Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

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Arbeiter - Jugend. 
 
ree, 
 
 
 
Unter dieſen Umſtänden iſt geradezu unerhört, was die Ge- 
werbeauffichtsbeamten de38 Lande3polizeibezirk38 Berlin berichte: 
Tine Gruppe der Arbeitgeber, iſt in dem Bericht zu lcſen, benußt 
die aus den Arbeit3büchern geſchöpfte Kenntnis, um ihre Arbeiter- 
ſhaft von unruhigen und unwürdigen GClementen freizuhalien. 
Namentlich gilt dies betreff8 der Arbeiterinnen. Denn den Arbeit- 
gebern ift wohl bekannt, daß von den Arbeiterinnen das Arbeitsbuch 
nicht ſelten dazu gemißbrauc<ht wird, um einen einwandfreien Erwerb, 
wenigſtens zeitweiſe nachzuweiſen und ſich ſo der ihnen jonjt 
drohenden polizeilichen Kontrolle zu entziehen. 
Hiernach dienen die Arbeit8bücher dazu, um „verdächtigen“ 
Arbeiterinnen ehrliche Arbeit unmögliß zu machen. Wie leicht 
kann aber der „Verdacht“ unbegründet ſein! Und wie ungerecht 
iſt e8, ſelbſt dann, wenn ein Mädchen auf Abwege geraten war, 
ihm die Möglichkeit, wieder in gereaclte Verhältniſſe zu gelangen, 
abzuſchneiden. 
Glüdlicherweiſe ſind die Arbeitgeber nicht immer in der Lage, 
einen ſolchen Gebrauch von dem Arbeitsbuch zu machen. Wenn 
der Geſchäft8gang gut und die Nachfrage nach Arbeitern groß 11, 
ſtellen die Arbeitgeber in der Regel die minderjährigen Arbeiter 
ohne jede Rücſicht auf das Arbeit3buch ein. -- 
Der Arbeitgeber braucht dem minderjährigen Arbeiter das 
Arbeit3buch erſt nach rechtmäßiger Löſung. des Arbeitsverhältmſjes 
Derauszugeben. Tritt ein minderjähriger Arbeiter vor Ablauf 
der Kündigungsfriſt aus der Arbeit, und verweigert der Arbeit- 
geber bis zum Ablauf der Kündigungsfriſt die Herausgabe des 
Arbeit8buches8, ſo kann der Arbeiter in dieſer Zeit andere Arbeit 
nicht annehmen. Daher leſen wir in den Berichten, daß hier und 
da das Arbeit3buch die minderjährigen Arbeiter vom Kontraktbruch 
zuriicchalte. 
Viel häufiger aber ſind die Mitteilungen darüber, daß dieſcr 
Nußen des Arbeitsbuche3 ebenfall8 nur ein ganz minimaler iſi. 
Immer allgemeiner wird die Kündigungsfriſt von vornherein aus- 
geſchloſſen. In dieſen Fällen bedarf es überhaupt keines Schuz- 
mittel38 gegen den Kontraktbruch. Dazu kommt, daß viele Arbcit- 
geber darauf verzichten, einen Arbeiter gegen ſeinen Willen an 
dic Arbeit zu feſſeln, weil ſie ſich davon keinen Vorteil verſprechen. 
Sic halten daher in ſolchen Fällen das8 ArbeitSbuch nicht zurü«. 
Wenn ſie e8 aber do< bei einem größeren Konflikt tun, dann 
laſſen ſich dadurc< die minderjährigen Arbeiter ſelbſtverſtändluch 
nicht zurückhalten, ihre Intereſſen ſo zu vertreten, wie ſie es für 
zwcedmäßig raten. 
Am häufigſten heben die Gewerbeauffichtsbeamten al3 leßtcu 
„Nußen“ der Arbeitsbücher hervor, daß ſie aus den Büchern das 
Alter der Arbeiter erſehen; dies ſei für die Dur<führung dor 
Schußvorſchriften für die jugendlichen Arbeiter von großer Bo- 
deutung. In der Tat iſt e3 notwenvig, daß die Gewerbeaufſfichts- 
beamten da38 Alter der Arbeiter feſtſtellen konnen. Das wiid 
aber erreicht, wenn jedem Arbeiter von 14-16 Jahren vor- 
geſchrieben wird, daß er bei dem Eintritt in die Arbeit einc 
Arbaitskarte mit der Angabe ſeine8 Geburts8tage8 abgibt. Di- 
älteren Arbeiter können den Au3weis über ihr Alter ſchon jeßt in 
dicſer Weiſe durch die Invalidenverficherung3karte erbringen. 
Mithin ſpricht kein einziger Grund für die Beibehaltung dc 
Arbeit8bücher. De3halb muß es unſere Forderung ſein: Fort mit 
dem Arbeit83buch, gh, 
| „S 
Reichsfinanzreſorm. 
Ein politiſches Zwiegeſpräch zwiſchen einem Jungen und einem Ulten. 
BB, eichsfinanzreform? Ja, das iſt nicht ſo einfach zu erklären.“ 
pP „Aber man hört und lieſt doh ſo viel darüber! Jeden 
SV Tag bringen die Zeitungen lange Artikel, aber ich werde 
nicht daraus klug.“ 
„Dir wird wohl von alledem ſo dumm, als ging' Dir ein 
Mühlrad im Kopfe herum? Boeruhige Dich, mein Junge, uns Er- 
wachſenen geht es nicht viel beſſer. Die Geſchichte iſt jetzt ſo ver- 
fahren und verworren, daß ſich bald kein Menſc< mehr auskennt.“ 
„Aber kannſt Du mir nicht wenigſten8 ungefähr erklären, 
wa3 das Wort bedeutet und warum ſo ein großer Streit 
darüber if:2“ | 
„Gern, mein Junge! Du konnteſt übrigens in der vorige"! 
Nummer der „Arbeiter-Jugend“ einige8 darüber leſen =" 
„Das3 habe ich geleſen, aber e8 waren nur wenige Zeilen.“ 
- „Alfo: wa3 ein Staat oder ein Reich iſt, weißt Du? -- Schön, 
und daß e8 fich in dieſem Falle um das8 Deutſche Reich in ſeine" 
Geſamtheit, als Zuſammenfaſſung aller einzelnen BundesSſtaaten, 
handelt, weißt Du auch? -- Gut! Und was3 ſind Finanzen?“ 
„Geldverhältniſſe.“ | 
„Ganz recht, die Staatsgelder, das Verhältnis der Staats- 
oder ReichSeinnahmen zu den Ausgaben. Und wa3 iſt ein: 
Reform 2“ 
„Eine Verbeſſerung.“ 
„Richtig. Wenn etwa3 verbeſſert werden ſoll, ſo muß mar. 
annehmen, daß jein gegenwärtiger Zuſtand =“ 
 
