Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

wirkſam zu werden. Darüber erfahren wir“ michts.. Ranke 
lehnt: ausdrülich die: Fragee nach- der- Entſtehung" der: Ideen 
ab. Schon damit iſt für unſere Tage die Jdeentehre gerichtet. 
Sie vermag" übrigens auch garnicht; die Geſchichte-zur 'Wiſſen- 
ſhaft“ zu machen. Denn die Wiſſenſchaft iſt ein Gebäude 
von Begriffen. Da nun ein Begriff bekanntlich entſteht aus 
der Vergleichung. mehrerer Einzekwefen, eine: „Jdre“ aber; 
wie oben gezeigt, ſtet8 ſingulär iſt, ſo folgt, daß dieſe 
Theorie von vornherein unfähig. iſt,. die: Geſchichte, wiſſenz- 
ſchaftlich zu geſtalten. 
Freilich beſtreiten die neueren Hiſtoriker, die in: den. 
Bahnen Rankes8 wandeln, dieje Schlußfolgerung... Sie leugnen 
auch den tranſcendentalen Urſprung der Jdeen; aber man wird 
Lamprecht: Recht geben müſſen, wenn er ſolche“ Stellung für“ 
inkonſequent erklärt und erwartet, daß die „Jungrankianer““ 
mit der Zeit ſich zu jeiner Hypotheſe von den kulturhiſto- 
riſchen Stufen bekehren werden. 
Damit kommen wir zu. dem. dritten. Berſuch, der zur: 
Deutung der hiſtoriſchen Thatſachen angeſtellt ift. 
Wie Lamprecht: zu ſeiner Lehre gekömmen“ iſt, darüber“ 
hat er jelbſt in dem neuen Buche fowohl, wie. auch“ in früheren 
Arbeiten (cf. beſonders. „Was.iſt Kulturgeſchichte?“ in. Deutſche. 
Zeitſ<hrift für Geſchichtswiſſenſchaft.“ N. Folge 1. Jahrgang) 
Auskunft gegeben. Durch- ein eingehendes: Quellenſtudium 
iſt ihm zunächſt die Erkenntnis. geworden, daß. der. geiſtige 
Habitus de8 Menſc<en des zehnten. und elften Jahrhunderts 
ein ganz anderer geweſen ſein müſſe, als dex unjerer Gegen- 
wart. Und es iſt ihm, indem er ſeiner Entde&ung weiter. 
nachging und beſonder38 die Denkmäler der Kunſt früherer. 
Jahrhunderte fſiudierte, allmählich. klar geworden, daß die 
Entwiälung der Deutſchen in einer Anzahl ſich deutlich. von- 
einander abhebender Zeitalter verlaufen iſt; und. daß. alle 
Handlungen eine3 gewiſſen Zeitalter3, mochten ſie nun. geiſtiger 
oder wirtſchaftlicher Natur. ſein, durch die jenem Zeitaltex: 
zu Grunde liegende. pſy<iſc<he Baſis beſtimmt ſeien. Weiter 
aber ergab ſich die merkwürdige Thatſache, daß die aufge- 
jundenen Zeitalter jich bei den Völkern. der Antike, wie bei 
allen occidentaliſ chen Völkern der ſpäteren. Zeit ſtet3 in dexr- 
jelben Reihe wiederholen. Lamprecht hat dieſe Kulturſtufen 
das „ſymboli'ſtiſche“, das. „typiſche“, das- „konventionelle, 
das „individualiſtiſche“ und das „ſubjektiviſtiſche“ Zeitalter: 
genannt. Sie entſprechen in ihrer regelmäßigen Folge. den 
LebenZ3altern des Individuums. Wie. die Kindheit. ſtet8 dex 
Jünglings3zeit, dieſe dem ManneZ2alter und dieſes. wieder dem 
Greiſenalter vorhergeht, wie aber niemals etwa die“: Jahre 
der reiſen Manne3zeit dem Greiſenalter: folgen, fo verlaufen 
auch die oben benannten nationalen. Kulturſtufen- ſtet8 in 
derjelben beſtimmten Reihenfolge. Wenn es einer Nation 
überhaupt vergönnt iſt, ſich ſelbſtändig auszuleben, dann 
folgt auf das ſymboliſtiſche Zeitalter das typiſche, auf dieſes 
das fonventionelle ujw. Dieſe Zeitalter ſind nun offenbar 
Begriſſe; denn es ſind ja Vorſtellungen, in denen das. Weſen 
ver]<iedener Seiten der Kultur einer beſtimmten Periode 
einheitlich zujammengefaßt wird, und zwar ſind es höchſte 
Begriffe, unter welche das ganze hiſtoriſche Geſchehen ſubſju- 
miert werden kann. 
