al3 „Einen Verſuch im Sinne der von der deutſchen Geſell-
ſchaft für ethiſche Kultur geſtellten Aufgabe“. Ende März 1894
hatte dieje Geſellſ<aft einen Preis auf Abfaſſung eine3
Handbuchs geſeßt, „das Eltern: und Erzieher anleitet, frei
von trennenden Vorausſezungen religiöſer oder metaphyſtſcher
Art freien ethiſchen Unterricht zu geben“. Zur Charakteriſtik
des Inhalt8 de8 Buches bieten wir im Folgenden eine Reihe
Auszüge aus demſelben. „Cine geſunde, dem modernen
Kulturleben entſprechende und eine wirkjame, d. h. im
Leben ſtandhaltende ſittliche Erziehung kann nicht auf
religiöſer, ſondern nur auf menſchlich-natürlicher Grundlage
aufgebaut werden. Der zujammenhängende lehrhafte ethij<e
Unterricht hat etwa vom zwölften LebenSjahre an einzutreten
und iſt der abſchließende Teil der ſittlichen Ecziehung. Er
Hezieht ſich ganz und gar auf die ſittliche Lebensführung des
Erwachſenen. Der Stoff für den lehrhaften ethiſchen Unter-
richt iſt im erſten Hauptteil des Handbuchs gegeben. Diejem
Unterricht ſind mancherlei vorbereitende Einwirkungen auf
die Jugend vorauszuſ<hifen. Schon vom erſten Leben3-
augenblie des Kindes an iſt dieſe Vorbereitung zu treſſen.
E53 iſt zunächſt auf die gegenwärtige Lebensführung des
Kinde3 einzuwirken, indem das Verhalten des Kindes als
Kind im ſittlichen Sinne geregelt und geleitet wird. Die
Regelung des jugendlichen Berhalten3s iſt zugleich die Grund»
lage zur ſittlichen Ausbildung für das erwachſene Leben.
Do<h bedarf es neben der indirekten Vorbereitung auf den
lehrhaften ethiſchen Unterricht eines ethiſchen Anſc<hauungs-
unterricht3 in Bezug auf die Lebensführung der Erwachſenen.
In Form der Vorführung von Einzelzügen des ſittlichen
Lebens an der Hand von Erzählungen, Gedichten mit daran
geknüpften Belehrungen, Mahnungen kann dem entſprochen
werden. = Die ſtaatlihe Schuie iſt dem Handbuch der
natürlich-menſc<hlichen Sittenlehre heute noch ver-
I<loſſen. Seine Gedanken haben mit der Ungunſt und Ver-
fiändnisloſigfeit der leitenden Kreije zu kämpfen. = Das
Handbuch will Zeugni8 ablegen für die Notwendigkeit
und Möglichkeit einer tiefer gehenden, zum höchſten Maße
der Wirkſamkeit geſteigerten ſittlichen Erziehung und zwar
dies ohne Zujammenhang mit der Religion, auf men] <lich-
natürlicher Grundlage. =- Dem religiöſen Vorurteil er) <eint
eine von der Religion losgelöſte, auf die natürliche Einjicht
und die natürlichen Kräfte de Menſchen gegründete Sitten-
lehre als völlig Unerhörtes. E35 kann vermeintlich ethiſcher
Unterricht nur mit ReligionZunterricht verbunden auſtreten.
Sind doch die ſittlichen Vorſchriſten Offenbarungen des gött-
lichen Willen38, an ihre Befolgung jind Gottes Belohnungen
und Strafen im Diesſeit3 und Jenſeit3 geknüpft. = In
Wirklichkeit giebt die mit dem Religionzunterricht verknüpfte
Sittenlehre weder ausreichende Auskunft über da3 ſittliche
Verhalten ſelbſt noch auch in Bezug auf die verpflichtende
Kraft, die Verbindlichkeit des ſittlichen Handelns. =- Schon
die Vielheit der religiöſen Gemeini<haften, Kirchen, Konſe) ſionen,
Richtungen, Parteien, die ſich gegenſeitig verwerfen, läßt
die religidje Sittenlehre bedenklich erſ<heinen. Die gegen-
ſeitige Nichtanerkennung der religiöſen Gemeinſchaften er-
fchüttert das Anjehen der auf jo wider]prechende Glauben3-
ſätze gegründeten Sittenlehre. =- Ein auf biblijcher Grund=-
lage erteilter Religion3unterricht bietet weder in Bezug auf
den Inhalt der ſittlichen Vorſchrift noc< in Bezug auf ihre
Verbindlichkeit eine genügende Grundlage des ſittlichen Lebens.
Die religiöſe Sittenlehre iſt hinſichtlich des Inhalt3 und der
Vollſtändigkeit der ſittlichen Vorſchrift vielfach verwirrend,
jedenfalls unzulänglich. Kritijche Beſprechung der Geſchichte
vom Sündenfall (S. 8 [|.), der Geſeßgebung am Sinai
(S. 11 f.), de3 Gebotes Gotite3 der blutigen AuSrottung
der Bewohner eines den Js8raeliten geſchenkten Landes (S. 12).
In anderer Weiſe erregen neuteſtamentliche <riſtliche An-
ſ<auungen hinſichtlich des Moralunterricht3 Bedenken (S. 13f.)
Ein natürliches Gefühl läßt 19 manche ſittliche Forderungen
der Evangelien dem Kinde als extreme und zu unlerer
ganzen Gejellſchaft2ordnung in Widerſpruch ſtehende eri<einen,
die e8 auch nirgends und von niemandem befolgt ſieht.