ILTDEF TE 
FEEXZ 
 
 
 
Schiffsjungen geſucht! 
Von Auguſt Freudenthal. 
Der Himmel iſt klar und blau. Nur einige Windtpöltfchen jagen 
droben am Himmel hin, mit dem Schiffe um die Wette. Die weißen 
Segel blähen ſich im Winde, ſc<häumend ſprüht das Bugwahßſer auf und 
tänzelnd eilt das Schiff dahin. Das ändert ſic) mit der Zeit; wir 
fommen den Tropen näher und vorſorglich haben wir uns ſchon weiße 
Müßen genäht, um der Hiße zu begegnen. Der Wind läßt manchmai 
nad) oder beginnt plößlich aus anderer Richtung zu wehen. Das Baro- 
meier fällt. Ein Unwetter zieht herauf. Raſ< werden die Segel ge- 
refft und da bricht es auch ſhon über uns herein wie das jüngjie Ge- 
richt. 
feit, und die Mannſchaft ſteht zum Eingreifen bereit. So plößlich, wie 
es fam, hat es auch ausgetobt, und nun gießt der Regen in Strömen 
herab, der in Fäſſern aufgefangen wird, um als Waſchwaſſer zu dienen. 
Wenn aber plößlich nacht3 eine Gewitterbs hereinbricht, da heißt's 
zufaſſen! Der Himmel ſcheini in Flammen zu ſtehen, und halbnacen95 
jagt die aus dem Schlafe geriſſene Mannſchaft nac< oben. Und mun 
beginnt ein Kampf zwiſchen den Weitterfeſten und dem Sturm! Heulend 
pfeift er dur< die Takelage, ergreift die Segel und zerrt und ſchlagt 
ſie hin und her, daß ſie inatternd gegen Rahe und Maiten ſchlage. 
Aber mit feſten Griffen, mit dem Oberkörper Über die Rahe gebeugt, 
die Füße in das ſ<wanktende Tauwerk geſtemmt und die Knie unter 
die Rahe geklemmt, faßt der Seemann mit beiden Händen ins ſchwere 
Laken und holt es ein. Ob ihm Regen oder Hagel ins Geſicht ſchlägt 
und da38 Blut unter den Nägeln hervorquillt, er bändigt das flatternde 
Segel und befeſtigt e8 an der Rahe. Und ob das Schiff ſchlingert und 
ſtampft, gewandt und ſchnell iſt alles vor des Sturmes Wut geborgen, 
bis auf die Marsſegel, die prall und ſteif zum Platen ſtehen. So geht 
es manche Nacht, bi8 der Wind ſich plößlich legt und ſchließlich ganz 
einſchläft. Und da droben iſt nun kein Wölkc<en mehr zu ſehen. Wie 
eine blaue Kuppel ſpannt ſich dex Himmel über uns bis zum Horizonte, 
und heiß brennt die Sonne herab. Knarrend reiben ſich die Segel an 
den Maſten. Und die See iſt ſo ruhig. Wie ein Spiegel liegt ſie au3- 
(Sdluß.) 
Aber der Sturm kann wüten und toben, die kleinen Segel ſind . 
 