Damit ergiebt ſit uns nun gleich eine Antwort. auf 
die Frage, welches denn die eigentliche Aufgabe der Geſchichte 
jei. Bekanntlich hat man lange als da3 wichtigjte Objekt 
aller hiſtoriſchen Forichung den Werdegang des Staates hin- 
geſtellt. Wir werden nunmehr aber mit Lamprecht ſagen 
müſſen: nicht die Darſtellung des - Staates in feinem Ent- 
ſtehen und Vergehen -- ein 1o wichtiger Teil der Geſchichte 
dieje auc immer bleibt --- iſt das höchſte Ziel der hiſtoriſchen 
Wiſſenſchaft, jondern vielmehr die ſeeliſche Abwandlung. der 
einzelnen Nationen in ihren verſchiedenen Stufen. 
Gebührt nun Lamprecht allein da8 Verdienſt, dieſe Je- 
waltige wiſjen1|c<aftliche EntdeXFung gemacht zu haben? Es 
will mir faſt ſcheinen, als ob er allerdings früher dieſe 
Meinung gehabt und den EntdeFerruhm für ſi<ß allein habe 
in Anſpruch nehmen wollen. Jn ſeinem neuen Werkchen iſt 
ex jedo< bereits anderer Anſicht. Er ſagt darüber (a. a. O. 
 
 
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Seite-31):: „Formulierungen wie diä&der Kulturzeitalter"werden 
nicht: aus denr Bodem: geſtampfts: ſie wachfem langſam“ heran, 
und ihre geiſtige Unterlage wird von dem Denken ganzer 
Zeitalter“ gebildet:“ Und> im der: That ſind> Anſäße zu. der 
neuen Theorie ſchon früher mehrfach hervorgetreten: J<h 
erinnere an die Aufſtellung der verſchiedenen Wirtſchaftsſtufen, 
dann. an. Burc>hardt3- berühmtes Werk? über. die: Kultur der 
Renaiſſance in Jtalien, das ja“ durchaus darauf ausgeht, 
den. Jndividuali3mus. al3 da8- eigentliche Erklärungsprinzip 
der damaligen Zuſtände“ und Verhältniſſe hinzuſtellen. Ferner 
gehört: Marx' Behauptung hierher, daß- ſich die bisherige 
nationale: Entwicklung vollziehe in der Dreiteilung: Sklaven- 
wirtſchaff, Feudalizmus, Lohnwirtſchaft; wobei dann aller- | 
dings die“ alte: Einſeitigkeit der materialiſtiſchen' Geſc<hicht3- 
auffaſſung wieder hervortritt. Endlich iſt beſonders auf 
Comte zu verweiſen, der. bekanntlich die. drei Perioden. der 
religiöſen, der philoſophiſchen, der. poſitiviſtiſchen. Lebens8- 
anſchauung. unterſcheiden wolte.. 
Wenn: alſo auch Lamprecht: viele Vorgänger auf dem 
in: Rede ſtebenden Gebiet“ gehabt hat; jo kann er do< mit 
Fug. und: Recht: das - Verdienſt für ſich in Anjpruch nehmen, 
daß. ex: die Kulturzeitalter. viel.beſtimmter: gefaßt: hat: als alle 
ſeine Vorgänger; und dann vor allem: daß er früher als 
irgend ein: anderer: die nete: Theorie: in. größerem Maße 
praktiſch: auf die: Geſchichte: angewandt hat. 
