Fe
die Vervollkommnung der materiellen Srundlagen des Lebens
(Aerbau, Handel und Gewerbe) oder der geiſtigen (Religion,
Wiſſenſchaft, Kunſt). Eine Reihe hervorragender Methodiker
der neueren Zeit hat die Forderung, die lektbezeichnete Ent-
wiklungsreihe, alſo die Kulturgeſchichte, mehr als bisher
im Geſchicht3unterricht zu berüſichtigen, erhoben und zugleich
den Verſuch gemacht, die Wege zu weiſen, wie in der Praxis
dieſer Forderung nachzukommen iſt. Die Arbeiten von
Biedermann, Richter, Scholtze, Ruſ< und vor allen
Dingen diejenigen der Vertreter der Herbart-Zillerj<en
Richtung ſind in dieſer Beziehung von typiſcher Bedeutung,
und die Frage, ob die Kulturgeſchichte eine gleichberechtigte
Stellung neben der politiſchen im Schulunterricht verdient,
muß nach dieſen Arbeiten als eine unumſtrittene angejehen
werden, die einer weiteren Begründung nicht bedarf. Aber
während die Anhänger dieſer Richtung in der grundſäßlichen
Anerkennung de38 Wertes der Kulturgeſchichte übereinſtimmen,
weichen ſie in der praktiſchen Ausführung ihrer Jdee mehr
oder weniger voneinander ab. Dieſe Verſchiedenheit hat
hauptſächlich darin ihren Grund, daß die Weſensbeſtimmung
des Begriffs der Kulturgeſchichte nicht von allen genau prä-
ziſiert wird ; wenigſtens herrſcht nicht überall völlige Klarheit
darüber, wa8 als Inhali der Kulturgeſchichte anzuſehen iſt,
ſoweit e8 ſich um ihre Eingliederung in den Geſchicht3un-
terricht der Volk3ſchule handelt.
„Mit keinem Worte iſt wohl ſo viel Mißbrauch getrieben
worden, wie mit dem Worte Kulturgeſchichte“, heißt es in
einem Auffas über „Politiſche und Kulturgeſchichte“ in der
„Zeitſchrift für allgemeine Geſchichte“.*) „Was
ſich nirgends in ein beſtimmtes Schema einreihen läßt, wird
gewöhnlich unter jene Rubrik geſchoben, und die jogenannten
Kulturgeſchihten bieten ein Sammelſurium von allem und
noc< einigem anderen ohne Syſtem und Ordnung dar. Der
Hauptfehler liegt darin, daß der Begriff „Kultur“ in feiner
Ausdehnung ſehr ſchwer zu begrenzen und zu beſtimmen ijt.
Kultur durch ein de>endes deutſches Wort wiederzugeben, iſt
nicht möglich. Ausdrüe wie Gejittung bezeichnen zwar den
Grundzug der ganzen Sache, laſſen aber nicht die Richtungen
erfennen, in denen ſich die Geſittung aus]pricht.“
E38 iſt ein Irrtum, zu behaupten, daß der Begriſſ
„Kultur“ Jo gut wie gar nicht zu beſtimmen ſei. Das Wort
fommt aus dem Lateiniſchen von dem Verb colere (col1ui,
eultum), bebauen, entwideln, pflegen; e8 bedeutet aljo nach
ſeiner etymologiſchen Abſtaminung [Jo viel wie Ausbau, Ent-
wiälung , Veredelung, und zwar ſowohl die auf die Exr-
zielung eines beſtimmten Zuſtande3 gerichtete Thätigkeit,
al3 dieſen Zuſtand ſelbſt. Urſprünglich nur auf die land-
wirtſchaftliche Pflege und Wartung des Bodens bezogen, hat
das Wort im übertragenen Sinne allmählich die Bedeutung
der Aushildung und Eutwiälung des Geiſtes angenommen.
Demnach kann die Kulturgeſchichte eines Volkes nichts anderes
fein, al3 die Entwi>lung3s8geſc<hichte, welc<e die ge-
famten Leben3äußerungen des Volks8geiſtes ver:
zeichnet, alle Faktoren zujammenſtellt, die das innere
Wachstum des Volkes bedingen, und alle Verhältnijje in den
Krei3 ihrer Betrachtung zieht, die aus der Bethätigung der
Geſamtheit dex Volkskräſte reſultieren. Eine eingehende
Darſtellung vom Weſen der Kulturgeſchichte findet ſich in der
„Zeitſc<rift für Kulturgeſ]<i<te“, Bd. 1, Seite 5 |.
von Johs. Fal&e. Seine Ausführungen laſſen ſich im
weſentlihen mit folgenden Säßen zuſammenfaſſen. Die
Kulturgeſ|<ichte zeigt zunächſt, wie das Volk, um das
materielle Wohl zu fördern und ſeine wirtſchaftliche Lage
zu beſſern, der geiſtigen Beherrſchung phyſiſcher Kräfte be-
dar? bei der Gewinnung, wie bei der Verarbeitung und
Nutzbarmachung der Naturprodukte. Dieſe Betrachtung führt
weiter zu derjenigen des Gewerbs8lebens8 und des Handels.
Zum Schuße ſeines materiellen Beſtandes bedarf das Volk
einer Wehrverfaſjung, dur<; welche alfo wiederum phyſiſche
Kräfte unter geiſtiger Herr|<haft dem materiellen Wohle de?
*) Jahrgang 1886, S. 873 ff.
