Full text: Hamburgische Schulzeitung - 8.1900 (8)

 
Eine Wochenſchrift für die Nngelegenheiten des Unterrichts, 
.* 
Schulzeitung 
 
 
der Erziehung und des LCehrerſtandes. 
Schriftleitung: 
4. Struve, Hamburg-Eilbes, 
Jungmannſtr. 21, p. 
Herausgegeben 
von Lehrern und Lehrerinnen. 
Kommiſſionär SB. Reßler, Leipzig, Seepurgſtr. 40. 
Verlag: 
Shröder & Jeve, Hamburg, 
el. Reichenſtr. 9-11. Fſpr. 2080. 
 
Die Hamburgiſche Schulzeitung erſcheint jeden Mittwoch in einem Bogen Großquartformat zum Preiſe von 1 Mark 50 Pfg. für das Vierteljahr. 
Beilage: Die monatlich erſcheinende Jugendſchriften-Warte, Schriftleiter 5. Wolgaſt. Beſtellungen nehmen außer den Derlegern, alle 
Buchhandlungen, Zeitungsgeſchäfte und Poſtämter an. -- Beiträge ſind an die Schriftleitung, Bücher zur Beſprechung an Herrn Hauptlehrer Martens, 
Bamburg-St. Georg, Baumeiſterſtr. 8, zu ſenden. Unzeigen werden für die Petitzeile von 63 mm Breite mit 20 Pfg., Beilagen nach Übereinkunft 
berechnet. -- Poſt- Liſte Ur. 3188. -- Klagen über unpünktliche Zuſtellung ſind gefl. ſofort dem Verlage mitzuteilen. 
 
 
 
8. Jahrgang. 
Inhalt: Die Grundlagen der künſtleriſchen Erziehung. Von F. Hone- 
brinker. -- Aus Hamburg. -- Aus Altona. -- Verein3 - Anzeiger. 
--“ Familien - Anzeige. 
 
Die Grundlagen 
der künſtleriſchen Erziehung. 
Die hieſige „Lehrervereinigung zur Pflege der künſtleriſchen 
Bildung“ vertritt den Sa3: „Die Erziehung zum Kunſt- 
genuß muß gleichberechtigt neben der intellektuellen und 
moraliſc<en Erziehung ſtehen.“ 
Um bei der Beurteilung der Beſtrebungen der „Lehrer- 
vereinigung zur Pflege der künſtleriſchen Bildung“ und der 
hieſigen „Jugendichriften-Kommiſſion“, ſoweit le3tere dasfelbe 
Ziel verfolgt, auf einigermaßen feſten Boden zu gelangen, 
wird es unbedingt nötig ſein, der hier gebräuchlichen Form 
der Verſtändigung, der Sprache, einen feſtumgrenzten Inh alt 
beizulegen und das Kunſtwerk der Sprache nicht zu erniedrigen 
durch die Auslegung, hier wie überall in der Künſt könne 
die Form dieſelbe Wertſ<häßung erfahren wie der Inhalt. 
„Das äſthetij<e Intereſſe iſt vornehmlich Freude an der 
Form“, jo ſchreibt H. Wolgaſt*). Dagegen meint Goethe : 
Nicht die |Ic<hönen Formen waren der Hauptzwe> der (griechiſchen) 
Kunſt, ſondern dieſe entwi>elten ſich umgekehrt nur aus dem 
Geiſte derſelben al8 notiwwendige3 Mittel zum Ausdruc> ſchöner 
Gedanken.“ Die Künſtler können alſo der ſchönen Gedanken, 
des Inhalts, bei aller Sorgfalt, ſie in ſc<höne Formen zu 
gießen, nicht entraten, und man iſt verſucht, die Kunſt 
objektiv verſinnlic<ßte Gedanken, ſubjektiv als das vergebliche 
Bemühen, der Natur galeichzukommen, zu <Harakteriſieren. 
Das äſthetiſche Intereſſe iſt beim Künſtler während 
jeine8 Schaffen3 gepaart mit dem intellektuellen und mehr 
als das: die Form iſt abhängig von ſeinem Seeleninhalt, 
dieſer iſt das Urſprüngliche, die Form iſt da38 Sekun- 
däre. Sollte e3 beim Beſc<hauer des Kunſtwerks anders 
jein ? Die Trennung zwiſchen künſtleriſ<er und der übrigen 
Anſchauung, welche ſich in dem Saße von H. Wolgaſt au3- 
jpri<t: „Der äſthetiſc<e Genuß beginnt erſt da, wo eine 
ununterbrochene Erfaſſung des Gedankens ſtattfindet“, ift 
jowohl beim Künſtler als beim Beſchauer eine kaum wahr- 
nehmbare; die künſtleriſ<e Erziehung kann darum nicht 
Yoliert neben der intellektuellen betrieben werden. „Die- 
jenigen, welche ſich der Leitung des Gefühls blindlings 
anvertrauen, können von der Schönheit keinen Begriff 
*) Siehe „Das Elend unſerer Jugendlitteratur.“ 
Mittwo, den 14. März 1900. 
 