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(S. 14 f.) Weitere kritiſche Beſprechungen richten ſich gegen
den an das erſte Hauptſtü> des Lutheriſchen Katechi8mus
gefnüpften herkömmlichen ethiſchen Unterricht (S. 15 f.).
E53 iſt der hier aufgeführte Pflichtencodex ein völlig unvoll-
fommener, „e3 kommt nicht zum Entwurf eines Ganzen der
ſittlichen Lebensführung“. „Die erhiſche Belehrung verkümmert
über der Einſchärfung der religiöſen Pflichten zu einem
geringfügigen Beſtande von Einzelvorſchriften“. „Die ethiſche
Belehrung im erſten Hauptſtü> iſt unzulänglich, ſie vermengt
die ſittlichen Pflichten mit den religiöſen und iſt in einzelnen
Punkten direkt irreleitend“. (S. 17).
Aber auch in bezug auf die Verbindlichkeit der
ſittlichen Vorſchrift iſt die religiöſe Sittenlehre unzulänglich.
(S. 17.) Mit der Erſchütterung und dem Unwirkjam-
werden der religiöſen Grundlage fällt auc< der darauf
ruhende Bau der ſittlichen Verpflichtung zujammen. Änge-
ſicht3 der weit verbreiteten Abſage an Religion (und Kirche)
wird die religiöſe und damit die ſittliche Verpflichtung hin-
fällig. E3 tritt völliger ſittlicher IndiſſerentiSmus ein. --
Und ſo bedarf unjere Zeit dringend der Begründung der
von den Wechſelfälen der religiöſen Überzeugung unab-
hängigen ſittlihen Pflicht. Sowohl in Bezug auf beijere
nttliche Erkenntnis, al8 auf kräftigere Begründung der jitt-
lichen Pflicht bietet ſich die natürlichzemenſc<liche Sittenlehre
als wirkſamerer Erfas an. Jhre Vertreter erwarten von ihr
eine höchſt wirfjame Verbeſjerung der jütlichen Erziehung.
Die natürlichemenſchliche Sittenlehre leitet die ſittliche Vor-
ſchrift nicht aus göttlichen Geboten ab, jondern aus einer
natürlichen, jedem jofort einleuchtenden Vorſtellung des
Rechten und Geziemenden. Sie begründet die ſittliche Ver-
pflichtung nicht auf Androhungen göttlicher Strafen und
Verheißungen göttlicher Gnaden, ſondern auf die Antriebe
zum Guten, die ſich in der men]<lichen Natur und in den
Beziehungen des Einzelnen zur (Sejell)chaft finden, vornehm-
lich aber auf da3 Bedürfnis de3 Men|<en na< wahrer
Befriedigung und Glüdſeligkeit. =- JInmitten der Viel-
geteiltheit religiöſer Gemeinſ<aften mit ihren bejonderen
moraliſchen Verpflichtungen gerät der ſttliche Geſamtzuſtand
im Staate in eine bedenklich unſichere Lage. Der Staat
muß markten, wie weit nach links er noch den religiöſen
Vorſtellungskreis als wirkungskräftig zur Erzeugung getell-
ſchafterhaltender Geſinnungen gelten layen kann. -- Der
freidenfende ProteitantiSzmus wird nach Möglichkeit aus
Kirche und Schule binausgedrängt; der Pantrheitt er|<eint
ihm nicht mehr tauglich für die jtaatzerhaltende Aufgabe;
dem Diſſidenten muß jein Baterrechi verkürzt werden.
Der Staat ſteht hier vor dem Vroblem, ein Mindeſtmaß
des no< wirkſamen religiöſen Glaubens aufzuſtellen. Es
wäre für Staat und Geſellſchaft ein großer Gewinn, wenn
der notwendige Zwe> der Verſittlihung auf andere Weiſe
-- (al3 durch religiöſe Morive) =- wirkjamer erreicht werden,
wenn aus den Tiefen der Menſchenſeele ſelbſt auf
natürliche Weiſe da3 Ethiſ<e abgeleitet werden künnte,
wenn den zaghaften Gemütern, die immer Leteuern: „es geht
nicht ohne die Glaubensſätze“, zu zeigen wäre, daß e2 do<
anders geht und ſogar viel beſjer gebt. (S. 21)
-- Das vorliegende Handbuch hat zu erweiſen, daß der
Programmſaß der Sozialdemokratie oine Wahrheit werden
kann: „Religion iſt Privatſache“, d. h. der Staat iſt religions-
[o3, aber nicht religion3widrig und religionsfeindlih. Wäre
das vollkommene Handbuch vorhanden, ſo wäre die unauf=-
Ichiebbare Aufgabe geſtellt, nunmehr die ſittliche Bildung der
Jugend nicht mehr zwangs3weiſe auf unzulängliche Glauben3-
jäte, ſondern auf Prinzipien zu gründen, die in der Men|<en-
natur Jelbſt ihren unerſ<hürterlichen Halt finden. Der Staat
wäre dann verpflichtet, die Schule völlig von jedem Maße
und Grade dez kirchlihen Einfluſſes, der kirc<lichen Bevor-
mundung zu befreien und als eine rein weltlich-rmen]<liche
Einrichtung zu geſtalten. (S. 23.) An dieſe den prinzipiellen
Standpunkt des Verfaſſers in der Einleitung jeines Hand-
buches kennzeichnende Ausführungen ſchließt "ſich der „den
Stoff des ethiſchen Unterrichts“ enthaltende erſte Haupt: