Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

 
 
„Arbeiter- Jugend. 17 
 
 
 
 
 
 
 
Charles Darwin und jeine Lehre. 
Zu Darwins 100. Geburtstage. 
Von M. H. Baege. (Nachdruc> verboten.) 
Der 12. Februar wird alleroris, wo modern und frei - denkende 
Menſchen wohnen, als der Tag feſtlich begangen werden, da vor hundert 
Jahren der Menſchheit Charles Darwin geboren wurde, jener geniale 
Naturforſcher, deſſen Lehre ſo ungehener revolutionierend auf die geſamten 
Wiſſenſchaften, die ſi<ß irgendwie mit dem Studium des Lebendigen 
beſchäftigen, wirkte. Noch Heute, troßdem ſchon ein halbes Jahrhundert 
jeit ihrer erſten wiſſenſchaftlichen Begründung verfloſſen iſt = Darwins8 
Hauptwerk „Die Entſtehung der Arten“ erſchien. 1859 --, ſteht dieſe 
Lehre, awar von der Parteien Haß und Gunſt vielfach verwirrt, im 
Mittelpunkte der großen Geiſte3kämpfe unſerer Zeit, und ſie wird wohl 
auch noch geraume Zeit dieſen Platz behaupten. 
Die Hauptpunkte dieſer gewaltigen, an die höchſten Probleme 
menj<lichen Denkens rührenden Lehre, die kurz al8 Darwini3mus8 
bezeihnet wird, in gemeinverſtändliher Weiſe darzulegen, ſoll mun 
Aufgabe vorliegenden Aufſaßes 
jein. Um den Gedankenbau des Dar- 
winiömu3 richtig zu verſtehen, ſeine 
Bedeutung richtig zu würdigen, 
ijt es zunächſt einmal notwendig, 
n< ÜUar zu machen, daß das 
ganze Gebäude aus zwei ganz 
verſchiedenen Hypotheſen aufgebaut 
jt: der Abſtammungslehre 
oder Deſzendenztheorie 
11d der Lehre von ver Na- 
inrzüchtung oder Au3- 
let ce, der fogenannten Sclek- 
tionö3theorie. Die Abſtam- 
mungslehreweiſt unter Vorführung 
eines vieltauſendfältigen Bewei8- 
material8 aus allen Gebieten 
der Lebensforichung und unter 
Zuhilfenahme des Entwiclungs- 
gevankens nach, daß die Entſtehung 
der Lebewejenwelt nur zu denken 
jei als ein großartiger Enttwick- 
lung3vorgang, ein viele Jahbr-- 
millionen dauernder BVerwand- 
lung3prozeß von einfacheren zu 
immer höheren Lebensformen. Sie 
jiellt gewiſſermaßen die Tat- 
lachen, vie in Bau und Ver- 
richtung der Drganismen für deren 
natürliche Entſtehung dur Ent- 
viklung jprechen, zu einer Theorie 
zuſammen, indem ſie fie dur< den 
Inttwicklungsgedanken verknüpft. 
Die Selektionstheorie Darwin3 
hingegen iſt ein erſter Verſuch, den 
Irfahenundtreibenden 
Kräften nachzuſpüren, die dieſe 
Sntwiklung bewirkt haben. 
Da wir in dem „Die Cntwick- 
lungölehre und ihre Bedeutung“ 
vetitelten Auffaß der vorigen Num- 
mer der „Arbeiter-Jugend“ ſchon 
auf die Tatſachen der tieriſchen 
oſtammung hingewieſen und die 
hohe Bedeutung dieſer Tatſachen für unſere Weltanſchauung ausführlich 
dargelegt haben, brauchen wir auf die Abſtammungslehre nicht noch 
einmal einzugehen. 
EZ bleibt uns ſomit nur noc<h übrig, die SelektionShypotheſe in ihren 
Grundgedanken hier ausführlicher darzulegen und ihren wiſſenſc<haftlichen 
Erklärungswert feſtzuſtellen. 
Darwin ging bei ſeinem Verſuche, die Entſtehumg neuer Arten durc 
natürliche Ausleſe zu erklären, aus von der ſogenannten künſtlichen Züch- 
tung, die ihm als Einwohner Englands, des Tajſſiſchen Landes der Tier- 
zucht, gut bekannt waren. Die Gärtner und Landwirte können bekanntlich 
die Pflanzen und Tiere veredeln, dD. h. den Lebewejen neue Eigen- 
i<aften anzüchten, die für den Menſchen von größerem Nußen ſind, oder 
ihm einen höheren äſthetiſ<en Genuß bereiten, al38 die Eigenſchaften der 
unveredelten Arten, aus denen ſic gezogen ſind. Wean denke nur an den 
Unterſajzied zwiſchen einem wilden und einem Gartenſtiefmütterchen, oder 
einem Karrengaul und einem edlen Nennpferd, und andere ähnliche Bei- 
wiele. Worin liegt nun die Kunſt dieſer als Veredlung bezeichneten künſt 
lichen Züchtung neter Abarten oder Raſſen? Sie beſteht in der Haupt- 
tache darin, daß der Züchter nur immer folc<e Drganismen zur Paarung 
bringt und zur Nachzucht verwendet, die, wenn auch oft nur andeutungs- 
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Charles Darwin. 
weije, die gewünſchten Eigenſ<aften beſißen. Fährt nun ein ſolcher 
