Xummer 10
Berlin, den 5. Juni 1909
-L Jahrgang
Der blinde Paſſagier.
Von Max Eyth. (Schtuß.)
FFS iifi8 Bitters Boardinghouſe?“ (Frau Bitter3 Logier-
2 ER bau8) jagte ich endlich mit einem Fragezeichen. Es ging
mir faſt etwa3 zu ſehr wie meinem Koffer im den Katha-
rinendo>s3.
„Yes, Sir!“ ſagte der Engel mit vem Spißenteller.
Miſſis Bitters Adreſſe hatte mir mein. Schwager gegeben, der
vor zehn Jahren in dieſem Hauſe gewohnt hatte, um die Lirch-
lichen Verhältniſſe Englands zu ſtudieren. Er hatte ſeiner alten,
verehrten Freundin gleichzeitig geſchrieben, daß im möglicher-
weiſe eines Tages eintreffen werde. Sie ſelbſt ſtand jekt unter
ver Salontür, den Freindling freudig, wenn auch etwas geimeh)jen,
begrüßend: eine würdige, muntere finfzigjährige Dame, wie mir
ichien. Sie war zweiundſicbzig, und ich war vorläufig geborgen. =-
Ein unbeſchreiblich ſtiller Sonntag brachte meine erregten
Nerven zur Ruhe, wenigſten8 äußerlich. Im Innern brauſte noch
immer die Sec, die Häuſer im Squarc ic<hwankten ein wenig, wenn
ich ſie nicht Ii<harf anfah, und ein nagender Gedanke wollte ſich nicht
verſcheuchen laſſen.
bezahlt! Die Entfernung des ſtillen Viiddleton-Square vom Meer,
vom „Nordiſchen Walfiſch“, von dem tollen Treiben an der Theme
Ichien mit jeder Stunde unt hundert Meilen zu wachſen und damit
die Wevglichfeit, mein ſchuldbeladenes Gewiſſen von feinem Alp
zu befreicn. Wenn es mir nun recht ſchlecht ging in dieſem
unbegreiflichen Land, mußte ich nicht fortwährend denken: „Ge-
Ibicht dir ganz recht! Ein Wenſch, der nicht einmal ſeine Ueber-
fahrt bezadlt hat!“ Vielleicht war ich wie Miſſis Bitter jünger,
als ich ausfſah; denn ich konnte das kindliche Gefühl nicht lo3-
werden. Nachmittags ging ich ſech3- bi8 achtmal mn die aotiſche
&Kire<e herum 1pazieren und beſah mir die vier Spißen des
wüßigen Turmes von allen Seiten. Da3 engliſche Glo>engeläute,
ein reacniußiges Anſ<lagen von drei gloenhellen Tönen =-
Prim, Quint, Terz, Prim, Quint, Terz =, da8 dreißig Vimetten
lang fortdauert und dann wieder von neuem beginnt, kann den
bartadottenjten Sünder mürbe machen. Es wurde gogen Abend
uc mit mir IOlimmer. I< ſTchiüttete endlich der mütterlichen
peUndin meines Schwagers das ganze Herz aus; ſie ſc<nien
jofort bereit, auch mir Mutter zu werden, und richtete mich mit
We
beiteren Troſtesworten auf, ſoweit ich ſie verſtand. Da3 jei ganz
einfach! Ig fönne ja morgen meinen erſten Ausflug nach der
Unteren Theomfettraßte machen, das Bureau der Antwerpener
<
Dampfer auffuchen und alles regeln. So konnte ich mein cng-
itiches Leben wenigſtens als ehrlicher Wenſch beginnen. I< lie?
nicine erſto Nacht auf engliſchem Boden, in einem Riefenbett, ge-
wöſtet, wie cin. Sa>.
Als wacerer junger Deutſcher kaufte ich mir am frühen
Morgen einen Stadtplan und machte mich zu Fuß auf den Weg
nach den Katharinendo>s. Solange ich niemand zu fragen
vratichte, aing alles vortrefflich. Die end- und zahlloſen Straßen
vurden wieder enger, der Lärm lauter, das Gedränge dichter.
Genen zehn Uhr erreichte ich den Plaz vor der „Bank“. Hier,
bLenn irgendwo, iſt der Viittelpunkt der Welt diceje8 Fahrhunderts.
Wan ſpürt es ordentlich. Siaunend, halb betäubt betrachtete ich
das wirre Bild: ein Kalcidoſkop, von einer Meſenmaſchine ge-
dreht, mit rennenden Menſchen aus allen Weltteilen ſtatt der
übereinander ſtürzenden farbigen Steinc<en. Und jeder ſchien ge-
nan zu wiſſen, was er wollte, und rückſichtslo3 dranfloö8zugehben.
"ber auc< ich durfte mich nicht aufhalten. E3 waren wohl acuug
Taſchendiebe und ſicher auch andere Spitzbuben in dieſem brau-
enden Gedränge. I< mußte mich beeilen, wieder ein ehrlicher
Menſch zu werden. Der Weg dazu ging durch Cornhill nach
Liſten.
Dhne es zu ahnen, ging ich dort an einem Hauſe vorüber,
mn dem ich ſpöter zwanzig Jahre lang den größeren Teil meiner
Arbeit und ein Stückchen meines Glücks finden ſollte. Wer wohl
die blinden Paſſagiere alle führt, die in dieſem Millionenge-
wimmel umberirren. Auch feine kleine Arbeit, das!
