Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

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Die politiſ<en Parteien. 
Was wollen die Konſervativen“ 
IT. 
(Schluß.) 
PDF/& ach den Darlegungen von Friedrich Julius Stahl kann man das 
ß Ganze der konſervativen Anſchauung etwa wie folgt jich ver= 
gegenwärtigen: | 
Sich ſelbſt überlaſſen, müßte der Menſch wegen jeiner angeborenen 
Sündhaftigkeit zugrunde geben. Der Wille des Menſchen iſt böſe von 
Jugend auf. * „Wenn in jedem Augenbli> diejer Wille allein und un- 
begrenzt entſcheidet, dann wird nicht das Gute ſiegen, ſondern das Böſe, 
und wird die Geſellſchaft zerſc<hellen.“ DeShalb „bedarf es einer Macht, 
- die unabhängig :von dieſem jeweiligen Willen der Menſc<en beſteht“. 
Und dafür hat Gott in ſeiner großen Güte und WeiSsheit geſorgt. Er 
hat die Obrigkeit eingeſekßt, die in ſeinem Namen das Ganze leiten ſol, 
und der ſich daher jeder Einzelne unterzuordnen hat. Er hat aber noc< 
weiter die gange menſchliche Geſellſchaft in ein wohl gegliedertes Syſtem 
von Höheren und Niederen geordnet; mit einem Wort: er hat in weiſem 
Vorbedacht die Menſchen ungleich erſchaffen und mit ungleichen 
Rechten ausgeſtattet, immer zu dem Zwe, daß die Niederen 
von den Höheren zu ihrem eigenen Wohl geleitet werden ſollen, weil 
fic nur ſo dem Verderben entgehen können. Nur durch eine ſolche 
Gliederung und Unterordnung fann -- nach fonſervativer Auffaſſung 
=-- die Sicherheit, die Ernährung, die Exiſtenz des Menſchengeſchlechts 
gewährleiſtet werden. Ungleichheit der Lebenszſtellung und 
ungleiche Nec<te der MenſH4en jind alſo nach Gotte3 weiſem 
Ratichluß das einzige Mittel, die Menſchheit vor dem Untergang zu 
bewahren. | . 
Daß dieſer Gedanke von der Ungleichheit der Menſchen das eigent- 
liche Weſen der konſervativen Staat3auffaſſung ausmacht, läßt ſich noch 
aus unzähligen anderen Fonſervativen Schriften nachweiſen. Doch kann 
der Beweis hier wohl unterbleiben, da dies von den Konſervativen ſelbſt 
feine3wegs beſtritten, vielmehr nachdrü>lich betont wird. 
Geht ſoweit die Fonſervative Anſchauung in allem und jedem zurück 
auf das Vertrauen zu Gott, predigt ſie die unbedingte Unterordnung 
unter Gottes Willen, der ſich in den Fügungen der Geſchichte offenbare, 
jo braucht man nur ein wenig weiter zu denken, um hier eine böſe Lüde 
zu entdeden. Dieſe unbedingte Unterordnung unter die „Fügung der 
Geſchichte“ rechtfertigt nämlich nicht nur die konſervative Politik, ſon- 
bern auch jede andere, ihr entgegenwirkende, ſofern ſie nur cr- 
folgreich iſt. Zum Beiſpiel: die Konſervativen fordern in Deutſch- 
land Achtung vor des Kaiſers Hoheit, weil es Gottes Wille fei, daß in 
Deutſchland ein Kaiſertum Leſteht. Aber in Frankreich beſteht eine 
 
