Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet, 
Und der erſte Bettler ſteht bekleidet. 
Auch das „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“ kann ich troß 
der richtigen Anmerkung, daß hier „Gia“ nicht etwa „Eia 
popeia !“ bedeutet, nicht für ein beſonders glückliches poetiſches 
Requiſit erachten. =- Das „fallende Laub“ bei Mühler ſtört 
mich weniger als meinen Herrn Gegner, wenngleich ohne 
Frage feine Bäume im Dom wachſen. Wir haben es hier 
mit einer ſprichwörtlichen Redensart zu thun, die e8 dbe- 
fkanntlih mit der Örtlichkeit niht allzu genau nimmt. 
Übrigen3 finde ich den betreffenden Vers: 
Man hätte mögen hören jet wohl ein fallend Laub 
nicht ungelenk, ſondern im Gegenteil äußerſt geſchi>t gebildet, 
da derſelbe das Zögernde, gewiſſermaßen das Stillſtehen der 
Zeit in diejem bedeutungsvollen Augenbli> ſymboliſiert. 
Auch das Bild von den „ſich beugenden Herzen“ iſt viel 
weniger bedenklich als Meyers: 
Heute, da die Himmel niederſchweben, 
Wird dem Elend und der Blöße 
Mäntel er und warme Röce geben. 
Da fällt do<; die himmliſche Poeſie zum Schluß in recht 
bhausbacene Proſa hinein, ſozuſagen in ein veritables Kleider- 
Magazin. 
Jett zur Hauptſache. Die weſentlichjten Einwürfe des 
Herrn Dr. B. jIc<einen mir folgende zu ſein. 
1. Meyers Gedicht iſt konzentriercer und 
Mühler enthält mehr Beiwerk, mehr Überflüſſiges. 
2. Meyer <aratkteriſiert die Weihnacht3zeit beſſer. 
3. Meyer wirkt weit mehr durch reinmenſ<li<he Mittel, 
während Mühler ein ganzes Regquiſitorium kirchlichen Hand- 
werk3zeuges gebraucht. 
Ad 1. behaupte ich zunächſt: Meyer3 Gedicht iſt 
freilich kürzer, dagegegen bietet Mühler einen reicheren JIn- 
halt. -- I< will verſuchen, den Inhalt beider Gedichte in 
möglichſt knappen Worten wiederzugeben; dadurch wird die 
Sache anjc<haulicher. 
1. Mühler: Kaiſer Otto, aus ſiegreichem Feldzuge gegen 
jeinen Bruder heimnkehrend, begeht mit ſeinen Getreuen im 
Dome zu Quedlinburg die heilige Weihnacht. Es iſt Mitter- 
na<t. Da3 Meßopfer wird dargebracht; alle beugen betend 
die Kniee. Da erſcheint Heinrich, Otto8 Bruder, im Büßer- 
gewande. Er wirft ſich vor dem Bruder nieder, bekennt 
ſeine Schuld und bittet um Verzeihung. Strenge verweigert 
ſie der Kaiſer, nnd keiner aus ſeiner Umgebung wagt es, 
den ſchwer Gereizten verſöhnlich zu ſtimmen. Da naht ſich 
ihm der Abt, die Bibel in der Hand. Er mahnt den Kaijer 
an da8 Gebot Jeſu, dem Bruder ohne Maß zu verzethen. 
Tief ergriffen, leiſtet Otto dieſer Mahnung Folge, und alle 
werden jubelnd Zeugen feiner Sinnes8änderung. 
U. Meyer: Kaijer Otto feiert Weihnacht im Dom. 
Er teilt unter die zahlreich erſchienenen Bettler Kleidungsſtü>e 
aus. Einer ergreift ſeinen Purpurmantel. ODtto wehrt den 
Zudringlichen ab; dieſer giebt ſich als ſeinen Bruder Heinrich 
zu erkennen. Er mahnt ihn an die gemeinſame Abſtammung 
und Kindheit, bekennt ſeine Schuld und rührt de3 Bruder3 
Herz, indem er auf die im Kerker erlittene Kälte hinweiſt. 
Wieder ertönt das Flehen der Bettler. Otto bekleidet feinen 
Bruder mit dem Purpur. 
Der Leſer möge nun Jfelbſt urteilen. Weiter behaupte 
iM, daß Meyers Gedicht, troß feiner kürzeren Faſſung, mehr 
Überflüſſiges enthält als das Mühleriche. Die vielen 
Strophen (ca. 7 von 13), in welchen Heinrich feinen Bruder 
anfleht, bilden eine viel zu langg Rede. Nac<h meinem Ge- 
fühl wiegt die eine Strophe bei Mühler ſie alleſamt auf. 
Vergegenwärtigen wir uns die Situation: Reuevoll, tief er- 
j<üttert, den Tod vor Augen, fleht der knieende Bruder an 
geweihter Stätte um Erbarmen. Zn ſfolc<er Lage werden 
Ichwerlich längliche Reden gehalten, noh dazu mit allerlei 
rhetoriſ<em Schmu verbrämt, wie: 
ſtraffer ; 
70 
 
Da du dich krönteſt, 
Hai des Neide3 Natter mich gebiſſen ! 
