denn diefer war es, der das Hindernis bildete, nicht der
Konſonant, der ja nicht bloß einmal, ſondern mehrere Male
richtig artikuliert wurde. Das wirkliche Anſtoßen be-
ſteht in dem krampfhaften Verharren der Or-
gane in der Artikulationsſtellung; der Stotterer
kommt aus derſelben nicht heraus.
Meine geehrten Zuhörer! I< muß mich kurz faſſen.
Die eben vernommenen Ausführungen im Verein mit den
eigenen Erfahrungen und Beobachtungen werden es für jeden
jehr wahrſcheinlich machen, daß das Stottern im letzten kein
phyſiſches, jondern ein Gebrechen ſei, deſſen Urſache im
Centralorgan, im Gehirn, zu ſuchen ſei.
Profeſſor Kußmaul, deſſen Forſchungen auf dem in
Rede ſtehenden Gebiete größte Anerkennung gefunden haben,
nennt das Stottern eine ſpaſtiſche Koordination3-Neuroſe.
Die Neuroſe bezeichnet eine Nervenſtörung, bei welcher weder
anatomiſch noc< <emiſc< eine Veränderung de8 Nervs nach-
weizbar iſt. Der Leiter der hieſigen Taubſtummenanſtalt,
Herr Direktor Söder, unter deſſen Leitung auch unſere Heil-
furje eingerichtet und -geführt worden ſind, hat mir mitge-
teilt, daß bei Sektionen von Stotterern, denen er beigewohnt
hat, niemals eine Veränderung des Gehirn38 oder des Rücken-
marks feſtzuſtellen war.
Da dieje Neuroſe ſich in krampfhaften Zuſammenziehun-
gen der Muskeln äußert, ſo. heißt ſie eine ſpaſtiſche. Koor-
dination3-Neuroſe endlich kann man ſie des8wegen nennen,
weil ſie das beim normalen Sprechen erfolgende Jneinander-
greifen, das gleichzeitige Mit- und Nebeneinanderwirken der
beim Sprechen in Frage kommenden Muskelgruppen ver-
hindert. Es iſt unumgänglich, dem ganzen Sprachapparat
eine kurze Betrachtung zu widmen. Der Anſchaulichkeit
wegen wähle ich ein Bild, das ich in Gußmanns8 Lehrbuch
gefunden. Es vergleicht den ganzen Lautſprachorgani38mus
mit einem Orgelwerk. Der Blaſebalg ſtellt die Lungen vor,
die Pfeifen das Stimmorgan, den Kehlkopf, die Taſten und
das Pedal entſprechen den Artikulation3organen. Wirkt der
Blajebalg nicht, ſo wird der Organiſt vergeblich an den
Tajten mühen, wie umgekehrt bei ergiebigſter Thätigkeit des
Blajebalgs kein Ton zuſtande kommt, wenu nicht gleichzeitig
die Taſten der Klaviatur heruntergedrüFt werden. Aber
auch die gleichzeitige Funktion beider erzeugt noch keinen
Ton; es müſſen noch die Regiſter gezogen werden, damit die
Pfeifen ertönen. Genau ſo iſt es mit unſerm Sprachapparat.
Die vorzüglichſten Artikulation3organe richten auch bei völlig
rihtiger Bewegnng nichts aus, wenn die Lunge die für die
Lautbildung erforderliche Luft verſagt. Umgekehrt kann bei
mangelnder oder fehlerhafter Artikulation der ergiebigite
Atmungsſtrom keine oder doch nur eine mangelhafte Laut-
bildung bewirken. Troß richtiger Lungenthätigkeit und nox-
maler Artikulation muß die Stimme verſagen, wenn nicht
auß die Stimmbänder funktionieren. Soll aber die Orgel
eine Melodie, ein harmoniſches Muſikwerk zu Gehör bringen,
dann. genügt e3 nicht, daß da3 Werk überhaupt in Bewegung
gejett werde, Jondern e8 muß ein Balgentreter und ein Or-
ganijt dazukommen. Dieſen beiden entſpricht im Sprachor-
ganiSmus das Centralorgan ; die Nerven wirken wie die
Finger und Füße der beiden Perſonen. Die einheitliche, auf
dasjelbe“ Ziel“ gerichtete Thätigkeit beider, nämlich das Or-
gelwert zur vollkommenen Erfüllung ſeines Zwede3 zu brin-
gen: das iſt ein treffendes Bild von der BewegungsSaſſoziation,
ohne welche ein normales Sprechen nicht möglich iſt.
Die motoriſchen, die vom Centralorgan zur Peripherie
führenden, jede Bewegung veranlaſſenden Nerven ſind es,
welche auch unſere Sprachwerkzeuge in einheitliche, harmo-
niſche Thätigkeit verſezen; fie ſind e3, deren mangelhaftes
Funktionieren beim Stotterer die regelwidrige Bethätigung
der verſchiedenen Muskelgruppen veranlaßt.
5. Wie aber wäre es denn möglich, der Koordinations8-
Neuroje des Stotterers beizukommen ? +. Wie ſollen Nerven
und Gehirn zu normaler Thätigkeit zurü&geführt werden ?
Daß hier dur<& irgend eine geheimnisvolle Manipulation
geholfen werden könnte, wird niemand glauben. Das Mittel
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aver, das wir für das richtige halten, iſt höchſt einfach: es
beißt Übung. Du Boi8-Reymond ſagt: „Unter Übung
verſteht man gewöhnlich das öftere Wiederholen einer mehr
oder weniger verwicelien Leiſtung des Körper3 unter Mit-
wirkung des Geiſte3, oder auch des Geiſtes allein, zu dem
Zwece, daß ſie beſſer gelinge.“ Und weiter: „Man hat
Grund anzunehmen, daß in der Regel der normale Muzkel
dem Nerven pünktlich gehorc<t, daß ſein Kontraktion3zuſtand
in jedem Augenbli&> durch den Erregungs8zuſtand des Nervs
in einem kurz vorhergehenden Augenblike bedingt wird. Da
nun die Nerven ſelber nur die aus den motoriſchen Gang-
lienzellen kommenden Impulſe übermitteln, ſo leuchtet ein,
daß der eigentliche Mechanismus der zuſammengeſetzten Be-
wegungen im Centralorgan jeinen Sitz hat, daß folglich
Übung in jolchen Bewegungen im weſentlichen Übung des
Centralnervenjyſtems iſt. Lettere8 aber hat die unſ<äßbare
Eigenſc<aft, daß Bewegungs3reihen, welche häufia in ihm nach
beſtimmtem Geſet abliefen, leicht in derjelben Ordnung, ebenſo
an- und abſchwellend und ineinander verſchlungen wieder-
fehren, jobald ein darauf gerichteter, als einheitlich empfun-
dener Willen3impul3 es verlangt.“ Leibe3übungen kräftigen
demnach nicht bloß die Muskeln, ſondern auch die entſprechen-
den Nerven und das Centralorgan. 8 kommt binzu, daß
die Vervollkommnung in LeibeSübungen nicht in der Geläufig-
machung der beabjichtigten, notwendigen MusSkelthätigkeit
allein beſteht, jondern faſt in demſelben Grade in der Be-
jeitigung unzwedmäßiger Mitbewegungen. Wie zavyelt auch
der fräſtige Knabe, wenn er zuerſt am Turngeräte ſich ver-
jucht; dur< eine Reihe unbeabſichtigter, völlig zwelofer
Bewegungen erichwert er ſich jein Vorhaben bedeutend ; nach
einigen Wochen exakter Übung iſt er gewandt und ſicher ge-
worden. Das Wohlgefallen, das wir beim Anbli> eine3
geſjhidten Turners empfinden, beruht zum auten Teil darauf,
daß unferm Auge die unichönen Mithewegungen erſpart bleiben.
Wenn nun Profeſſor Kußmaul recht hat mit ſeiner Be-
hauptung, daß Gewohnheit und Übung die einzigen Urſachen
der Aſſoziation ſind, ſo haben wir ſicher Grund, die Übung
und Gewöhnung aller Sprachwerkzeuge als wichtigſtes Mittel
zur Wiederherſtellung der geſtörten Aſſoziation zu betrachten.
Wenn ferner wahr iſt, daß die frampfbhaſten Mitbewegunge:t
des Stotterer5 unnötige Anttirengung, wachſende Erregung
und jomit eine Steigerung des Übel35 herbeiführen, 1o leuchtet
ein, daß der Beſeitigung dieſer Mitbewegungen ein beſon-
dere3 Augenmerk zuzuwenden iſt.
Aljo Geläufigma<hung der nötigen, Unter-
drüdung der unnötigen und ſtörenden Bewegungen,
das it demnach die Grundlage für eine rationelle
Stotterheilmethode.
(Schiusß folgt,
Die Sommerpflege in Deutſchland.
Der JahreZanfang trägt einen Janus8kopf. Das eine
Geſicht wendet ſich betrachtend der Vergangenbeit zu, das
andere ſragend der Zukunft entgegen. Was3 haben wir im
verſloyenen Jahre vollbracht, was ſollen wir im anbrechen-
den leiſten? fragt jeder einzelne, jede * Organiſation, jede
Nation. Über ein kleines, aber erqui>liche2 Gebiet berichtete
im Dezember die „Zentralſtelle der Vereinigung für Sommer-
pllege“ (Berlin, Steinmetſtraße 16); zwar beziehen 3 ſich die
Angaben no<“ nicht auf die Ergebniſſe des leßveriloſſenen
Sommer3, jondern auf die de3 Jahres 1898. Dur< eine
umfaſſende Fragebogen-Enquete, .durch* wel<e alle- in Be-
tracht kommenden Verhältniſie erkundet werden ſollten, ift
die Verzögerung eingetreten =-- eine Verzögerung, die wahr-
lich keinen Schaden bringt. Denn es dürfte gerade jetßt
der geeignetite Moment ſein, das öffentliche Intereſſe für die
Aufgaben der Zentralſtelle zu + erwärmen. .. : Die, welche
im Sommer belfen wollen," müſen ſchon im Winter ſammeln,
jich orientieren und organiſieren, damit der Feldzugsplan
voraunsbedacht iſt und die „Kriegskaſſen“ gefüllt ſind, wenn 3
dann im Sommer „losgebhen“ ſoll.