NRepublif. Und da nichts gegen Gottes Willen geſchehen kann, ſo muß 
Goti notwendigerweiſe auch die franzöſiſche Republik wollen, und ſie 
iſt evenjo heilig wie das deutſche Kaiſertum. Dieſer Konſequenz ent- 
ziehen jich auch die Konſervativen nicht. Stahl 3. B.; an der Stelle, 
vo er von der Notwendigkeit einer den Menſchen übergeordneten Macht 
jpricht, jet die Republik vollſtändig dem Erbkönigtum gleich. Nur iſk 
die Frage damit nicht abgetan. Denn Frankreich war doch nicht immer 
eine NRepublit. Früher Leſtand dort ein Königtum, und das war, ſo- 
lange es bejtand, nach fonfervativer Anſchauung ebenfalls heilig. Wenn 
es nun jeßt durch die Republik verdrängt ift, ſo muß doch Gott ſeine 
Veſeitigung gewollt haben, und folglich iſt das Mittel, das dieſe Beſeiti- 
aung herbeigeführt hat, ebenfals von Gott gewollt. Dieſes Mittel war 
abcr die Revolution. Und ſo kommen wir in folgerichtiger Fortführung 
des fonſervativen Gedankens zur Heiligſprechung der Re=- 
volution! 
Man glaube auch nicht etwa, daß die8 von un3 nur eine Wortſpielerei 
iſt, um uns über den Konſervatismus luſtig zu machen. Nichts weniger 
als das. Vielmehr haben die Konſervativen ſelbſt dur< Wort und 
Tat die Nichtigkeit dieſer Auffaſſung beſtätigt. Stahl ſchreibt mit un- 
zweideutigen Worten: 
„Der legitime Anſpruch der Dynaſtie entſteht in der Zeit und 
- fann auch vergehen in der Zeit; cer erjährt und verjährt. und dieſelbe 
göttliche Fügung, welche ein Königtum gründet, hat auch Macht und 
Necht, e8 zu vernichten.“ | 
Hiermit aber rechtfertigen die &Konſervativen ihr Verhalten ſeit 
dem Zahre 1566. Noch 1861 haben ſie, wie oben gezeigt wurde, gegen 
den „Kronenraub“ proteſtiert. Mochten die deutſchen Fürſten ihre 
Kronen haben, woher ſie wollten, ſogar aus der Hand des Lande8feindes8 
-- fie hatten ſie, und dies genügte als Beweis, daß Gott e3 ſo wollte. 
Folglich waren ihre Kronen heilig. Als ſie ihnen dann aber 1866 doch 
geraubt wurden, nun, da war das der Bewei38, daß Gött e8 nun ander3 
wollte; ſomit war der neue Zuſtand auch wieder Heilig. 
Es liegt auf der Hand, daß man mit ſolchen Grundſäßen einfach 
alles -- und eben deswegen gar nichts beweiſen kann. Die Sozial- 
demokratie ſelbſt kann hiernach al8 Werkzeug Gotte3 aus8gegeben 
werden. Jſt es nicht eine „Fügung der Geſchichte“, daß eine ſo rieſen- 
bafte Bewegung entſtanden iſt? Und rühren nicht die Fügungen in der 
Geſchichte von Gott her? Wie hätte eine ſo gewaltige Erſcheinung gegen 
Arbeiter «Jugend. 
oder auch nur ohne Gottes Willen zuſtande kommen können? Folglich 
muß doch wohl Goite3 Wille mit und in ihr ſein! Aber mehr noh. Dis 
Sozialdemokratie erſtrebt eine Umwälzung in Staat und Geſellſchait 
und wird de8wegen von den Konſervativen aufs heftigſte bekämpft. Aber 
wenn ihr die Umwälzung gelingt, dann geſchieht das -- nach konſerva- 
tiver Auffaſſung -- mit Gottes Hilfe, dann iſt der neue, von ihr ge- 
jhaffene Zuſtand wiederum gottgewollt und heilig, und dann haben 
ſich die Konſervativen fo lange Jahre gegen da38 aufgelehnt, was Gottes3 
Walle war! 
Vor dem prüfenden Verſtande alſo kann die konſervative Theorie 
nicht ſtandhalten. C3 iſt ſogar ein leichtes, ſie in ihr Nichts zu zer- 
pflücken. Aber darum halten ihre Bekenner doch an ihr feſt, weil näm- 
lic< ſolche Anſchauungen gar nicht aus dem Verſtande, ſondern aus dem 
Gefühl geboren werden. So wie wir hier Schritt für Schritt in 
dic konſervativen Anſchauungen eingedrungen ſind, konnte es Ideinen, 
als ob die Konſervativen jich zuerſt die Theorie zurechigemacht oder 
aus 5Iem Chriſtentum übernommen haben, daß alles von Gott gemachi 
und de8hall gut fei, und als ob ſie dann hinterher au3 diefer 
Theorie gefolgert haben: weil Gott die Ungleichheit geichaffen und 
gewollt hat, deShalb beſteht unſere Herrſchaft zu Recht. In Wirilich- 
feit aber entjtehen ſolche Anſchauungen gerade auf dem umgekehrte 
Wege. Die Konſervativen ſind urſprünglich nichts anderes als die poli- 
tiſchen Verteidiger der Rntereſſen de3 Adel8. Nun beruhte die Exiſtenz 
ves Adel3 als Klaſſe auf der Abhängigkeit feiner „Untertanen“, 
aljo auf der Ungleichheit der Menſc<en. Sobald dieſe aufhört, kann der 
Adcl al 8 Klaſſe nicht mehr exiſtieren, wie dies ja auch die Geſchichte 
bewieſen hat. Die wirtſchaftliche Gebundenheit und Ausbeutung der 
Untertanen erfordert aber ihrerſeit8 ein ganzes Syſtem ungleicher 
Nechte, durch die ſie „begründet“ wird. Mithin empfand und cmpfindet 
noch heute der echte Konſervative un mittelbar au3 ſeinem Intereſſe 
heraus die Ungleichheit des Recht3 al38 etwa3 Gute3, Notwendige8 und 
Heilſames. Denn ohne ſie kann ja das nicht beſtehen, was ihm ſch<hlechter- 
dings als vas Notivendigſte gilt: nämlich die Adel3herrſchaft. Dazu 
alſo braucht er feine Theorie und keinen Beweis, und das wird er ſich 
auch von niemand widerlegen laſſen, denn dieſe Ueberzeugung entſpringt: 
ſeinem egoiſtiſchen Intereſſe. Erſt nachträglih erwacht das Bedürfnis. 
dieſes Intereſſe, alſo eine urſprüngliche Empfindung, auch vor dem 
prüfenden Verſtande als richtig zu erweiſen. Und dann erſt wird dic 
Theorie ausgeklügelt, die zu ihrer Stüße den ſchönen Saß nimmt: 
„Wa8 Gott tut, das iſt wohlgetan“. Julian Bor<ardk. 
 