gebreitet und bewundernd kann das Auge tief, tief hinabſchauen i:: 
die blaue unergründliche Tiefe. -- Vorn unter der Ba> aber halte:: 
die Matrofen große Beratung über die Linientaufe; ſind doch dre 
Neulinge an Bord! -- Nach einigen Tagen hat ſich ſacht das Wette 
gewendet und wieder fliegt das Schiff dem Süden zu. Alle Segel ſind 
geſeBt, um die verlorene Zeit wieder einzuholen. Und eine3 Tages 
iſt der große Zeitpunkt gekommen. Wir haben die Linie (den Aequator: 
erreicht und „Neptun“ erſcheint mit feinem „Hofſtaat“ an Bord. Im 
langen gereimten Reden begrüßt ex den Kapitän und ordnet die Taufe 
an. Zunächſt wird jedem Täufling, der noch nicht den Acquator paſſierte, - | 
mit einer infernalijhen „Seife“, aus Teer, Ruß, Petroleum um 
anderen fragwürdigen Mitteln bereitet, das Geſicht „eingeſeift“; dan“ 
wird ex mit einem hölzernen Meßyer „raſiert“ und hinterher dreimal 
in ein großes Faß mit Salzwajſer getaucht. Man überläßt e8 ihm dan" 
gutmütig jelbit, zu verſuchen, ob er die Mixtur wieder vom Geſic.: 
berunter bekommt. 
Nachher ſpendierte der Kapitän Grog und dann wurde getanzt nu) 
der Muſik der Schiffsfapelle, deren Inſtrumente aus zwei HamndD- 
harmonikas. einer Baßgeige und Pauke (die beiden leßteren Jnfir:i- 
2 
: mente waren aus Mebhlſäſſern verfertigt), einer Ofarina, Been 11115 
Trommel beſtanden. Und der faſt taube Matroſe Charley dirigierte 
mit ernjter Miene. . . . 
Cs iſt, als ob Neptun ein Einſehen hat. Das Schiff fliegt täglic? 
j<neller dem Süden zu. Ueber die Bänke, an Patagoniens Küſte c1- 
lang, geht's durch dichten Nebel dem Feuerlande zu, und ſchon wird s 
empfindlich kalt. Die Briſe wird mehr und mehr zum Sturm und dcs 
Schiff jagt ſchließlich vor Untermars3ſegeln dahin. Unter der Staaten- 
Inſel, an der Südoſtſpiße von Feuerland, dreht ficß der Wind. H«%, 
das iſt eine Arbeit, um die E>e zu kommen! Berghoch türmt ſich die 
See vor un3 auf, und ſchwankend und zitternd bohrt ſich der Bug des 
Schiffes in die Waſſermaſſen, die dann braufend über die Bac> ſtürze", 
das De> Üüberſc<hwemmen und alle38 mitreißen, wa8 nicht niet- 11:5 
nagelfeſt iſt. E3 iſt eiſig kalt geworden. Eis an De, auf den Segeo:1 
und Rahen. Die See iſt an der Leeſeite der Inſel, die wir erreicht haben, 
ruhiger; doh der Sturm raſt immer wütender Sorgenvoll ſchaut der - 
 

	        
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