Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

22 | | Arbeiter - Jugend. 
 
 
So garübelie und ſtarrte er, während die Sonne am Horizonte 
tiefer und tiefer glitt. = Drüben in der einſtökigen Villa mit 
dem lariggeſtrecten, gläſernen Wintergarten flammten die erſten 
Lichter auf. Am WPortal fuhren ratternde Equipagen vor. Herren 
in vicken Pelzen und Damen in langen Mänteln verſchwanden im 
Serrſchaft3cingange der Villa. Die erleuchteten Fenſter warfen 
breite Lichtſtreifen in den Garten und Fotekamp ſah durch di» 
cremefarbenen Gardinen zitternde Schattenbilder f<9immern: hohe, 
ichlanke Geſtalten, runde, entblößte Frauenſchultern, pompos fri- 
ſierte Haartoiletten in unſicheren Umriſſen. . . . Dann klangen 
Die erſten Töne eines Klaviers auf, ein Cello jekte ein; flüſternd 
alitt eine klagende Melodie zu dem Brütenden hinauf, umwobp 
jein Denken wie mit unſichtbaren gleitenden Fäden und erſtickie 
dic Gedanfein an Werkzeug und Nottebree. 
Deshalb merkte Fotekamp auch kaum, daß die Nachnunttags- 
dämmerung zur Dunkelheit überging, daß ſein Körper leicht er- 
Ichauerte, wenn ver Nordweſt in die Kleider blies. 
Er merkte auch nicht, wie oben auf dem Turmgerüſt 
bedächtige Hämmern und Feilen verſtummte, wie Nottebre>, über 
die Gerüſtplanken gebeugt, lange, lange nach den weißleuchtenden 
»Fenſtern hinunterſtierte, dann an der Turmleiter herab in die 
Rinne kroch und fich einen Meter von Fotefanp entfernt auf dem 
Dachbe mederlicß. 
S9 hockten die beiden an deni ſteil anſteigenden Gicbel, zwei 
Zierfiguren gleich, die die Köpfe über die Dachrmne-reFen. Un- 
beweglich lauſchten ſie der Muſik, die ſich von den erleuchteten 
Jenſtori: drüben emporſ<hvanag und auf dem Dache mid erſtarb. 
Dazwiichen hniein klang Scherzen, Lachen, Jubeln und das feint 
Flirren der Weingläſer. 
Als die Muſik eine PRanfe machte, klärte fich die Gedanten- 
flut in Nottebro>k8 Kopfe: wenn der Spengler nicht wäre, würd: 
den iubelnden Herrſchaffen da unten tauender Schnee auf den 
Fopf rieſeln; der Shwamm würde in Maucr und De>e ſiken und 
Kalk in die Weingläſer da unten bröFeln. Und dic Leute, die 
ganze Türme aus Wetall bauten und anderen die warmen Neſter 
gegen Schnee und Regen ſchüßten, zankten ſich um einen Zehn- 
»fennigfujcl. . Nottebrec> verſpürte einen Stic< der Scham 
1ind wandt den ecfigen Kopf nach Jotefamp hin. Da drehte auc< 
der ſein crfrorenes Geſicht herum. 
Ein paar Blicke glommen von Angeſicht zu Angeſicht, 
-- dann ſenkte Fotekamp den Kopf wieder und fühlte 
feine Wangen brennen. Mit blaugefrorenen Ohren lauſchte 
er der Stimme der Sängerin, die unten im Parterre 
ichwellend einſetzte, ließ zwiſchendurch feine Phantaſie ſpringen, 
ſab die Dutzende Häuſer, die er ſchon hatte aufrichten helfen, ſah 
die Kollegen, die er am Gürtel gehalten hatte, wenn's galt, an 
äußerſten Dachſpigen Ornamente anzubringen =- und jah die 
Szene, die ſich vor einer Stunde auf ſ<hwankem Turmgerüſt wegen 
ciner Schnapsflaſche abſpielte. . . . 
Die Sängerin unten ſchloß mit einem Jauchzer. 
Und ein paar Sekunden darauf ging von Nottebre> zu Fote- 
kamp ein Seufzer: „Jeſe8, unſer bißchen Leb'n . . .!“ 
JFotekamp nite, richtete ſich mit krummgeſeſſenem Rücken 
iinpor, ſtieg durc<s Manſardenfenſter in den finſteren Boden- 
raum und reichte dem Kollegen die Hand: „Komm! Siech Dich 
vor, 's hat gereift.“ 
Uni den Neubau herum gähnte nachtlecere Tiefe, als 
vred am Arime des anderen der Rinne entiſticg. 
