Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

dahin wirklich „ohne Bewußtſein“ gehört haben? Der in 
der Praxis Stehende wird das ohne Umſtände verneinen. 
Jeder Schüler, der imſtande iſt, auch nur einen Teil der 
Rede durch das Ohr aufzufaſſen, greift mit großer Freude 
nach dieſem bequemen Mittel, das ihm die mühſame und 
ſehr ſchwere Kunſt des Abjehens8 mehr oder weniger entbehrlich 
macht, und er wird vielleicht mehr „mit Bewußtſein“ hören 
al8 der normale Menſ<, deſjen Ohr oö9ne jede beſondere 
Anſtrengung die Sprache aufzufaſſen vermag. 
Aber nicht nur die ſchwerhörigen Schüler der Taub- 
ſtummen-Anſtalten haben die Gehörreſte nach Bezold „unbe- 
wußt“ benußt, dasfelbe wird auch von den Taubſtummen- 
lehrern behauptet; aber erſt, nachdem fie den Vorwurf, daß * 
ſie dieſelben überhaupt unberücſichtigt gelaſſen hätten, zurück- 
gewieſen haben. I< laſſe es dahin geſtellt, ob man damit 
die geſamte Taubſtummenlehrerwelt zu Anhängern der Philo- 
ſophie des Unbewußten Eduards von Hartmann ſtempeln 
will, jedenfal8 hat man ſie auf eine Stuſe mit dem be- 
rühmten blinden Huhne geſtellt, das auch einmal ein Körn- 
hen gefunden hat. Jedem Laien wird der gejunde Menſchen- 
ſtand ſagen, daß der Taubſtummenlehrer ſowohl bei dem 
ArkifulationZunterrichte, der Entwicklung der Laute, al3 
auch ſpäter mit großer Freude die Gehörreſte jeiner Schuß- 
befohlenen benußen wird, erjpart er dom; dadurch ſich und 
ſeinen Schülern große Anjirengungen und kommt auf einem 
leichteren und bequemeren Wege raſcher zu einem ſchöneren 
Ziele, als wenn er ſie ignorieren wollte, was überhaupt gar 
nicht einmal immer möglich iſt. Sollte e8 wirklich einen 
ſolchen Abſfehfanatiker geben, der die ſ<wachen Gehörreſte 
unberüdſichtigt ließe, der würde einem Obſtgärtner gleichen, 
der aus purem Eigenſinn mühſam den Stamm eine38 Apfel- 
baume3 hinaufflettert, trozdem ihn eine anlehnende Leiter 
bequem hinaufführen würde. 
Kommen wir nun zu der Frage, wel<en Zwe eigentlich 
die Hörübungen haben, ſo erſ<eint eine präziſe Antwort 
darauf ſv ſ<wer, und wenn man die Taubſtummenlehrer 
fragt, 10 wird man faſi immer zur Antwort erhalten: „I< 
weiß- e3 nicht; meiner Anſicht nach gar keinen.“ Der Zwets, 
den ſie offiziel haben jollen, iſt bis dahin ohne beſondere 
Übungen erreicht worden. Das Gehör ſoll nicht gebeſſert 
werden, wie die Theorie jagt, und doch wird e38 no< hier 
und da behauptet. Daß es abſolut nicht gebeſſert wird, iſt 
durch die Praxis immer und immer wieder bewieſen worden. 
Damit iſt aber über ſie der Stab gebrochen. 
Eine Gefahr bergen no<h die forcierten Gehörübungen in 
ſich, die bis dahin no< nicht berücdſichtigt wurde. Die 
Zöglinge der Taubſtummen-Anſtalten, die noc< über größere 
Gehörreſte verfügen, haben das Gehör meiſten8 durch irgend 
einen Krankbeit3prozeß de38 Ohres verloren. Dieſer iſt aber 
häufig noc< nicht zum Stillſtand, zur Heilung gebracht worden. 
Wir haben alſo hier ein krankes Organ vor un3, und jeder 
Arzt verlangt mit Recht Schonung der leidenden Körperteile, 
während bei den Hörübungen das kranke Ohr doppelt an- 
geſtrengt wird. Daß daraus unter Umſtänden Störungen 
de8 Allgemeinbefinden3, Kopfſ<hmerz und dergleichen ein- 
treten, iſt leicht erklärlih. Man müßte unbedingt darauf 
achten. 
Man kann die Akten über die Hörüburgen ruhig ab- 
Ichließen; e3 werden kaum no< neue Geſicht3punkte auf-= 
tauchen, die das negative Reſultat beeinfluſſen könnten. Sie 
ſind anzuſehen al3 Verſuche, die von den edelſten Gefühlen 
des Mitleids aus8gegangen ſind, um das Los der zahl- 
reichen Stiefkinder der Natur zu beſſern. Der Verjuch iſt 
geſcheitert, verſchwenden wir aljo nicht die Kräfte der Lehrer 
und Schüler an eine ausſicht3loje Sache. 
Die anfangs Oktober in Hamburg tagende Taubſtummen=- 
lehrer-Verſammlung widmete auch dieſer Frage einen großen 
Teil ihrer Zeit und lehnte die Hörübungen mit großer 
Mehrheit ab. VW. Henz. 
