Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

266 
herbeigeführt werden. Der Gewerbeinſpektor veranlaßte, daß 
Arbeiter unter 18 Jahren zu dieſen ſ<weren Arbeiten nicht mehr 
verwendet werden. -- 
DaZ3 ſind bloß Fälle, die zur Kenntnis der Beamten gelangten, 
gewiſſermaßen Stichproben, die über die Lage der Lehrlinge und 
jugendlichen Arbeiter angeſtellt werden. Mit Stichproben können 
nun vielleicht Tatſachen, nachträglich geprüft, aber e8 kann keine 
Cinwirkung auf beſtehende Zuſtände erzielt werden. Mit Stich- 
proben auf unjerem Gebiete iſt vor allem auch nicht den jungen 
Leuten gedient, deren Lage nicht zur Jeſtſtellung gelangte, die- 
im der Kontrolle der Gewerbeaufſicht8beamten übergangen worden 
ſind. Dic Gewerbcaufſicht8beamten können ja nur einen geringen 
Prozentſaß der Betriebe auffuchen und revidieren. Damit aljo 
auch auf dem Gebiets des Lehrling38ſchulße3 etwas Ernſtliches ge- 
iGieht, müſſen die Beteiligten ſelbſt, die Lehrlinge, die jugend- 
lichen Arbeiter, aber auch die erwachſenen Arbeiter, ſich rühren. 
Alle Vaißſtände müſſen angezeigt werden, wenn nicht bei der 
Gewerbeauffichisbchörde, jo doch bei den Gewerkic<aft3vorſtänden 
und Gewerkſchaft8kartellen. Am wirkſamſten aber wird dieſe 
Selbſthilfe der Beteiligten geſtaltet werden, wenn 
die Gewerkſc<haftskartelle oder die Jugendau8ſchüſſe beſondere 
Kommiſſionen zum Schuß der Lehrlinge und jugendlichen Ar- 
beiter einſfeßen. Solc<e Jugendſ<hußfommiſſionen exiſtieren ja 
bereit3 an vielen Orten, aber die Einrichtung iſt immer noc< nicht 
jo allgemein geworden, wie e8 im Intereſſe der Arbeiterjugend 
notwendig wäre. Mögen aljo unſere Freunde dafür forgen, daß 
berall, wo dieſe Körperſchaften no< nicht vorhanden ſind, folche 
unverzüglich eingerichtet werden. Hier liegt eines der aller- 
wichtigſten Betätigung8gebiete unſerer Jugendausſchüſfſe, und wie 
bitter notwendig dieſc Arbeit iſt, zeigen wieder die diesjährigen 
Borichte der Gewerbeaufſichtö3beamten,. 
WLE 
Was iſt Sozialismus? 
Von Guſtav Edſtein. 
BD 8 nd e5 iſt doh ein Unſinn, was Du da ſagſt. Die Menſchen 
5 a jind nun einmal nicht gleich, und es iſt darum auch ein Un- 
" T finn, ſie gleich behandeln zu wollen.“ 
„Gar ſo ungleich find die Menſchen nicht, wie man immer 
Ungleich iſt, wa3 "ie lernen, wie ſie aufwachſen, und de8halb 
*) Mit diefem Artikel beginnt eine längere Reihe von leicht ver- 
jſtaäandlichen Auffäßen, die in zwangloſer Folge in das Verſtändnis der 
Grundlehren und Grundbegriffe des wiſſenſchaftlichen SozialisSmus ein- 
führen ſollen. 
 
jagt. 
 