Eine Minute ſpäter ſchritten zwei Arbeitskollegen- die Straße 
Geimwärts, Seite an Seite -- ſ9 dicht, wie ſic vorher nie ge- 
JQngen waren. Robert Größſc<. 
Yeotte- 
Ein Soldat der Revolution. 
Wwe 
Vor kurzer Zeit iſt im Gefängnis zuu Kalif >< (Ruſſiſch-Polen) ein 
junger Proletarier geſtorben. Wir bringen ſeinen Nachruf aus dem 
Lodzer PRarteiorgan der ruſſiſch-polniſchen Sozialdemokratie, „Zum 
Kampf“, nicht de8tvegen, weil dor Verſtorbene in der polniſchen Be- 
wegung eine führende Rolle geſpielt hätte. Unzählige haben wie ex 
ihre Kräfte und ihr Leben demſelben Ziele geopfert, ex war, wie 
Tauſende, ein einfacher Soldat in dex großen Armee der ruſſiſchen 
Revolution. Aber cx war noc< ein Knabe, al3 er in dieſe Armee ein- 
trat, und faum ein Jüngling, als er ſtarb, Von den 18 Jahren -ſeines 
Leben3 hat ex vier in ihrem Dienſte verbracht. Sie waren die Erfiling8- 
gabe eines Stinde3 auf. dem Altar ſeiner heiligſten Jdcale, 
das . 
Wer in die glühende Atmoſphäre einer Revolution gerät, der ver- 
brennt entweder oder er häriet ſich wie Stahl. So hat die ruſſiſche Re- 
volution auch dieſen Viergehnjährigen zum MWMannc geſchmiedet uns 
zum leud: tenden Vorbild der proletariſichen Jugend. | 
Stefan Mrozik. 
Noch ſchien die Herrſchaft des . ZariSmus unerſchüttert. Seine 
Grundfeſten waren zwar bereits unterſpült von dem reißenden Strom 
ver geſchichtlichen Entwidelung, doc< ſchlugen die Wellen der Volks- 
bewegung noch nicht hoch genug, daß man offen den Sturm auf ſeine 
Baſtionen beginnen konnte. Die breite Arbeitermaſſe ſchien noch zu ſchlafen, 
vbwohl die Peitſche der Unternehmer über ihren Köpfen pfiff, das 
Elend an ihr fraß, die“ Regierung ſie erdrückte. Nur eine Minderheit - 
der Arbeiter ſcharte ſich um die rote Fahne, um unterirdiſch die Waffen 
ver Revolution zu ſchmieden. Ihre Arbeit, unſichtbar den Augen des 
Feindes, entging nicht den Blien cines vierzehnjährigen Knaben, den 
dex KavpitaliSmus bereits der Ausbeutung zum Opfer vorgeivorfen 
hatte, und erive>te in ihm den Kämpfer. 
Dieſer Knabe war Stefan Myrozik. ein volniſche3 Ardeiterfind, das 
in der Textilfabrif von Roſizki in Lodz ſc<anzie. Das Kapital hatte 
ihn um die Spiele der Jugend, um die kindliche Sorgloſigkeit beſtohlen 
und zwang ihn, fich in vie vüſteren Neihen ſeiner Sftlaven zu ſtellen. 
Das Kapital hat in ihm das Kind getötet und den Mann erweckt, Der 
vierze9njährige Junge hörte anf, an Schaberna>, an Spielereien mit 
jeinen AlterSgenoſien zu denfon und lauſchte ge?'vpannt und mit zittern- 
vem Herzen allen Geſprächen der ſvzialdcemofkratiſchen Arbeiter. Nehmt 
mich mit zur Arbeit, flehto der Knabe, ich will mit Guch kämpfen für die 
acmcinfame Sache! Die Genoſſen läöchelten und nahmen das Hexzens- 
LpfCx des Kindes an, 
Mrozit irat in die ſozialdemokratiſche Organiſation der Gtadt 
&Yvd3 ein und weihte jeden freien Augenblick der Partoiarbeit. Wenn 
crx auf Pojten ſtand, um die im Geheimen beratenden Genoſſen vor dein 
Nahen des Foindes zu warnen, wenn er mit Agitationsſchriften bo- 
laden herumjtrich, um fie zu vororeiten, voll20g7 er feine gedanfenloſe 
techniſche Arbeit. Nein, in alles, was ex tat, legte er ſeine ganze, für 
den Kampf erglühende Seele hinein. Das &Kind, das in die geiſtloſe 
Tretmühle der Fabrikfron geſpannt war, lebte in dieſer Tätigkeit als 
ganzer Menſc<. Sic gab feinen Leben Zweck und Sinn. 
