Full text: Hamburgische Schulzeitung - 23.1915 (23)

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liebten Stücke nicht ein Spiegelbild unſerer Zeit, Gott - 
ſei dank nicht. Mögen die Herren, die ſo etwas glauben, 
erſt einmal lernen, den Geiſt unſerer Zeit und unſeres 
Bolkes recht verſtehen. Ueberdies haben zahlloſe der modernen 
Stücke mit Kunſt nichts zu tun. Die Bühne hat jeden 
falls nicht die Aufgabe, Wertloſes und Unwürdiges dem 
Publikum vorzuführen. Aber wer ſoll darüber entſcheiden, 
was wertlos, was unwürdig iſt? Ic<h denke, zunächſt 
die Bühnenangehörigen ſelbſt. Im Dienſte der deutſchen 
Bühnen ſtehen 20-- 25 000 Männer und Frauen, zum 
Teil mit vorzüglicher Bildung auch aus den höchſten Ge- 
ſellſchaftskreiſen. Städtiſche Behörden, reiche Privatperſonen 
und Fürſten gewähren den Bühnen ihre Unterſtüßung. 
Sollte es den vereinten Bemühungen aller dieſer Perſonen 
nicht möglich ſein, die Bühne von allem zu ſäubern, was 
der Volkserziehung nicht dienlich iſt ? Es wäre doch ein 
gewaltiges Armutszeugnis, wenn man dieſe Frage ver» 
neinen wollte. Darüber freilich dürfen wir uns nicht täuſchen, 
daß in einem Stande, der viele Tauſende an Mitgliedern 
zählt, nicht alle von edler Kunſtbegeiſterung erfüllt ſind. 
Es wird unter ihnen immer viele geben, denen der Beruf 
nichts weiter iſt als die Kuh, die ſie mit Butiter verſorgt. 
Aber es müßte den führenden Perſönlichkeiten doc; mög= 
lich ſein, das Streben nach idealer Berufsauffaſſung zu 
pflegen und bei den Standesgenoſſen immermehr zu ver- 
tiefen. Das würde zur Hebung des ganzen Standes und 
zur Vermehrung ſeines Anſehens außerordentlich viel bei- 
tragen. 
Man ſagt wohl, die Bühne iſt ein Geſchäft. Das 
Haus bleibt leer, wenn nicht zuweilen Stücke gegeben 
werden, die die Grenze der bürgerlichen Moral etwas hart 
ſtreifen oder auch überſchreiten. Das Publikum will auch 
ſo etwas ſehen. =- Daß dieſer Einwand nicht berechtigt 
iſt, wird bei einigem Nachdenken jeder einſehen. Wer iſt 
das Publikum, das ſolches fordert oder gar zu fordern ein 
Recht hat ? Gewiß iſt jedes Bühnenunternehmen ein Ge- 
ſchäft, das nicht beſtehen Rann, wenn Einnahme und Aus- 
gabe nicht mit einander in Einklang zu bringen ſind. 
Aber es wäre doch ſehr traurig, wenn die Bühne nicht 
noch etwas mehr wäre als ein Geſchäft. Wenn ſie nicht 
beſtehen kann, ſobald ſienicht an die niedrig- 
ten Inſtinkte der Menſc<<hheitſich wendet, 
dann mag ſie zu Grunde gehen, dann hat 
ſie überhaupt keine Berechtigung. Wenn 
ein Familienvater es nicht wagen darf, ſeine 16- bis 13- 
jährigen Söhne und Töchter mit ins Theater zu nehmen, 
weil er fürchten muß, daß ſie dort Dinge zu hören und zu 
ſehen bekommen, welche jür die Erziehung des heran- 
wachſenden Geſchlechtes eine Gefahr bilden, dann wird es 
hohe Zeit, daß der Staat die Bühne etwas ſchärfer unter 
ſeine Aufſicht nimmt. 
Auch die Preſſe kann vieles tun, um die Bühne 
von allen Flachheiten und Unſauberkeiten zu reinigen und 
die wahre edle Kunſt zu fördern. 
I<h denke hierbei beſonders an die Beſprechungen in 
den Tageszeitungen, weniger an die Fachzeitſchriften. 
Es handelt ſich in erſter Linie darum, das große Publikum 
darüber aufzuklären, was es von einer Aufführung zu er- 
warten hat. In dieſer Beziehung könnte vieles beſſer ſein. 
I< habe manche vortreffliche Kritik geleſen und mir dar» 
nach Über Neuerſcheinungen ein Urteil gebildet, daß bei 
genauerer Kenntnisnahme ich beſtätigt fand. Id) habe aber 
auch mande oberflächliche, nichtsſagende Beſprechung ge“ 
leſen. Hier wäre noc<h vieles ZU beſſern. Es iſt gewiß 
für den Kritiker intereſſant, dem nachzuſpüren, was der 
Verfaſſer ſic) im einzelnen gedac<t hat, durch welche 
Philoſophie er beeinflußt worden iſt, wo und wie er gegen 
die Regeln der dramatiſchen Technik geſündigt hat, ob er 
„das Problem“, das er ſich geſtellt, ungenügend oder voll 
kommen gelöſt hat. Aber wichtiger als alle bühnentech- 
niſche Geſchicklichkeit unv alle Problemdreſ <erei iſt die Frage, 
ob der Inhalt ein würdiger iſt, 9b das 
Stück ſprachlichen, poetiſchen und ethi- 
ſchen Wert hat und daher es verdient, daß 
wir ihm unſere Aufmerkſamkeit einige 
Stundenſc<henken. Auf dieſen Punkt könnte die 
Kritik oft weit nachdrücklicher hinweiſen. Sie würde da- 
durch dem Zuſchauer und wohl auch dem Autor und der 
Bühne ſelbſt manche Enttäuſchung erſparen. . 
