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Eingetragen in die Poft-Zeitungsliſte.
Nr. 17
Berlin, 11. September
Exvedttion : Buc<hbandlung Vorwärts,
Lindenſtraße 69. Alle Zuſchriften für die
Redaktion ſind zu richten an Karl Korn,
Lindenſtraße 69, Berlin SW, 68
1909
Der Rat der Alten.
tiſchen Partei, die die Erde je geſehen, zu ernſter Beratung
zuſammen. Aus allen Gauen des ausgedehnten Deutichen
Reiches -- von dem äußerſten Nordoſten, wo ſich uralte Buchen-
haine in den Wellen der Oſtſee ſpiegeln, bis zu den hochragenden
Tannenwäldern des Schwarzwalde3 im Südweſten, von den zahl-
lojen Schloten Oberſchleſiens bis zu denen einer rieſengroßen Fabrik-
itadt Nheinland-Weſtfalen3, von den grünen Marſchen der Nordſee
bis zu den weißen Beragipfeln der Alpen --, von überall her eilen
die Bertreter der deutſchen Sozialdemokratie herbei, um in tage-
langer ernjter Arbeit das Wohl und Wehe der Partei zu beraten.
Männer und Frauen mit gereifter Lebens3erfahrung ſind es,
die alljährlich zu den Parteitagen zuſammenkommen. Sie haben
ernſte Pflichten zu erfüllen und eine ihwere Verantwortung laſtet
auf ihnen. Von ihrer Entſ<eidung hängt viel ab, nicht nur das
Schi>ſal der eigenen Partei, jondern auch die ganze Geſtaltung de38
öffentlichen Leben3 und der Geſchichte unſerer Zeit. Was3 die
Sozialdemokratie heute beſchließt oder ausführt, das treibt ſeine
Wollen nach allen Seiten, das wirkt ſelbſt bi38 in die entfernteſten
Winkel der behördlichen Burcau3s und bis in die lezten Dörfer des
Yandes.
So iſt es eine Ehre für einen Sozialdemokraten, wenn ihn
das Vertrauen ſeiner Mitglieder zum Parteitag entſendet. Manch
einem 11 Ichon oft dieje Chre zuteil geworden, er kennt den Gang
ver Parteitage; aber man kennt auch ihn, und ſein Wort wird
beſonders geſchäßt. Wer aber zum erſten Male den Fuß über die
Echwelle des Parteitage38 ſeßt, der ſ<aut bewegten Herzens und
juchenden Auges in die Verfjammlung. Jeßt wird er fie alle
von Angeſicht zu Angeſicht kennen lernen, von denen er ſchon joviel
gehört hat, die Männer und Frauen des kämpfenden Proletariat,
deren Namen ihm ſeit vielen Jahren vertraut und lieb ſind.
Viele der alten bekannten Vorkämpfer der deutſchen Arbeiter-
bewegung, deren Wiege im niedrigen Hau3 ſtand, deren Namen
und Ruhm aber noch erſchallen werden, wenn es längſt keine „Hoch-
geborenen“ mehr gibt, ſind im Laufe der Jahre von un8 Lebenden
geſchieden. Der Dienſt der Freiheit iſt ein harter Dienſt, er reibt
ſnell auf, er ſtellt ungeheure Anforderungen an die Nervenkraft
des einzelnen, er häuft Enttäuſchungen auf Enttäuſchungen, und
nur ſelten ſind die Lichtbli>ke, die für unſägliche Arbeit und Müh-
ſal entſchädigen. Und denno< hält dieſer Dienſt jeden feſt, der ſich
ihm einmal mit Leib und Seele ergeben hat, der nur einmal
die unendliche Süße de3 Bewußtſein3 gekoſtet hat, daß man für
ein hohe8, heiliges Ziel ſtreitet, daß man der Menſchheit, ihrer
Fortentwickelung, ihrer Veredelung, daß man der Zukunft ſc<lecht-
hin dient. Dieſe ſtolze Gewißheit trägt über alle Schwere und
Niedrigkeit des Kampfes hinweg, ſie befähigt heute den kämpfenden
Proletarier zu Heldentaten, wie ſie die Geſchiht3bücher vorläufig
nur von den Befreiern de8 Vaterlande3 zu melden wiſſen, und
jie allein hält auc< die großen Vorkämpfer der deutſchen Arbeiter
jugendfriſch und tatenfreudig, bis ſie der Tod mitten in der Bahn
dahinſtre>kt.
Die deutſc<e Sozialdemokratie ſteht ſchon im fünften Jahr-
zehnt ihrer Geſchichte. Da iſt es kein Wunder, wenn ſich die Reihen
| der Alten und Aelteſten lichten. Aber die Partei hat von jeher
E 10re ernſte Aufmerkſamkeit darauf gewendet, daß ein der Scheidenden
ii Würdiger Nachwuchs an deren Stelle tritt, daß die Lücken, die der
8 Tod in ihre Reihen reißt, ſchnell geſchloſſen werden. Mehr als
S jonſt, mit mehr Eifer und Liebe als je zuvor hat ſie ſich gerade in
4 vem [eßten Jahre dieſer wichtigen Aufgabe angenommen.