Mit dem Lügengeiſt im Bunde 
Hab ich dieſe3 deutſche Reich zerriſſen ! 
Überflüſſig, ja unnatürlich finde ich ferner das nach Heinrichs 
Rede ertönende Geſchrei der Bettler: „Gieb uns Mäntel! 
Gieb uns Röcke!“ Das erlauben ſich dieſe Herrſchaften, 
nachdem ſie die erſchütternde Szene ſoeben miterlebt haben! 
Wieviel beſſer iſt die Wirkung auf die Umgebung der Brüder 
von Mühler gezeichnet : 
Ein lauter Ruf der Freude iſt jubelnd ring8 erwacht, -- 
Nie ſchöner ward begangen die heil*ge Weihenacht. 
Ad 2. Das Mühlerſche Gedicht joll weniger als das 
andere den Charakter der Weihnachtszeit widerſpiegeln. Jc<h 
ſollte aber meinen, daß Mühler ſie ſehr deutlich als die 
gnadenbringende erſcheinen läßt, als eine Zeit, die den 
Menſchen mehr al3 jede andere weich und verſöhnlich ſtimmt. 
Dieſe, aus der Vergegenwärtigung der göttlichen Barmherzig- 
keit heraus8geborene Weihnachtsſtimmung kommt bei Mühler 
ſehr wohl zum AusdruFs. Darin, daß auch der ſtrenge 
Kaiſer ſich vor dem Allerbarmer beugt, liegt ein wohl zu 
beachtende8 Moment. Sein Herz wird durc< dieje Demütigung 
in der Chriſtmacht milder, den der Verjöhnung entgegen- 
Fommenden Regungen zugänglicher. Jſt das nicht auch 
Weihnachtsſtimmung ? -- 
Ad 3. Herr Dr. B. bemängelt die „Kirchen-StimmungSs3- 
zugaben“ bei Mühler, die Meyer gänzlich (?) ver) <mäht. 
Demgegenüber iſt erſten8 darauf hinzuweijen, daß bei beiden 
Dichtern der ganze Vorgang ſich im Gotte3hauſe während 
de3 Gotte3sdienſte3 abipielt. Kirchenſtimmung muß alſo not- 
wendig in dem Leſer erzeugt werden, und daß dazu von 
beiden Dichtern Chorgejang und Andacht, von Mühler außer- 
dem noc< Glod&enklang, Orgel, Geiſtliher und Bibel ver- 
wendet werden, kann ich nicht als fehlerhaft erkennen; denn 
das alle3 gehört nun einmal zur Kirche. --- Bei Mühler iſt 
übrigens die Hauptfache nicht, daß der Abt aus der Bibel 
lieſt, jondern was er lieſt. Meine38 Erachtens iſt es ein 
beſonders glüdlicher Griff de8 Dichters, daß er den Prieſter 
die Stelle von der 1<rankenlo8 vergebenden Bruderliebe 
wählen läßt. Dieſe Bibelſtelle Matth. 18 hat mit der Kirche 
garnichts zu thun. Sie bietet einen jo |<önen, reinmenſc<- 
lichen Inhalt wie nur möglich. Alſo iſt im leßten Grunde 
bei Mühler nicht weniger al8 bei Meyer das Reinmen/<- 
liche -- oder, was auf das1telbe hinausläuft, das Allgemein= 
<hriſtliche -- die Macht, welche auc< das trozige Menſc<en- 
herz überwältigt und bezwingt. 
Und ſomit hat auch der Dichter Heinrich Mübler das 
Rechte getroffen. Chr. Hamann. 
Aus der Begründung des Entwurf3 eines 
Unterrichtsgeſetze3.“) 
Über ein bisSher beſtehende Vorrecht der Geiſt- 
lihen und Kandidaten beißt e3 in der Begründung zu 
8 21 und 22: Durch die Beſtimmung des 8 22 Ahbſ. 3, 
im Zuſammenhange mit 8 21 Abſ. 1, wird da3 biber für 
die hieſigen Geiſtlihen und Predigtamtskandidaten Übliche 
Privilegium, ohne beſonderen Nachweis ihrer Befähigung 
auch anderen Unterricht al3 den in der Religion3lehre er- 
teilen zu dürfen, nicht weiter in Kraft gelaſſen. Dieſelben 
werden künftig nur unter den gleichen Bedingungen zur 
Unterrichtserteilung zugelaſſen werden können, wie andere 
Lehrer (vergl. 2 24). 
Über die Entwi>lung der Schulſynode ziebt die 
Begründung einen kurzen geſchichtlichen Rüsbli> und fährt 
dann fort: „Es läßt ſich gewiß nicht verkennen, daß die 
Synode nicht in allen Beziehungen den Erwartungen ent- 
*) VergleiHhe in Nr. 6 den Geſetzentwurf ſelbſt und in Nr. 7 die 
Schularzt und Schulgeld betreffenden Abſchnitte der Begründung.
	        
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