Vielleicht werden manche geneigt ſein zu fragen : Was 
hat die Moral mit der Kunſt zu tun ? Die Kunſt iſt nach 
ihrer Anſicht weder moraliſch noch unmoraliſ<. Jhre Aufs» 
gabe iſt, das Schöne darzuſtellen. Wer durch die Kunſt 
belehren oder moraliſieren will, verkennt das Weſen der 
Kunſt. -- I< habe oft dieſe Einwände gehört. Scheinbar 
haben diejenigen Recht, welche ſo reden, aber doch nur 
ſcheinbar. Sie überſehen nämlich dreierlei : 1. Die drei 
Gebiete des Guten, Wahren und Schönen ſind ſo innig 
mit einander verbunden, daß wir keins von dem andern 
ganz trennen können. Das Unwahre und Falſche, das 
Schlechte und Gemeine wirkt zugleich häßlich und ab- 
ſtoßend. Die größte Schönheit offenbart die Kunſt da, 
wo ſie ſich mit den Jdealen des Wahren und Guten in 
Uebereinſtimmung findet. Wer es unternimmt, das Schöne 
darzuſtellen ohne Rückſicht auf das Wahre und Gute zu 
nehmen, wird unfehlbar ſcheitern. 
Es wird 2. überſehen, daß der Künſtler, alſo hier der 
Dichter, eine einheitliche Perſönlichkeit iſt. Er kann ſich 
bei ſeiner Arbeit nicht teilen. Er iſt nicht imſtande Uns 
ein vollendetes Kunſtwerk zu ſchaffen und dabei ſich zu- 
gleich über alle Geſeze der Moral hinwegzuſegzen. Wer 
Stücke ſchreibt, welche auf die Lüſternheit und Sinnlichkeit 
unreifer Leute ſpekulieren, der beweiſt damit, daß er ſich 
noch nicht das Maß ſittlicher Größe angeeignet hat, welche 
ihn befähigt, als Führer und Borbild des Volkes aufzu- 
treten. Ein ſolcher iſt kein Charakter, der uns emporheben 
kann über die Unzulänglichkeiten und Härten des Alltags 
in das Reich der Jdeale. Und das ſoll doch lezten Endes 
die Aufgabe der Kunſt ſein. Wer ſelbſt keine Ideale be- 
ſigt, kann ſie auch andern nicht übermitteln. Das eben 
iſt der Fluch des Materialismus, daß er ewig am Boden 
haften bleibt. Darum hat er in der Kunſt nichts großes 
leiſten können. Der aus ihm geborene Naturalismus hat 
kläglich Schiffbruch gelitten. Das 3., das bei obigem 
Einwand Überſehen wird, iſt der Umſtand, daß wir es hier 
mit einer wichtigen Frage der BVolkserziehung zu tun haben. 
Wenn es wahr wäre, daß die dramatiſche Kunſt alle Moral 
außer Acht laſſen könnte, dann müßten wir doch ſagen, 
daß mit einer ſolchen Kunſt dem Bolke nicht gedient wäre. 
Dann fort mit ſolchen Tempeln der Kunſt, die NUr DIaZU 
benußt werden, um Zucht und gute Sitte im Volke zu 
untergraben. Es geht doch nicht an, das Fürſten und 
Städte ein Kunſtinſtitut durch Mittel und Privilegien unter- 
ſtüßen, das grundſäßlich darauf verzichten wollte, diejenigen 
Ideale zu pflegen, dure; welche unſer Bolk einig, groß 
und ſtark geworden iſt. Eine ſolche Bühne bildet tatſäch- 
lich eine große Gefahr. Auf dieſe Gefahr aufmerkſam zu 
machen mit allem Nachdruck, das ſcheint mir eine wichtige 
Aufgabe der Kritik zu ſein. Die Preſſe wird nicht ſelten 
als eine Großmacht bezeichnet. Sie iſt es tatſächlich. 
Möge ſie ihre Macht geltend machen, um eine Geſundung 
unſerer Bühnenkunſt herbeizuführen. Wer kann außerdem 
no<h helfen ? Ih denke, auch das Publikum müßte 
in dieſer Richtung mitwirken, wenn die übrigen Faktoren 
verſagen. Man könnte vielleicht jagen, daß wir damit in 
einen Circulus vitioSus hineingeraten. Die Bühne ſoll er- 
ziehlich auf das Publikum einwirken, und nun wollen wir 
von dem Publikum verlangen, daß es einen heilſamen 
Einfluß auf die Bühne ausübe ? -- Wenn wir aber be- 
denken, daß das Publikum ein cußerordentlich verſchieden- 
artiges iſt, ſo ſollte man doch annehmen dürfen, daß 
wenigſtens ein Teil der Zuſchauer befähigt iſt, wahre Kunſt- 
leiſtungen zu beurteilen. J<O habe oft den Einwand ge» 
hört : „Das Publikum verlangt io etwas, was Du tadelſt.“*
	        
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