Und dann fam das große Jaber der &tovolution. Wie einc Lawine, 
die von den Bergen heruntorgeht und immer an Stärke wächſt, ſo 30g 
das Arbeitervolf zum Sturm gegen die Alleinherrſchaft. Tag für Tag 
gab cs heiße Kämpfe, Tag für Tag ficlen Opfer; doch das Volf wuchs 
in dear gewaltigen Ningen und ſtürmte mit unaufhaltſamor Kraft vor- 
wärts. Im Geklirro der Waffen lagerte ſich der Ernſt über das -Antliß 
ver Jüngſte, über Nachi reiſten jie zu Männern. Merozit Lliäte auf 
ſeine Kindheit zurü& wie durch einen Nebel: auf ſeinen Schultern 
laiteten bereits ſchwere Pflichten, und das Vertrauen der Genoſſen 
bewies, daß fic an ihm den Willen und den Verſtand cine3 Mannc3 
ichäßten. Jm März des Jahres 1906 wurd» Mrozi? in den Vorſtand 
eines AgitationSbezirks der Stadt Lodz gewählt. Jmuicr mehr erivarb 
er ſich die Licbe der Arbeiterſchaft. 
Dic Flutwogce der Revolution fiel. Die feindlichen Mächte be- 
famen die Oberhand. Der Abſoluti8Smus raſte und macht? den Galgen 
zum Zeichen ſeines Sieges. Da38 Kapital erhob das Haupt und zog 
wie eine Hyäne auf das Schlachtfeld, uim die Gefallenen zu berauben, 
Wieder herrſchte die Willfür, und wieder bekam der Rücken der Ar- 
beiter die Peitſche des Unternehmertums zu ſpüren. Da erbloichte manche 
fleinmütige Scele. Gar mancher. verlicß die Reihen der Kämpfer. 
Andere wurden vom Abſolutizmus in bie ſibiriſche Giöwüſte getrieben, 
damit dort ihre Kampfesglut verfühle. Stefan Mrozik blieb in Reih 
und Glied. Ex arbeitete für die Partei ohne Raſt und Ruhe. 
Unter verſchiedenen Namen: als „Kleiner“, „Grüner“, „Spatz“, 
„Ricardo“, „Waze?k“, war der junge ſozialdemokratiſche Agitator der 
breiten Maſſe bekannt. Jm Mai des Jahres 1907 wurde in London der 
bockwichtige allgemeine ſozialdemokratiſche Parteitag für ganz Rußland 
abgehalten, der erſte ſeit dem Ausbruch dor Revolution, der. berufen 
war, die Lehren und Erfahrungen der Revolutions8perivde zu ſichten 
und Richtlinien für die Epoche der Konterrevolution zu geben. An 
dieſem Parteitag nahm die Sozialdemokratie Ruſſiſch-Polens als Glied 
der Geſjamtpartei Rußlands teil, und Mrozik wurde al3 Vertreter feines 
Bezirks nach London geſchiät. Er war der Jüngſte unter den Hunderten 
von Parteitagsdelegierten. Al3 er nach Lodz zurüc?: »hrte, Jing cer mit 
noch reifexem Urteil, mit noch glühenderem Eifer an die Arbeit. Ende 
de3 Jahre38 1907 wurde er in den Vorſtand der ſozialdemokratiſchen 
Textilarbeitergewerkſchaft gewählt, der größten Gewerkſchaft Polens. 
Die Genoſſen wieſen ihm voll Vertrauen den verantiwortungsSroichen 
Roſten exft de3 Sekretärs, dann des Kaſſierer38 zu. Im Februar 1908 
wurde ex in das ſozialdemokratiſche Parteikomitee der Stadt Lodz ge- 
wählt, im April vertrat er bereits als Delegierter das Lodzer Komitec 
auf Dr Yandestonferenz der polniſchen Sozialdemokratic, Die38 war 
ſcin leßtes Amt im Dienſte der Arbeiterbewegung. 
Am 18. April wurde er verhaftet, um die Gefängnismaucrn nicht 
mchr lebens zu“ verlaſſen. Seit. längerer Zeit: war ſeine Geſundheit j 

	        
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