſo fragt es ſich, 
was au38 der altüberlieferten Stofſmenge auUS3zU- 
ſcheiden iſt. Nehmen wir hier als maßgebende3s Prinzip 
die alte, aber no< heute gültige Mahnung: „Bete und ar- 
beite!“ ſo: fann daraus kaum etwas anderes folgen, als 
Ausſcheiden alle3 deſſen, wa3 weder zum Verſtänd: 
niſſe de8 Kultus noh zur Befähigung für die Teil: 
nahme am gottesdienſtlichen Leben in irgend welcher 
direkten Beziehung ſteht. Eine unbefangene Prüfung 
muß ergeben, daß unter den altteſtamentlichen Geichichten 
manche ſind, welche dieſe Ziele nicht fördern und nur für 
eine ausführliche Spezialgeſhichte des jüdiſchen Volkes von 
Bedeutung ſind. Die durch Weglaſſung ſolcher Stoſſe ge- 
wonnene Zeit kann verwandt werden auf die zur KultuS- 
lehre gehörigen StüFe des kirc<hlihen Gottesdienſtes. 
Liturgie, Kirc<enlied und Bibeladvſc<hnitte, die als 
Predigttext dienen. Wenn die liturgiſchen Stüre auch nicht 
einzuprägen ſind, ſo iſt doM eine Vermittelung ihres 
Verſtändniſſes nötig, wenn ſie nicht wirkungslos 
bleiben ſollen. Letzteres Fit in gleichem Maße von den 
Kirchenliedern. Dieſe laſſen ſich bei öfterer Andacht3übung 
ihon durch den Geſang einprägen oder doch befeſtigen, wenn 
ſie nur in ſolcher Auswahl genommen werden, als zur Er- 
bauung erforderli iſt. Von dem Wichtigſten der Gottes- 
dienſtordnung, den Predigttexten, können für den Schulunter- 
richt nur einige Epiſteln und die wichtigſten Evangelien in 
Betracht kommen, namentlich diejenigen, deren Verſtändnis 
den Schülern leicht erſ<hließbar und die für ihr jpäteres 
Leben von Bedeutung ſein können. Es iſt dieſer Unterricht 
alſo vorwiegend aus dem Geſicht8punkte heraus zu erteilen, 
daß er die Kinder einzuführen jucht in nnd jie vor- 
bereiten will für das religiöſe und gottesdienſtliche 
Leben der Gegeuwart. Deimſelben Zwe>e hat auch der 
Katehismusunterricht zu dienen. Nicht in Vorführung und
	        
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