T dieſen Tagen tritt in Leipzig der Kongreß der größten poli- .
Der erſte Jahre3bericht der Jugendzentrale, die auf Beſc<luß
des vorigen Parteitage38 in Gemeinſchaft mit den Gewerkſ<aften
eingejeßt worden iſt, liegt dem Parteitage vor. Somit haben die
Delegierten de8 Parteitages die Möglichkeit, die Arbeit der
Jugendzentrale und damit überhaupt die ganze Jugendbewegung
de3 Proletariats zu erörtern. Sicherliß werden die Genoſſen und
Genoſſinen viele Wünſche auf dem Herzen haben, nicht zuletzt die
Jugendlichen ſelbſt --, iſt e8 doch das gute Vorrecht der Jugend,
friſch und fröhlich zu fordern, ohne alle Konſeauenzen bis in die
lebten Winkel vorher auszudenten --, fie mögen ihre Wünſc<e und
Beſchwerden vortragen, ſie können ſicher jein, daß die deutiche
Sozialdemokratie und in3beſondere der Leipziger Rarteitag der
Jugend mit offenem Ohr und bereitem Herzen entgegenkommen
werden. Ueber vie hohe Bedeutung und den Ernit der Aufgabe,
dem heranwachſenden Geſchlecht, der zufunft3frohen jungen Garde,
den rüſtigen Streitern von morgen die Hände zu reichen, darüber
herrſcht in den Reihen der organiſierten Arbeiter die vollite Ueber-
einjfimmung. Wenn über die letzten Veittel und Wegs die Mei-
nungen noh hier und da auseimandergehen, Jo wird die Zeit, die
Erfahrung und die notwendige Einheit des Klattenfampfes auch
darüber ſehr bald die wünſc<hen3werte Ginigkeit herbeiführen.
Die Jugendbewegung wird den Parteitag wahricheinlich nicht
gar zu lange in Anjpruch nehmen. C3 harren 1o viele fonjtige
wichtigen Dinge der Erledigung. Der umfangreiche Geſchäftsbericht
der Parteileitung liegi dem Parteitage vor. Wohl mancher jugend-
liche Arbeiter wird mit Crjtaunen und Bewunderung in diejem
Jahresbericht geleſen haben; es wird fein Herz geſichwellt haben,
wenn ihm hierbei zum Bewußtſein fam welche enorme Kulturarbeit
jahrein, jahraus die vielgeſchmähte, verleumdete Sozialdemokratie
leiſtet, wie gerade ſie den einzig ſicheren Feljen in der wilden Bran-
dung widerſtreitender, perſönlicher Intereſſen und fapitalitiſcher
Konflikte darſtellt.
Der Bericht, den die ſozialdemokratiſche ReichsStagsfraktion
dem Rarteitage erſtattet, wird noc< einmal die aufgeregten Ver-
handlungen de8 Reichstag3s um die ſogenannte Reichsfinanzreſorm,
die in Wirklichkeit nur eine Verbeſſerung der Finanzen der Junker,
Sc<hnap3brenner und Großfkapitaliſten geworden iſt, in die Er-
innerung zurückrufen. Die Erregung, die gegenwärtig, da alle
Steuererhöhungen in Kraft treten, die breiteſten Volksſchichten er-
griffen hat, muß die Sozialdemokratie agitatorijc<h auSnußen, nicht
um zu „heßen“, wie die bösSwilligen Gegner e3 nennen, jondern
um die unklare Unzufriedenheit politiſcher Neulinge in klare
politiſche Erkenntnis umzujeßen.
Von beſonderer Wichtigkeit iſt die Beratung des Organi-
ſationsſtatut3, die den Parteitag beſchäftigen wird. Zſt das Er-
furter Programm die innere Wehr und Waffe der Partei, 19 bildet
das Organiſationsſtatut ihre äußere Rüſtung. Sie muß jtahl-
hart und blank und in tadelloſem Zuſtande ſein, wenn die Partei
in Wind und Wetter ihren Mann ſtehen will.
Die Maifeier iſt der ſtolze Proteſt von Millionen klaſſen-
bewußter Arbeiter des geſamten Erdballs gegen die Ausbeutung
der Menſ<en durch die Menſchen und gegen die grauſige, kultur-
vernichtende Maſſenſchlächterei des Krieges; ſie iſt zugleich eine
gewaltige Demonſtration der Proletarier aller Länder zuguniten
der Klaſſenforderungen des Proletariat8, zugunſten der jozialijti-
j<en Weltanſchauung; der Leipziger Parteitag wird neue Mittel
zu finden wiſſen, um die Maifeier noch feſter als biSher im Herzen .
des Proletariats zu verankern.
Die Beratung der Reichö3verſicherung3ordnung zeigt der
herrſchenden Geſellſchaft, daß die deutſ<he Sozialdemokratie neben