 
Arbeiter- Jugend. 
„und die Reihen in Barmherzigkeit. 
ſind auch die erwachſenen Leute fo verſ<ieden. Gib das Kind einer 
Gräfin zu einer Arbeiterin und umgckehrt, und kein Menſch wird 
es jpaäter bemerten.“ 
Dieſes Geſpräch börte ich unlängſt, als ich an einem ſchönen 
Sonntagvormittag auf einer Bank im Tiergarten ſaß. Zwei 
junge Keute waren im eifrigſten Geſpräch die Allee herab. 
gefommen und hatten, ohne mid) irgendwie zu beachten, auf der 
Bank neben mir Plaß genommen. Sie waren beide nett, aber 
einfach gefleivet. Ihre jugendlichen Geſichter, die auf ein Alter 
von etwa 16-17 Jahren ſchließen ließen, ſahen intelligent und 
durch das Geſpräch angeregt au8. Der Gegenſtand ihres Streites 
ichien für beide großes Intereſſe zu beſißen. 
„Erinnere Dich nur“, begann jetzt wieder der Kleinere von 
den: beiden, der zuleßt geſprochen hatte, „an die Geſchichte, die 11- 
längit in der Zeitung ſtand. Da war eine lange Gericht5ver hand- 
lung darüber, ob das Kind einer Gräfin micht im Wirklichkeit cin 
untergeſchobenes Bauernfind war. Was haben ſie da nicht alles 
aus8probiert, um die Wahrheit herauszukfriegen, und zum Schluß 
wußte feiner viel mehr als zu Anfang. Und überhaupt, iſt denn 
vas ein Grund, warum der eine arm fein joll und der andere 
reich? Oft jind voch gerade die geſcheiten Leute arm, und die 
dummen find reich. Die di> en ſtarfen Kerls können oft 
faulenzen, und unſere Martha 3. B. muß in dic Fabrik gehen, 
wenn ſie noch fo ſehr huſtet. Iſt das gere<ht? Muß das ſo ſein?“ 
Cr Hatte ſich ordentlich im Eifer geredet und jah jetzt faſt zornig 
Drein. 
„Xa, Ichsn ficht das nicht aus,“ faate der Größere nach eer 
furzen Pauſe. „Aber was kann man dagegen machen? C3 ha 
immer Reiche und Arme gegeben. Und ich erinnere mich noch jen 
gut, wie ich eingeſegnet wurde, jagte auch der Herr Paſtor, daß 
Gott es ſo eingerichtet habe, damit die Armen ſich in Demut üben 
Wenn keiner mehr den 
anderen brauchte, ſagte er, da würden ſich die Menſchen ganz fremd 
werden, jeder würde nur für ſich ſorgen. und eigenfüchtig werden.“ 
„Und Du glaubſt das?“ platzte nun der andere heraus. „Dor 
Paſtor hat doch auc< geſagt, daß Gott allgerec<ht und allgütig iſt. 
Und da ſoll die ſ<höone Einrichtung von ihm ſein, daß der arme 
Tcufel demütig bitten muß, damit der Reiche ſeine Barmbherz11- 
keit zeigen kann? Neulich iſt unfere Martha heulend nach Hanſe 
acfommen und hat erzählt, daß ſie in der Fabrik, wo fie früher 
gearbeitet hat, entlaſſen worden iſt. Na, die Mutter hat ſie ſchön 
ausgeſcholten. Zuerſt wollte die Martha gar nicht jagen, was 
denn auf einmal geſHhehen war. Endlich kriegte Mutter es aber 
doh raus. Der Sohn vom Chef iſt gegen das Mädel frech und 
zudringlic< geworden; und wie ſie ſicß nicht mehr anders helfen 
konnte, da gab ſie ihm eine Maulſ<elle, daß ces klatſichte. Da hat 
er ſie rau8geſchmiſſen.. Und da38 ſoll der liebe Gott jelber jo ar 
geordnet haben, daß der lumpigc Kerl mit dem Auto fährt und 
meine Schweſter jekt in die <emiſche Fabrik zur Arbeit geb: 
 