Züchter in diejer Richtung beharrlich fort, d. h. paart er in jeder darauf- 
folgenden Generation feiner Zuchttiere oder Zuchtpflanzen immer wieder 
Exemplare miteinander, die fich in dem gewünſc<hten Punkie vor den Ver- 
wandten auszeichnen, jo erzielt er allmählich eine Formveränderung er- 
bheblichen Grade3, erzieht edle Rennpferde, Schafe mit feinerer Wolle uſw. 
Der Züchter benutzt bei dieſer Tätigkeit zwei Eigenſchaften der Organi3men, 
ihre Variabilität oder Veränderlichkeit, die darin ſich äußert, 
daß die Individuen derſelben Art ſtet8 geringfügige Unterſ<iede auf- 
weijen, und die Erblichkeit, d. h. die Fähigkeit der Lebeweſen, ihre 
Merkmale auf ihre Nachkommen zu vererben. Die Variabilität ermöglicht 
vem Züchter die Au38wahl oder Selektion der mit den geforderten Eigen- 
ſchaften au3gerüſteten Individuen, die Erblichkeit erlaubt ihm, die Eigen- 
jhaften nach und nach jo zu ſteigern, bis ſie den gewünſchten Grad er- 
reicht haben. 
Nachdem Dartvin durc< das Studium der Raſſenzüchtung zu der Er- 
kenntnis gefommen war, daß die Merkmale, die unfere Haustiere und Nuz- 
pflanzen auszeichnen, durc< planmäßige Auswahl der den Menſchen nüßlichen 
Variationen von ſeiten de38 Züch- 
ters fünjtlich erzeugt worden ſind, 
ging er nun daran, auch im Leben 
und Weben der freien Natur nach 
einem Jolchen ausleſenden Faktor 
zu juchen. Dieten fand er ſc<ließ- 
lich in dem ſogenannten „Kamp? 
ums Daſein“, unter dem er nicht 
nur den direften Kampf? der Lebe- 
weſen untereinander, jondern aud 
ven Wettbewerb der Organismeit 
um die Erlangung der ihnen not- 
wendigen Cxijienzmittel verſtand. 
Dieſer Kamp? iſt ledigliH eine 
Folge der übergroßen Fruchtbar- 
keit der meitten Pflanzen und 
Tiere. Es werden ſteis bedeuted 
mehr Lebenskeime in der Natur 
erzeugt, al3 ſich gegenüber den 
vorhandenen Bedürfniſſen: 11 
Grütenzmitieln voll entwicteln 
fönnen. So hat man 3. BV. be- 
rechnet, daB, wenn von den Ciernt 
eines Stör8 immer aiich nur die 
Hälfte ji zu Weibchen entwickel- 
ten, daß dann die Nachfommen- 
I<aft Icon naß einigen Genera- 
tionen allein an Ciern das Vo- 
lumen, den Rauminhalt, der Crde 
liefern würde. Ein anderes Bei- 
ſpiel: Cin Bakterium von 2553 
YDallimeter DurHhmeſſer, das ſich 
ſiündlic dur< Selbitteilung ver- 
mehrt, und deſſen Teile ſich genau 
in demſelben Zeitraume immer 
wieder 10 teilen, würde bereits 
naß 47, Tagen mit feiner Nach- 
kommen <aft ſämtliche Meere der 
Erde ausfüllen. Wegen dieſer un- 
geheuren Fruchtbarkeit der Lebe- 
weſen muß alto, wie geſagt, 
unter denen, die ni<t jhon vor 
ihrer vollen Entwiälung als Keim 
oder junge Lebewejen vernichtet 
worden ſind, ein Kampf um die Exiſienzmittel entſtehen. Diejenigen 
Keime nun fommen nach Darwin zur Entwieklung und zur LebenShöhe, 
diejenigen unter den miteinander konkurrierenden ausgewacjenen Orga- 
niämen werden im Daſeinskampfe. ſiegen, die, fei es durch Erbſchaft, 
oder durch eigene Erwerbung, irgend einen kleinen Vorteil vor den anderen 
voraushaben. 
Da ſich nun in jeder Generation der organiſchen Weſen dieſe Ausleje 
der Natur, dieſe natürliche Züchtung, wiederholt, ſo wird das Forterben 
einer Abweichungen vom Bau der Familienmitglieder durc< die Natur 
begünſtigt, und indem ſich dieſe Abweichungen ſummieren, weichen all- 
mählich die ſpäter lebenden Organismen erheblich von ihren Vorfahren 
ab, und anſcheinend völlig neue Geſtalten betreten die Weltbühne. 
So verſucht uns Darwin mit Hilfe ſeiner Selektion3hypotheſe zu 
erklären, wie aus Varietäten, aus Einzelweſen, mit faſt unmerklich kleinen 
Abänderungen, allmählich neue Arten, aus dieſen in noh längeren Zeit- 
räumen neue Gattungen, Ordnungen und Klaſſen entſtehen konnten, bis 
endlich die bunte Mannigfaltigkeit der heutigen Lebeweſenwelt entſtanden ijt. 
Darwin ſelbſt ſhon hat aber bald exkannt, daß ſeine Selektions- 
hypotheſe nicht alle Entwickelungserſcheinungen erklären kann, daß ſic für 
eine ganze Anzahl von Entwickelung5vorgängen nicht die treibenden Kräte
	        
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