Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

im erſten Kreuzzuge von der Auffindung der, heiligen Lanze 
und der Feuerprobe, durch welche Petrus Bartholomäus 
ihre Echtheit zu erweiſen ſucht, erzählt wird, hat der Ge- 
ſchihtzlehrer eine willkommene Veranlaſjung, einen Bli> 
auf die Gottezurteile des Mittelalters zu werfen. Die 
Belagerung Jeruſalems wird, ohne daß es nötig iſt, die 
Form der fortſchreitenden Erzählung zu unterbrechen, auf 
einfache und natürliche Art ein Bild von der mittelaltex- 
lichen Belagerungsweite ergeben. Man fürchte nicht, durch 
ſolche Einzelheiten den Gang der Geſchichte zu verlangjame2n 
oder den Schüler zu ermüden. Die Ausführlichkeit der 
Schilderung, da3 hiſtoriſch? Detail, auc< das beſchreibende, 
ſolange e3 ſich in den Nahmen der Erzählung hineinfügen 
läßt, iſt das LebenZ3element des jugendlichen Geiſtes, und 
ein Geſchicht3unterricht, dem die epiſche Breite, da3 behagliche 
Verweilen bei Einzelſ<hilderungen abgeht, iſt ein verſehlter. 
Zu ſolchen Schilderungen, die in dem Schüler eine lebendige 
Anſchauung von den Kulturformen der Vergangenheit ſelbſt 
in ihren kleinſten und unſcheinbarſten Zügen entſtehen Laſſen, 
bieten beſonder3 die Ge)<ichtsqueilen ein vorzügliches 
Mittel. Die Beſchreibunz des Mainzer Friedensſeytes durch 
den Abt Arnold von Lübe> oder der Selbſtoeri<t des 
Schweizers Ulrih Bräcker aus jeiner Rekrutenzeit unter 
Friedrich dem Großen ergeben padende Bilder von den 
Zuſtänden der Zeit, aus der ſie jtammen, und laſſen ſich 
bequem in die Geſchicht3erzählung einfügen. In ihrer reichen 
Kleinmalerei bieten derartige Quellen die beſte Anjc<auung 
von allerlei Zügen des Kulturlebens, die gleichjam gelegentlich 
miterfannt werden und im Gedächtnis de8 Schülers als 
begleitende Nebenumſiände der Erzählung um ſo jicherer 
haften. E3 bedarf ſeitens des Lehrer5 oft nur einzelner 
orientierender Fragen, um die Züge herauszuſtellen, ſie zum 
Bewußtſein zu bringen und jo auf konkreter Grundlage die 
beabſichtigten Einzervorſtellungen kulturgeſchichtlichen Inhalts 
im Geiſte der Schüler entſtehen zu laſſen. 
Weil da3 Kind naturgemäß die Erſcheinungen der 
Gegenwart in ihrer äußeren Form auf die Vergangenheit 
überträgt, alſo Benennungen für Dinge aus fernliegender 
Zeit mit einem Vorſtellungsinhalt auszufüllen geneigt iſt, den 
es ſeinem Anſchauungskreiſe entnimmt, iſt darauf Bedacht 
;u nehmen, das, ſobald geſchichtlihe Stofſe im Unterricht 
auftreten, das Kind angeleitet wird, ich in rechter Weiſe 
in die Vergangenheit hineinzuverſezen. Mit anderen Worten : 
der Unterricht muß ſo, früh wie möglich beſtrebt jein, dem 
Schüler eine Anſchauung von den wichtigſten Kulturformen 
der Vergangenheit zu übermitteln. Schon in der Heimat- 
funde iſt ihm an manchen Dingen klar zu machen, daß ſie 
in früheren Zeiten anders ausgeſehen haben als jeßt, und 
daß Menſchen, Dinge und Zuſtände ſich im Laufe der Zeit 
ihrer äußeren Erſcheinung nach geändert haben. Welche 
Menge von Anknüpfung3punkten fich hierfür 3. B. ſpeziell 
in unſerer vaterſtädtiſchen Heimatkunde finden laſen, und 
wie dieſer Unterricht, in dem eigentlich ſämtliche Realfächer 
embryoniſ<; enthalten ſein jollen, beſonder8 in unſeren 
hamburgiſchen Schulen zu einer Art propädeutiſchen Ge]chicht2- 
ünterrict8 werden kann, zeigt Kollege Henße in ſeiner 
„Heimatkunde für Schule und Haus“. Aber auch der 
weiter fortſchreitende eigentliche Geſchichtzunterricht, der 
nach unſerem Lehrplan mit der Darbietung unſerer beſten 
deutſchen Sagen beginnen ſol, kann von Anfang an der 
kulturgeſ<ichtlichen Hinweiſe nicht entbehren. Je weiter die Zeit, 
au3 der die Geſc<hicht3erzählung ihren Stoff nimmt, von der 
unſrigen entfernt iſt, deſto fremdartiger ſind die ſie begleitenden 
Zuſtände und Verhältniſſe, und um jo nötiger iſt daher auch 
die Erzeugung richtiger und ſachgemäßer Vorſtellungen. „Wer 
cruſtlih gewillt iſt“, ſagt Göpfert*) in der Einleitung zu 
ſeiner Behandlung der Thüringer Sagen, „den Zögling in 
andere Zeiten zu verſezen und ihm den Umgang mit verz 
gangenen Geſchlechtern zu ermöglichen, der muß darauf 
 