Wie ih ein Schreiner wurde. 
(Fortſezuz.) 
ZU roB feiner Frömmigkeit war mein Meiſter ſehr roh. Noch heute 
„? , widert es midh an, wenn ich daran denke, wie brutal er, war er 
* einmal ſchlecht gelaunt, ſeine Kinder behandelte. Mitten im Tiſc<h- 
aebet oder im Rojenkranzbeten |c<lug er oft mit der Fauſt oder mit 
einem Holzſtü> auf die am Tiſch ſtehenden oder knieenden Kleinen lo. 
Er ſc<lug zu, wenn eines der Kinder nicht andächtig genug war oder 
wenn eimes das Gebet nicht laut genug herleierte. Oft wirkte das nicht 
nur abſtoßend, ſondern auch komiſch. So wenn er zum Beiſpiel mitten 
in der Gebetsformel: „Gegrüßt ſeiſt Du, Maria, Du biſt voll der 
Gnaden!“, plößlich innehielt, auf ein Kind hinſprang und mit den 
Worten: „Willſt g' ſcheit beten, Du Bankert!“, roh dazwiſchen haute. 
Der fromme Mann war überdies ein ausgemachter Prahlhans. 
Er wax Veteran von ſechsundſec<zig und ſiebzig, ſoll aber, wie man 
jagte, nicht an den Feind gekommen ſein. Die Kricegserlebniſſe, die er 
immer wieder in der gleichen Uebertreibung erzählte, waren mir förm- 
lich zuwider, obwohl ich ſolhe Geſchichien ſonſt ſehr gerne la3. Jh 
glaubte meinem Meiſter ſeine Sprüche nicht, weil ich ojt Gelegenheit 
hatte, zu beobachten, daß er ein Haſenfuß war und daß er ſich feig 
benahm. 
Er hatte eine alte Mutter, die immer kränklich war; zumeiſt konnte 
ſie nicht gehen. Mich dauerte die kleine runzliche Alte ſehr, weil der 
grobe Meiſter ſie jehr ſchlec<ht behandelte, Nie ließ er den Arzt kommen, 
und wenn die Meiſterin, die beſſer war al8 ihr Mann, der Alten einmal 
ein Extraſüpplein kochte, ſc<impfte dex Rohling. Das alte Mütterlein 
lag in einer ganz tleinen, ungeſunden, muffigen Kammer neben dem 
Stall. Jn dieſem Raume waren auch die Farben untergebracht; Lacke 
und Oele wurden dort in Blechbehältern aufbewahrt. Es herrſchte eine 
entſezliche Luft in dieſer Kammer. Der Geruch der Farben und Oele 
miſchte ſic mit dem Geſtank der Jauche, die vom Stall her oftmal3 
 
vurd den ſchlechten Fußboden drang. Oft, wenn ich dahinten zu tun 
hatte, weinte die Alte und klagte mir ihre Not. Sie hatte die harn!- 
lofe Leidenſchaft, Zu>ker zu eſſen. Der Meiſter gab ihr niemals welchen. 
Er gab ſeiner Mutter weder kräftiges Cfien, no< ließ er den Arzt 
fommen; wohl aber ſorgte er dafür, daß ſie der Pfarrer öfters beſuchte. 
C3 war nur merkwürdig, daß ſich der Meiſter nicht genierte, den Pfarrer 
in dieſen unſagbar öden, ungeſunden und ſchmußigen Raum zu führen. 
Noc:< mehr aber wunderte ich mich darüber, daß der Geijtliche nicht 
veranlaßte, daß die Kranke aus dieſer Umgebung entfernt wurde. 
Wenn ich mitunter Trinlgelid bekam, kaufte ich Zu>er und ſtecie 
ihn der Alten zu. Manchmal mußte ic der Alten auch von meiner 
Mutter etwas bringen. Als der Meiſter eines Tages dahinter kam, 
durffe ich die Kammer nicht mehr betreten. Er holte nunmehr die 
Farben und Lade ſelbſt, und ich war genötigt, der Kranken unſere 
Mitleid83broken heimlich von außen durc das Fenſter zu ſte&en. Tas 
alte Mütterlein drüfte mix immer mit ihren knochigen Fingern die 
Hände und ſagte, daß ſie fleißig für mich beten wolle. 
Gine3 Tages kam der Meijtexr ganz verſtört in die Stube reſp. 
Werkſtatt geſprungen und teilte mit, daß die alte Frau im Sterben 
liege. Er entnahm einer Truhe ein ileines ſilbernes Glödc<en, das 
er anſcheinend ſHon zurechtgelegt hatte, und begab ſic damit ans 
Sterbebett ſeiner Mutter, um dort mit dem „SeelenglöF<hen“ den 
„Böſen“ (den Teufel) zu verſcheuchen, damit er nicht die entweichende 
Scele der ſterbenden Mutter in Beſik nehme. (Dieſer abergläubiſ<e 
Brauch herrſc<te übrigens allgemein bei den Katholiken in unſerem Dorfe.) 
Der Meiſter war alſo um das Seelenheil ſeiner Mutter mehr be- 
ſorgt, als um das Wohlergehen ihres Leibes, ſolange ſie noch levte. 
Tod in der Nacht machten wir der toten Greiſin einen ſchönen Sarg- 
Der Totenſchrein wurde gekehlt und mit allerhand Zierrat verſehen. 
Der Meiſter ſparte daran zu meiner größten Verwunderung nichts, 119 
am Grabe weinte der ſonſt ſo Herzloſe bittere Tränen. 
Da38 waren ſo einige meiner Totengeſchichten. 
 

	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.