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ſchichtlichen Unterricht das, was biSher aus der politiſchen
Geſchichte im Geſchicht3unterricht geboten worden war, j9
gut wie ganz verdrängen. No< in jüngſter Zeit iſt ein
Werkchen erſchienen, das Biedermanns8 urſprünglichen Stand-
punkt wieder einnimmt und deſſen kulturgeſchichtliche Methode
bis zu ihren lezten Konſequenzen verfolgt, nämlich die
„Deutſche GeſHichte von Weigand und Tedclen-
burg“ (Hannover 1896). Das Buch erregte bei ſeinem erſten
Erſcheinen allgemeine Aufmerkjamkeit, wovon die Thatſache
Zeugnis ablegt, daß es allein innerhalb des erſten Jahres
fünf Auflagen erlebte. Die Verfaſſer gehen von dem Grund-
ſaß aus, daß alle dem praktiſchen Zwe> der Geſchichte die-
nenden Belehrungen im Unterricht die Grundlage bilden und
den Weg weiſen; die dem ethiſchen Zwe> dienenden Stoffe
fügen ſich in jene ein oder bauen ſich darauf auf. Jm Ver-
folg dieſes Grundſatzes wird das Thatſächliche der Geſchichte,
die äußere Entwiklung de3 Deutſchen Reiches und die damit
in Verbindung ſtehende Reihe der Ereignijje und Berjonen
völlig nebenſächlich behandelt, ja zum Teil vollſtändig igno-
riert, während das Zuſtändliche, das ſpeziell Kulturge]chicht-
liche, gänzlich in den Vordergrund tritt. Als Beiſpiel mag
angeführt werden, daß nach dem Buche die Schüler von dem
bedeutungsvollen fränkiſchen Kaiſergeſchlechte nichts als den
Namen erfahren ſollen. Nac Beendigung des Abſchnittes
„Friedrich Barbaroſſa und Heinrich der Löwe“ folgt die
Bemerkung: „Friedrich und ſeine Anverwandten auf dem
deutſchen Kaiſerthrone nennt man die Staufenkaijer. Vor
ihnen haben die fränkiſ<en Kaiſer regiert, von
denen Heinrich IV. beſonders viel in der Ge-
ſc<ic<te genannt wird.“ Alſo ſeldſt der kulturgejc<hicht-
lißh überaus wicgtige Höhepunkt in dem Kampfe zwiſchen
Kaiſertum und Papſttum zur Zeit Heinrich8 IV. bleibt völlig
außer Betracht. Die Belehrungen über die Zeit vom Juter-
reqnum bis zu Maximilian I. werden, abgejehen von der
Erwähnung der Hohenzollern in der Mark Brandenburg,
unter folgenden Kapitelüberſchriften dargeſtellt: Wie da3 alte
Deutſche Reich zerfiel =- Die Bede -- Die freien Städte
-- Die Simonie -- Die erſten Stadt]c<hulen -- Die Herren
gerichte -- Die Fehden -- Die Hanja -- Die Landsknechte.
-- Wirklich zeitgeſchihtliche Thatjachen ſind nur in dem
erſten der genannten Kapitel enthalten, indem dort in zehn
Zeilen Rudolf von Habsburg38 Wirkjamkeit abgethan wird.
Alles andere iſt kulturgeſ<hichtliches Material und jomit
eigentlich mehr Beſchreibung und Reflexion als Geſchichte.
Dr. Ganjen urteilt über das Buch in jeiner Schrift:
„Geſ|<hic<hte und Geſ<ic<htz3unterricht“ (Stuttgart
1897), daß es „einen traurigen Beweis dafür liefert, welche
verzerrten Züge die Geſchichte annimmt, wenn ſie von rein
fulturgeſchichtlihem Standpunkt angeſehen wird.“ Eine
derartige Geſ<icht3behandlung kann unmöglich die hHödjie
Aufgabe des Unterrichts erfüllen, die darin beſteht, ſittliche
Charaktere zu bilden; ſie widerſtrebt aber auc< dem Intereſſe
der Kinder und iſt darum pſy<hologiſc<; nicht zu begründen.
Nur an wirklichen Geſchehniſſen rankt ſich das urſprüngliche
Intereſſe de38 kindlichen Geiſtes im Geſchicht3unterricht empor.
Das Kind will zuerſt Thatſachen hören und fragt erſt in
zweiter Linie nach den begleitenden Zuſtänden und Zeit-
verhältniſſen. LoS3geriſjen von Perſonen und Begebenheiten,
haben rein ſachliche Erörterungen, die ſich auf Vergangenes
beziehen, für die Jugend wenig Wert; erſt in Verbindung
mit den Thatſachen wird das Zuſtändliche anj<aulich und
erwedt Teilnahme. „Beſchreibungen von Zuſtänden“, ſagt
Scolße*), die nur an Ort und Zeit haften, widerjirebt der
Jugend, 1oweit ſe ſich nicht, wie in der Geographie, als
gegenwärtige, alſs noch beſtehende und der Anſchauung zu-
gänglice darſtellen“. Auc< jc<on zum Feſthalten der
<hronologiſ<hen Aufeinanderfolge des dargebotenen Stoffes
iſt ein möglichſt lüFenlofes Fortſchreiten der Handlung in
der Geſchichte für den Schüler notwendig, der ſich jonſt in
ed 0REREREREEEE Vag
- 9 Dr. A. Scholte, Die Kulturgeſchichte im Hiſtoriſchen Unterricht.