 
. 2) R. Staude und A. Göpfert, Präparationen zur Deutſchen Ge- 
ſchichte (DreL8den, 1890), 1. Teil. 
 
 
beda<t ſein, von Anfang an die größte Klarheit ob- 
walten zu laſſen. Man tröſtet ſich oft damit, daß eine 
ſpätere Stufe das volle Verſtändnis bringen werde; dieier 
Troſt mag hier und da am Rlaße ſein; aber ſicher iſt auch, 
daß durch anfängliche Verſäumnis der Grund gelegt wird 
zu vielen fortwährenden Mißverſtändniſſen und Unklarheiten.“ 
Welches Bild würde wohl in den Köpfen unſerer zehnjährigen 
Jungen entſtehen, wenn die Nibelungenſage ohne Vermittlung 
eine3 Bilde3 von dem kulturgeſchichtlichen Hintergrund vor- 
geführt würde, auf dem ſie erwachſen iſt? Wenn das Kind 
nicht mit der Erzählung zugleich die Vorſtellung von Rittern, 
Rüſtungen , Kampfſpielen, Gefolgsmannen ujw. empfängt, 
fann e3 wohl vorkommen, daß der kleine Zuhörer jich Hagen 
von Tronje in preußiſcher General3uniform denkt. Wird 
dagegen rechtzeitig überall das fulturgeſchichtliche Milieu bei 
der Darbietung des Geſchichtsſtoffes beachtet, dann werden 
bereits auf der Mittelſtufe eine Menge Einzelheiten aus dem 
Kuliurleben vergangener Tage gewonnen, an die jpäter im 
ſyſtematiſchen Geſchichtöunterricht als appercipierende3 Vor- 
ſtellungsmaterial angeknüpft werden kann. 
Auf allen Stufen des Geſchichtöunterricht38 müſen die 
kulturgeſchichtlichen Momente in ununterbrochener Verbindung 
mit den geſchichtlichen Perſönlichkeiten und Begebenheiten 
pleiben, weil die Hineinfügung der Kulturer|<heinungen in 
da3 geſchichtliche Bild, das der augenbliälichen Behandlung 
unterliegt, zunächſt die Hauptſache iſt. Aber man darf bei 
dieſer gelegentlichen Erörterung kulturgeſchihtlicher Fragen 
nicht ſtehen bleiben; vielmehr muß das im Laufe des Unter- 
richts verſtreute Material auf der Oberſtufe an geeigneter 
Stelle geordnet und zu Geſamtbildern vereinigt werden, damit 
die Einzelmomente auch zu einer Verknüpfung unter einander 
gelangen. Wohl iſt die allmäbhlige Herbeiſ<haffung des 
Material3 die Hauptſache; aber es iſt zu bedenken, daß bei 
der fortwährenden Durchdringung der politiſchen Geſchichte 
mit fulturbiſtoriſ<en Momenten die Schüler allmählie?) in 
den Beſiß 1o zahlreicher Einzelvorſtellungen gelangen, daß ſie 
wohl imſtande ſind, unter der Vorausjehung um- 
faſſendſter Seldſtthätigkeit am Schluß größerer Ge- 
ſchicht3abſchnitte die wichtigſten dieſer Einzelheiten zu 
Geſamtbildern zu verarbeiten. Natürlich kann es 
ſicß dabei nur um die bedeutſamſten Kulturformen einer 
Epoche handeln, die mit ihren Veräſtelungen und Verzweigungen 
bis in die Gegenwart hineinreichen. Die einzelnen Momente 
3. B., die aus der Entſtehung und dem Wachstum der 
Städte im Verlauf der Geſchichtsbehandlung gewonnen worden 
ſind, ergeben in ihrer (etwa unter Zugrundelegung des 
Lehmannſc<en Stadtbildes) vorzunehmenden Verknüpfung 
eine lebendige Geſamtanj<auung von der mittelalterlichen 
Stadt in ihrer äußeren Erj<heinung und in ihrem inneren 
Leben, die ſich zu dauerndem Nutzen um 19 mehr einprägt, 
als e3 ſi< dabei nur um das Sammeln und Ordnen, alſo 
um die Wiederholung eine8 längſt belannten, Ichon ver- 
arbeiteten Material3 handelt. Solche Kulturbilder laten 
ſich ferner zuſammentragen über Handwerk und Handel, über 
das Rittertum, das Heerweien, den Aberglauden, das Ge- 
richt3weſen, die Entwieälung der Volksſchule, den Bauern- 
ſtand uſw. Sie ergeben förmliche Längs|<hnitte durc< die 
geſchichtliche Entwi>lung der bedeutjamijten kulturellen Einzel- 
faktoren und ſind als repetierende Überſichten anzuſehen, 
dur< welche ein immer tieferes Verſtändnis für die Er- 
ſcheinungsformen der Gegenwart, alfo für das Werden und 
Wachſen de3 Volkslebens angebahnt wird. 
Zur Frage der ethiſchen Erziehung. 
Der in pädagogiſchen Kreiſen bereits durch ſein „Syſtem 
der Pädagogik im Umriß“ bekannte Gymnaſialdirektor a. D. 
Prof. Dr. A. Döring - Berlin hat ein „Handbuch der 
menſ<lich-natürlichen Sittenlehre für Eltern und 
Erzieher“ in Fr. Frommanns Verlag (E. Hauſſ). Stutt- 
gart, erſcheinen laſſen. Der Verfaſſer bezeicdnet ſein Buch
	        
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