I<h hatte meine Ucberfahrt noc< immer nicht
Jeßt wurde das Gedränge ſchmußiger. Der Themjenebel
bing hier noc<4 in den Straßen, und die riejigen Warenhäujer
mit ihren Schäßen aus Ceylon und Kuba, aus Hongkong und
Callao neigten fich iO9warz und j<wermütig gegeneinander.
Düſtere Geldproßen, die ſtill brütend der Welt Arbeit geben und
Bewegung. „Wer weiß, vielleicht auc< mir,“ dachte ich und jah
jic etwas ſcheu an. Sie gefielen mir nur halb.
Run war's mit dem Siadtplan zu Ende. Dort gähnte mir
2038 Ichwarzce Loch entgegen, durc< vas ich geſtern meinen Cinzug
iu England gehalten hatte. IH mußte fragen. Cin haſtig vor-
beirennender Handlungsgehilfe hatte feine Zeit, zu antworten.
Ein vierſchrötiger, gutartiger Backträger rief zwei andere herbei.
Zu dritt berieten ſie, in welcher Sprache ich mit ihnen zu ver-
fehren verſuche. Und es war mein bejtes Gymnaſialenaliſch,
„made in Germany“,*) eine allerdings damal3 noch nicht übliche
Bezeichnung! Die BVergältniſje wurden mehr und mehr Hoff-
nungslo38, bis uns ein deutſcher Indigoagent mit einem rieſigen
Yeotigzbuch und prächtig blauen Fingern aus einem Kellerloch
beraus zu Hilfe kam. C3 ergab ſich, daß ich nur drei Häuſer von
dem Bureau entfernt war, das ich fuchte: dort, gegenüber der
Trinfftiube mit der roten Laterne über der Türe.
Das Ichwarzbraune Haus, deſſen blauichwarze Fenijter nie
einen Lichtſtrahl aufgefangen zu haben ichienen, war ein Laby-
rinrh von Gängen und engen Treppen. Ueberall brannte Gas;
cs wäre jonſt nicht bewohnbar gaewejen. Zabllote Tiiren und
Türchen gingen auf die Gänge und waren in alle Winfeln ein-
Gebaut. Auf jeder ſtand auf Vailchglas, in IOHwarzen "iODmuclojien
Buchſtaben der Name einer Firma, einer Getellichatt, zines Unter-
nehmens in fernen Ländern = Nevada, Singapore, Yeutundland,
Meriko, Sidney, Kairo, Valparai19 = alles, was die glühende
Sonne beſchien, Ichien in dem ſchwarzen Loch zu hauſen. In einer
E>e des eriten Sto>35 fand ich meine Antwerpener Freunde. Cs
war mir, als fände ich alte, liebe Bekannte. I< trat ohne weiteres
ein, da die Tür fortwährend auf- und zugina.
Eine mit Schaltern verſehene Gla8wand trennte einen langen
ihmalen Streifen des mederen Saales ab und 1<ied die Be-
jucher von den Beamten, die hinter den Glas5Si<heiben haunen.
Aus dem erſten offenen Schtiebfenſjter winfte mir jomand. Was
ich wolle? Ic< begann zu erklären. Yach ein paar Worten, die
iH mutig und erfolgreich zuſfammengoftellt hatte, unterbrach er
mich. „Sie brauchen den Kaſſier! Dritter Schalter, rechts!“ Wie
der Menſ< das wiſſen konnte? I< war ja noch gar nicht 19 weit
m meiner Erflärung. Aber er war fertig mit mir und 1prach
iGon mit meinem Hintermann in jenen fürchterlichen, endloten
Worten, die mir in dieſen erſten Tagen 1o viel Sorge machten
"nnd von denen jedes, wie ſich ſpäter herausttiellte, cinen ganzen
Säß bedeutete. Wie fol man aber wiſſen, wo ein Wort auſhort
und das nächſte anfängt, wenn iman ſie nicht aedruckt ſicht?
I<h überſeßte bereits am dritten Schalter rechts mit An-
ſpannung aller Geiſteskräfte und möchte gerne für den Gebrand)
ipäicrer blinder Paſſagiere das Goſpräch mit dem alten Katyier,
der mich mit verwirrender Aufmerkſamkeit anſtarrte, wortlich
wiedergeben. Alloin ic< fühle mich, angeſichts einer großen Ute-
r6riſchen Schwierigkeit, faſt ratlos. Meinen deoutijchen Bericht
mit engliſchen Bruchſtücken = und was für Bruchſtücken! = zu
jmmüuden, iſt aeſf<Omaclos. Auch würden fie auf den deutichen
Leſer nicht entfernt den Eindra> machen, der das mürrijſche Ge-=
ficht des Kaiſier3 nach und nach erheiterte. Am nächſten komme
ic) wohl meinem Ziele, wenn ich unfer beiderſeitiges Engliſch
nwalichſt wörtlich und wahrheitögetreu in mein geliebtes Dentich
übertrage.
„JZ< komme,“ begann ich, „ich tuce konmnen, bezahlen wollend
vin Billett Antwerpen-London, dasfelbige nicht bezahlt habend
fiir das Ueberfahrt am Samstag.“ Dies ſchien mir ziemlich gut,
namentlich hatte i9 das Gefühl, gewiſſe <arakteriſtiſche Sprach-
feinheiten mit großem Erfolg angebracht zu haben.
„Wa3 wünſchen Sie?“ fragte der Kaſſier brü8k, wie wenn
er feine Zeit hätte, Sprachfeinheiten zu würdigen.
*) In Deutſchland fabriziert.