 
 
 
n „al Io 27256 
BZAIRE Ius der Jugendbewegung (3B=€s 
 
 
 
Jteue Jugendheime. 
Von Lindenauer Jugendgenoſſen wird uns geſchrieben: 
- Nach dem Beſchluß des Nürnberger Parteitage3 ſind die BParte1- 
genoſjen allerort3 verpflichtet, die Beſtrebungen zur Bildung der Axr- 
beiterjugend zu unterſtüßen und zu fördern. Dieſer Verpflichtung iſt 
dic Leipziger Parteigenoſjenſc<aft ſeit Beſtehen dex Leipziger Jugend- 
bewegung gerecht geworden. Gs reiht ſich de3halb die Schaffung eines 
Hcimes für den Jugendbildungsverein Lindenau-Plagwiß- 
Sc<hleunig würdig in die biSher geübte Praxis. Das Heim iſt mit 
der. Arbeiterturnhalle zu Lindonau erſtanden. Die Arbeiterturner waren 
durc< die Verhältniſſe gezwungen, ſich eine eigene Turnhalle zu bauen. 
Zu dieſem Zwecke gründete ſich aus Partei- und Turngenoſſen eint 
Baugenoſſenſchaft, die nunmehr das Projekt einer Turnhalle ſowic 
drcier Wohnhäuſer verwirklicht hat. In den zur Turnhalle gehörigen 
Wirtſchaftsräumen befindet ſich unter anderem ein Verſammlungsfaal. 
150 Berſfonen faſſend, ſowie ein Sikung8zimmer für 40 Perſonen als 
Jugendbh2im. 'Am 24. Oktober fand deſien feierliche Einweihung ſtatt. 
Dazu hatten ſich gegen 900 Perſonen in der Turnhalle verſammelt. Aus 
allen Leipziger Jugendorganiſationen waren die Genoſſen und Ge- 
noſſinnen erſchienen, um der Feier beizuwohnen. Dieſe trug denn aud 
den Charafter eines wahren Jugendfeſt2s. Alle Miiwirkenden leiſteten 
Vorzgügliches und bekundeten ſo ihr lebhaftes Intereſſe am Verein. --- 
Da38 Lindenauer Jugendheim iſt das erſte dieſex Art in Leipzig. 
Hoffentlich werden recht bald auch weitere erſtehen, denn den JugendD- 
bildungsvereinen liegt hier ein weites Arbeitsfeld offen, deſſen Er- 
ſchließung durch Regelung der Lokalfrage erſt voll ermöglicht wird. -- 
Auch in Hagen iſt ein Jugendheim eröffnet worden. Dort wurde 
im Januar d. J. mit der Organiſation der arbeitenden Jugend be- 
gonnen. Anfangs zählte der Verein 24 Mitglieder, aber jezt, nach zehn 
Monaten, ſind es deren 85 geworden, nämlich 70 Jungen und 15 MäD- 
<<. Durch Veranſtaltung von Ausflügen, Spielen und Vorträgen iſt 
cs dem Verein gelungen, die Jugendlichen immer mehr für unſere 
Sache zu intereſſieren. Cins aber fehlte bis jekt, ein paſſendes Lokal. 
Durc<h Eutgegenkommen des Allgemeinen Konſumvereins in Hagen ijt 
dieſem Ucbelſtand nun abgeholfen und wurde die ECinrichtung eines 
Jugendheims ermögliäht. Am 7. November fand deſjen Einweihung 
ſtatt. Wie uns geſc<rieben wird, war e8 wirklich vine Freude, mitanz11- 
ſchen, mit wel<em Stolz die Jugendlichen ihr in der Althagener Straße 
befindliches Heim vorzeigten. E3 ſind zwei Zimmer, in denen ſich unſere 
Freunde des Sonntagsnachmittags bei Spielen, Leſen und Vorträgen 
zuſammenfinden. Selbſtverſitändlich wird bei den Zuſammenkünften der 
Alfohol ſtreng gemieden. Bei der Beſichtigung de3 neuen Heims ſprachen 

	        
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