343 
 
Ferienkurſe in Greifswald. 
Der diesjährige Ferienkurju8 hatte wieder eine große 
Zahl, Über zweihundert Teilnehmer, Damen und Herren, 
nach der Stadt Greifswald gelo>t. Nicht nur aus allen 
Gegenden Deutſchlands, auch aus außerdeutſ<hen Ländern, 
hauptſächlich aus Dänemark, Schweden und Rußland, waren 
Lehrer aller Art gefommen, höhere und niedere, Gymnaſial-, 
Seminar- und Volksſchullehrer, höhere Töchterſc<hul- und 
niedere Töchterſ|<hul-Lehrerinnen. Und gerade darin, will mir 
ſcheinen, liegt der Hauptvorzug der Ferienkurſe, weniger in 
dem durch die Vorleſungen Dargebotenen. Gs ſei ferne von 
mir, das geiſtige Ergebnis derſelben auch nur im geringſten 
herabſeßen zu wollen; e38 wurde in der BegrüßungsSrede 
nicht nur darauf hingewieſen, die Herren Profeſſoren 
würden ihr Beſtes bieten, die Vorlejungen haben das auch 
beſtätigt. Aber jeder Unbefangene kann ſich ja ſelbſt aus- 
rechnen, was in drei kurzen Wochen mit je vier Vorleſungstagen 
herausfommen kann: für jede Vorleſung ſechs Stunden, für 
eine derjeflben neun Stunden. Auc<h kommt die Ferien- 
ſtimmung der Hörenden und, wie beſonders in dieſem Jahre, 
die Hißze hinzu. Gute Bücher können die Vorlejungen ſehr 
wohl erjezen, für uns Großſtädter dann auch die Wintexr- 
vorleſungen. Dabei iſt allerdings nicht zu vergeſjen, daß 
den Herren Vortragenden in Greiſ8wald die reichen Samm- 
lungen der Univerſität zu Gebote ſtehen. 
Aber gerade da8, daß man mit Kollegen aus den ver- 
ſchiedenſten Gegenden zujammentriſſt, iſt äußerſt anregend. 
Denn wo zwei verſammelt ſind in ihrem Namen, da iſt 
ja bekanntliß Frau Pädagogik immer mitten unter ihnen. 
Da werden Meinungen ausgetauſcht über pädagogil<e Fragen, 
äußere Schuleinrichtungen, Anj) <auungs5objekte ujw. Merkt 
man derlei Anregung |c<on recht bedeutend auf den großen 
Lehrerverſammlungen, jo itt das hier noch viel mehr der 
Jall; denn man iſt nicht nur für ein paar kurze Tage, 
jondern ganze drei Wochen bei einander. Man triſſt fich im 
Vorleſungsſaal, im Reſtaurant, bei den gemeinſamen Ver- 
gnügungen, beim Mittagsti1g, beim Spazierengehen: kurz, 
in der kleinen Stadt geht man kaum eine Straße entlang, 
ohne auf Ferienkurjijten zu ſtoßen. So kommt es, daß wohl 
jeder beſriedigt die Stadt verlaſſen und mehr fortgetragen 
bat, als er in jeine „Kollegienbefte“ eingetragen. 
Auch na< anderer Seite wird jeder befriedigt ſein. 
Die Befürchtung, daß man jeiner Ferienerholung quitt gebe, 
yt nicht zu hegen. Denn einmal liegt e3 ja in der Hand 
eine3 jeden, jo viele oder ſo wenige Vorleſungen zu beſuchen, 
al3 er will. Dann jind der Mittwoc< ganz, der Sonnabend 
ſalt ganz, ebenſo die Nachmittage frei. -- Greiſ3wald iſt 
eine kleine freundliche Stadt, in welcher ſich verhältni8mäßig 
billig leben läßt; Wyk und Eldena, mit Dampfer und mit 
Kleinbahn in zwanzig Minuten zu erreichen, jind Seebäder. 
Eldena mit ſeiner prachtvollen Kloſterruine und ſeinem herr- 
lichen Buchenwalde ijt in der Umgegend allgemein berühmt. 
Und last not least: Rügen, dieje3 Dorado an landſchaftlicher 
Schönheit wie an intereſſanten geographiſ<en und geſchicht- 
lien Cigentümlichkeiten, liegt in unmittelbarer Nähe und lo>t 
zu Ausflügen, die an den freien Tagen gemeinſam unter-= 
nommen werden. 
E38 muß jedem Teilnehmer wohlgethan haben, die regen 
Beziehungen zu beobachten, die zwiſchen Univerntät und 
Schule beſtehen. Mir iſt dort nicht3 von Kaſtengeiſt auf- 
geſtoßen ; ein kollegiales, freund]<aftliche3 Band knüpft hier 
Profeſſoren, Lehrer und Bürger zuſammen =- und das ſei 
ihnen zur Ehre nachgeyagt. C. Bohrmann. 
Die Hauptverſammlung 
des Nordalbingiſchen Turnlehrervereins 
ſand am 22. und 23. September hier in Hamburg ſtatt. Der 
Lübe&er Ausſchuß hatte unvorhergeſehener Zwiſchenfälle halber 
im letzten Augenbli> abgelehnt, und Hamburg mußte ein:
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.