Welche: Bedeutung hat. nun die. Einführung der kultur- 
hiſtoriſchen Methode -- d. h. ebender: Lehre von den:Kultur- 
zeitaltern. --- im. einzelnen?. Zunächſi. ſei. hier.. auf. eine 
praktiſche Nußanwendung hingewieſen, obwohl Lamprecht in 
dem Buche,, das unferen: Ausführungen: zu Grunde liegt, 
dieſen Geſichtöpunkt nicht erwähnt. Wir wollen dabei von 
einem konkreten Beiſpiel ausgehen! . 
Wir. leben bekanntlich. in einer Zeit, wo ſich der Übergang 
Deutſchlands zum Induſtrieſtaat. in immer raſc<herem Tempo 
vollzieht. Iſt dieſer Übergang. ein heiljamer, oder. iſt er zu 
beklagen? Für beide. Seiten. dieſer Alternative laſſen. ſich 
Vertreter anführen. Die, wel<e mit Oldenberg, A. Wagner 
u. a. die Entwi&lung zum ZInduftrieſtaat für. etwas- höchſt 
Gefährliches halten, führen unter anderen Argumenten be- 
ſonder3 das an, daß. uns in gar nicht allzu ferner Zeit das 
Nbſatgebiet. fehlen wird, da unſere. biSherigen Abnehner 
mehr. und mehr zu Konkurrenten werden. Und dieſes Argu- 
ment erhält nun durch die Lehre von den kalturhiſtorij<en 
Stufen ein. ganz bedeutendes Gewicht: Bekanntlich entſpricht 
jener wirtſ<aftlichen Form, die wir Geldwirtſchaft nennen, 
auf geiſtigem Gebiete die Stuſe de8 JndividualiSmus. Zur 
ſelben Zeit, wo der leßtere voll. in. die Erſcheinung tritt, 
(für uns: Deutſche etwa um 1500), vollzieht ſich auf: wirt- 
ichaftlichem Gebiete der energiſche Übergang von der Natural- 
wirtſ<aft zur Geldwirtſchaft: Nun. iſt unverkennbar, „daß 
dieſer grüößeſte Wendepunkt in der nationalen Kulturgeſchichte“ 
(Oldenberg „Über Deutſchland als Znduſtrieſtaat“ * 3. B. in 
Rußland. und in Japan vor unſeren. Augen. vor jich geht. 
Andere Völker werden ſpäter folgen. Wir werden uns alſo 
darauf einrichten müſſen, daß die Konkurrenz dieſer: Völker 
uns. in Zukunft noch viel mehr zu ſchaffen machen. wird als 
heute. So kann, wie wir ſehen, die Theorie von den Kuitur- 
ſtufen in gewiſſer Weiſe uns außerordentlich wertvolle Auf- 
ſhlüfße für die Zukunft geben, indem wir aus der von uns 
bereit3 zurüdgelegten Entwiälung ſchließen können, wie ſich 
andere, noc< weiter zurücdſtehende Völker in der Zukunft 
entwideln werden. (Ein anderes Beiſpiel für die praktijhe 
Bedeutung der neuen Lehre giebt Breyſig in der erſten 
Nummer des „Lotſen“). 
Und weiter! Die verſchiedenen Kulturſtufen ſind mitein- 
ander kauſal verbunden, ſo daß die ſpätere ſtets kauſal aus 
der früheren hervorgeht. Denn ſonſt wäre ja nicht zu ex- 
klären, warum dieſe fünf Stufen immer in derſelben Reihen- 
.* Dieſer Vortrag, der 1897 auf dem 8. Ev.-jozial. Kongreß zu 
Leipzig gehalten wurde, kann nicht genug allen denen empfohlen werden, 
die ſich über dieſe hochwichtige Trage cin von dem Geſchrei der Tages: 
zeitungen unabhängiges Urteil bilden mödten.
	        
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