Leipzig, 1880).
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dem Wirrſal von Begebenheiten und Zuſtänden nicht zurecht:
finden kann. Wer dieſe WeſenSeigentümlichkeiten der Kindes-
natur im Geſchichtöunterricht nicht beachtet, wird ſicherlich
das Ziel verfehlen, und daher iſt die rein kulturgeſchichtliche
Behandlung des Stoffes für die Schule unbedingt zu verwerfen.
Zwiſchen den beiden extremen Richtungen, von denen die
eine die politiſche, die andere die Kulturgeſchichte überwiegend
betont, ſteht vermittelnd und berechtigt diejenige, welche
heide Zweige der Geſchichte, die nur in ihrem
natürlichen Zuſamwenhange und in ihrer lebendigen
Wechſelbeziehung von Grund und Folge recht be-
griffen werden können, gleichmäßig zu ihrem Rechte
fommen läßt und dadurch dem erwähnten doppelten Zwe
der Geſchichte, dem ethiſchen wie dem praktiſchen, in gleicher
Weiſe dienſtbar zu werden ſucht.
Eine derartige Geſchichtöbehandlung liegt nicht allein
in der Kinde3natur, ſondern auch im Wejen der Geſchichte
begründet. Zm Grunde genommen iſt die Geſchichte eines
Volke8, wie man ſie gewöhnlich verſteht, von der Kultur-
geſ<ichte garnicht zu trennen. Die Geſchichte joll, recht ver-
ſtanden, das geſamte Volksleben umfaſſen, das politiſche,
materielle, wirtſchaftliche, geiſtige und ſittlich-religiöſe. Uns-
leugbar ſtehen alle dieje Seiten des Volks8lebens8 im engſten
Zuſammenhange mit einander; die eine bedingt, hemmt und
fördert die andere; Erſcheinungen auf dem einen Gebiet
haben ſolche auf einem anderen zur Vorausſezung oder zur
Folge. Alle3 Kulturleben verläuft im Staate und häufig
unter deſſen unmittelbarem Einfluß, wie umgekehrt auch faſt
jede Thatfache der politiſchen Geſ<hic<te in ihren leßten
Gründen nur aus Volk und Zeit heraus, wo ſie geſchehen,
erflärbar iſt. Wenn daher ſchon in der Wiſſenſchaft eine
Trennung der beiden Zweige nicht möglich iſt, jo no<
weniger in der Schule, wo Handlungen und Zuſtände, wenn
ſie Leben und Geſtalt gewinnen follen, nur in ihrer innigen
Berührung mit und ihrer Abhängigkeit von handelnden
Perſonen und thatfächlichen Ereigniſſen beobachtet werden
können. Hier wie da ergiebt jich nur durch die lebendige
Verknüpfung der kulturgeſchichtlichen Momente mit der Dar-
ſtellung der äußeren, auf die Ausgeſtaliung des Staates und
feiner Grenzen hinzielenden Thätigkeit des Volies, alo nur
durch die einheitliche Vorführung der geſamten, auf den
mühevollen Aus8bau der ſtaatlichen, wirtſchaftlichen und
geiſtigen Wohlfahrt gerichteten LebenSäußerungen des Volk3-
ganzen ein Geſamtbild von deſen Werden und Wachſen.
Geſchichte iſt Geſchehene3, und daher ſtehen Ereignijje und
handelnde Perſonen im Vordergrunde ſowohl der wiſjen-
ſchaftlichen, al3 der ſchulmäßigen Ge]c<ichtsdarjtelung. Für
leztere iſt es felbſtverſtändlich, daß nicht jede Schlacht zu
beſchreiben, nicht jeder Feldherr oder Fürſt vorzuführen oder
gar auf das Piedeſtal des Helden emporzuheben iſt; wenn
irgendwo, Jo gilt bejonders hier das Gejeß weiſer Be-
ſchränkung, und nur die Hervorhebung des Typiſchen und
Hauptſächlichſten iſt zuläſſig. Aber die äußeren Schidjale
und Erlebniſje des Volke8 in ihrer kontinuierlichen Folge,
die entſ<eidenden Kriege und Schlachten, die hervorragendſten
diplomatiſc<en Erfolge und vor allen Dingen die führenden
Perſönlichkeiten des Volke3 ſind nicht als minder wertvoll
ganz zu übergehen. E3 würde ein ganz falſches Bild von
der Wirklichkeit entſtehen, wenn man die geſchichtliche Ent-
wi>lung einſeitig oder au< nur vorwiegend al35 Kultur- und
Frieden3arbeit einzelner Volksklafſen und Stände ſchildern
wollte. Und die Wirklichkeit gebietet auch die Hervorkehrung
der führenden Perſönlichkeiten. Der Thatendrang der Völker
als wollender Perſonen, als Staaten, führt zu der immer
wiederkehrenden Erſcheinung in der Geſchichte, daß in den
meiſten Fällen nicht die Geſamtheit, ſondern eine hervor-
ragende Perſönlichkeit al3 handelnd auftritt, in der ſich der
bewußte oder unbewußte Volks8wille gleichſam verdichtet.
Dieſe Erſcheinung wird ſtet8 ein Hauptgebiet der Gej<icht2-
wiſſenſchaft und daher auch des Geſchichtsunterrichts bleiben,
wenigſtens ſo lange als die Völker no< nicht zur völligen
politiſchen Selbſtſtändigkeit erwacht jind.