Ur. 11. 
erlangen, weil jie in dem Total des ſinnlichen Eindru>äs 
nichts Einzelnes unterſcheiden; die andern, welche den 
Verſtand ausſc<ließlih zum Führer nehmen, können nie 
einen Begriff von der Schönheit erlangen, weil ſie in 
dem Total derſelben nie etwa3 andere3 als die Teile fehen 
und Geiſt und Materie auch in ihrer vollkfommenjien Einheit 
ihnen ewig geſchieden bleiben.“ (Schiller) -- „Der größte 
Fehler, den man bei der (künſtleriſchen! Ref.) Erziehung zu be- 
geben pflegt, iſt dieſer, daß man die Jugend nicht zum eigenen 
Nachdenken gewöhnt.“ (Leſſing.) Leſſing vermag die 
künſtleriſche Bildung nicht neben die intellektuelle zu ſellen 
oder wohl gar den „Kunſigenuß al3 die edelſte Lebensfreude“ 
anzupreiſen, wie es die hieſige Jugendſchriften = Kommüiinon 
thut. Er ſchreibt: „Der Endzwe> der Künſte ijt das Ver- 
gnügen, der Endzwe&s der Wiſſen]<aſt iſt Wahrheit, und das 
Vergnügen iſt entbehrlich.“ So iſt die Kunſt eni- 
behrlic< ? Und die künſtleriſche Erziehung und anderes mehr 
entbehrlich ? 
„Wir wollen ein genußfrobe3 Geſchlecht erziehen.“ 
(S. Wolgaſt.) Schiller ſieht in der Trennung von Arbeit 
und Genuß ein Zeichen de8 Verfalle3: „AuSeinander 
geriſſen wurden der Staat und die KirG&e (bei den Griecßen), 
die Geſetze und die Sitten; der Genuß wurde vonder 
Arbeit, das Mittel vom Zwecd, die Anſtrengung von der 
Belohnung geſchieden . . . In der That muß es Nachdenken 
erregen, daß man beinahe in jeder EpoGe der Geſchichte, 
wo die Künſte blühen und der Geſc<hmacC regiert, die 
Menſ<<heit geſunken findet und auß niGt ein ein: 
ziges Beiſpiel aufweijen kann, daß ein hoher 
Grad und eine große Allgemeinheit äſthetij Her 
Kultur bei einem Volke mit politiſ<er Freiheit 
und bürgerlicher Tugend, daß ſ<öne Sitten mit 
guten Sitten und Politur des Betragens mit 
Wahrheit de3felben Hand in Hand gegangen wäre.“ 
Und troß alledem! Wenn die naturgemäße Entwi- 
lung der Seelenanlagen auf dieſes Ziel hinausläuft, dann 
hat die wirkliche Erziehung, die in der „Pflege“ vorhandener 
Anlagen und nicht in der Abrichtung auf einen Zwe hin 
ihre Aufgabe erbli&t, an dem tragiſG;en Ausgang der 
Volk3entwiälung keine Schuld. Doh darüber, ob das Ziel 
der Natur in der Entwilung der Seelenanlagen mit dem 
vom Menſchen geſeßten Ziel übereinſtimmt, iſt die Wiſſen- 
Ichaft mit ſich ſelber uneins. Die Grenze zwij<en Bildung 
und Dreſſur iſt no< nicht gezogen. Nur eine künſtleriſche 
Anlage der Seele ermögäüiht eine wahrhaft künſtleriſche 
Ausbildung, wie die intellektuelle und moraliſche Seelenkraft 
die Grundlagen zur intellektuellen und moralij<hen Erziehung 
bilden muß. Drei gleichwertige, felbſtändige 
Erziehungs8ziele ſeßen drei glec<hwertige, felbſt-
	        
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