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«ewememaatnt
Volkes dienſtbar gemacht werden. Mit dem geiſtig-materiellen
Wachstum entwickelt ſich das ethiſche Leben, das ein Volk
auslebt in Vereinigungen, zu denen ſich ſeine einzelnen
Glieder zuſammenſchließen. :Z Die erſte und einfachſte dieſer
Vereinigungen iſt die Familie; weitere Kreiſe umſchließt die
Gemeinde, noch weitere der Staat. Dieſe drei Vereinigungen
haben zum Zwe> die Verwirklichung des Rechts und der
Freiheit der Einzelnen und de8 Ganzen im wechſelſeitigen
Verhältniſſe. Andere Vereinigungen einzelnerZ Slieder des
Volke3 haben beſchränktere Grundlagen und ſpeziellere Zwede.
Stände und Genoſſenſchaften werden dur< die gleichartigen
Leben3verhältniſſe ihrer einzelnen Glieder zu einem Ganzen
verbunden; daneben beſtehen Vereinigungen, die durch gleiches
geiſtiges Streben und gleiche ideale Ziele einzelner VolkS-
glieder aus verſchiedenen Lebensverhältniſſen zuſammengeführt
werden. Der Bildung derjenigen Kräfte, die in all dieſen
Vereinigungen zur Erſcheinung und Bethätigung gelangen,
dienen neben den Einflüſſen der Familie beſondere Veran-
ſtaltungen. Dazu gehört in erſter Linie die Schule, die in
ihren verſchiedenen Formen die. Aufgabe hat, denizSinzelnen
für das Zuſammenleben auf der vom Volk geſchaffenen und
entwidelten Grundlage : und für die Mitwirkung bei 7 der
Durchführung der gemeinſamen Intereſſen heranzubilden. An
die Schule ſchließen ſich mancherlei andere Bildungsmittel,
welche die Fortführung in der Löſung jener Aufgabe Über-
nehmen, und unter denen in gewiſſen Perioden die Kirche
obenan ſteht. Aber mit der Darſtellung des Erhaltungs-,
Geſellſ<aft8- und Bildungstriebes iſt die Summe der Voltk3-
fräfte und daher auch der Inhalt der Kulturgeſchichte nicht
erſchöpft. Alle die genannten Organe finden;nicht ihre lezte
Zwebeſtimmung in ſich ſelbſt, ſondern im Leben und in der
Entwiklung des Ganzen. Ohne ein ſtetiges, thatſächliches
Eingreifen in dieſe Entwieklung würden ſie als inhaltloje
Formen erſcheinen, und. daher muß es die Aufgabe des
Kulturgeſchicht3ſchreiber8 ſein, das ZIneinandergreifen aller
jener Organe bei der materiellen, geiſtigen und ſittlichen
Hebung de3 Volkes darzuthun. Daneben müſſen dann aber
auch diejenigen Volkskräfte *zur Darſtellung gelangen, die
zwar ihren Zwe& außerhalb der Zuſammenwirkung jener
Organe finden, aber doch zu ihrem lebenskräftigen Bejtehen
unentbehrlich ſind, nämlich die Syrac<he, die Wiſſenſchaft. und
die Kunſt al3 die Organe de3 rein geiſtigen Leben3 eines
Volkes. Die Sprache iſt auf der höchſten Stufe ihrer Aus-
bildung und Freiheit der ſinnlich wahrnehmbar gewordene
Geiſt de3 Volkes, gleichſam der Geſamtausdruä ſeines inneren
Leben3. Daneben kommt der Volks8geiſt am treffendſten zur
Srſcheinung in der Art und Weiſe, wie da38 Volk die Wiſjen-
ſchaft pflegt, und endlich gewährt die von einem Volke aus-
gehende Art der Kunſtübung einen Bliä in den tiefſien und
reichſten Schaß des Volksgemütes.
Zu dieſer Beſtimmung des wiſſenſchaftlichen Begriffes
der Kulturgeſchichte kommen nun für die Umgrenzung des
Stoffes im Geſchicht3unterricht der Schule al3 grundlegende
Momente naturgemäß * die pädagogiſc<en Forderungen der
Beſchränkung und der Rücdjichtnahme auf die Faſſungskraft
des Ündlichen Geiſtes hinzu. Dieſe Forderungen erheiſchen,
daß au3 dem weiten Gebiete der Kulturgeſchichte in einer
Form, die der Entwilungsſtufe der Schüler angepaßt iſt,
nur dasSjenige dargedoten wird, was von wahrnehmbar
nachhaltiger Wirkung auf da8 Werden und Wachſen
de3 Volkes geweſen und die Entwicklung der Bethätigung
ſeines Geiſtesleben3 in das rechte Licht zu ſtellen geeignet iſt.
In der Schule kann e3 ſich weder um ſpecielle, wiſen]c<aftlich
vollſtändige Fachgeſchi<ten handeln, no< 'um“ Einzelheiten
aus irgend einem Gebiete der Kultur, die für die Weiter-
entwidlung des Volksleben8 von keinem oder nur geringem
Belang ſind. Eine erſchöpfende" Darſtellung 3.. B. der Ge-
ſchichte des Handels, der Sprache, der Muſik kann von der
Volksſchule nicht verlangt werden. Wohl hat die Ent-
widlungsgeſchichte des Volke3, wie ſie dem Schüler darge-
boten wird, alle dieſe Zweige in den Kreis ihrer Betrachtungen
zu ziehen, aber nur in Berücdſichtigung der Anregungen, die