zeilage zur „Arbeiter-Jugend'
Nummer 23 | -
:. „Bier Tage.
Erzählung von W. Gürſc<hin. Aus dem Rufſiſchen von A. Lampert.
4 fann mid) noch darauf beſinnen, wie wir durc; den Waid
T liefen, wie die Kugeln um un3 pfiffen, wie die von ihnen
getroffenen Zweige zu Boden fielen, wie wir uns durch
zichtes Hagedorngeſträuc<h hindur<arbeiten. Die Schüſſe wurden
immer häufiger. Am Waldes8ſaum erſchien etwas Rotes -- bald
hier, bald dort leuchtete e8 hindurh. Sidorow, ein junger Soldat
aus der erſten Kompagnie („wie iſt er hierher zu uns geraten?“
blißte in mir der Gedanke auf), kauerte plößlich auf dem Boden
nieder und ſah mich ſ<weigend, mit großen, erſ<ro&enen Augen
an. Aus ſeinem Munde floß Blut. Ja, das weiß ich noc< ganz
Jena. ,
S< weiß auch, wie ih am Waldſaum, mitten im dichten
voſträuch, ihn erblit habe. E38 war ein rieſenhafter, dicker
Türfe*), aber ich lief gerade auf ihn zu, obwohl ich j<wac<h und
ein war. Da =- ein Knall und etwas, wie mir ſchien, rieten-
„roßcs, floq an mir vorüber; in den Ohren begann es zu klingen
ind zu jauſcn.
„Er hat nach mir geſchoſſen,“ zuckte es mir durch den Kopf.
ivx aber, mit eineni Schrei des Entſetens, drückte ſich mt dem
weiden gegen das Hagedorngeſtrüpp. Der Strauch konnte Leicht
ingangen werden, aber vor lauter Angſt dachte er nicht daran
imd drängte ſich in -das ſtachelige Gezweig. Im Nu ſchlug ich
ihm fein Gewehr aus der Hand, im nächſten Augenblick ſtach ich
blindling8 mit meinem Bajonett drauf los. Etwas brüllte over
nöhnte laut auf. Dann lief ich weiter.
Unfere Loute ſchrien Hurra! fielen hin, Ichoſſen. I< er-
innere mich, auch einige Male geſchoſſen zu haben -- als ic<
bereifs aus deim Wald hera1wu8, auf der Lichtung war. Auf einmal
ertönte das Hurra lauter und wir ſtürmten vorwärts. Nein,
"icht wir, ſondern nur unferc Leute, ich aber blieb. Dies kam
nir ſonderbar vor. Aber no< ſeltſamer erichien es mir, daß
»lößlich alles verſchwunden war: das Rufen und Gewehrknattern
war verſtummt. .I<h hörte nichts und fah nur etwas Blaunc8.
Es war wohl der Himmel. Aber dann verſchwand auch er.
*
Rod) nic war ich in einer jo fonderbaren Lage. I< Liege,
'9 ſcheint e87 auf dem Bauch und ſehe nur ein kleines Stückchen
Boden. Einige Gras8halme, eine Ameiſe, die, den Kopf nach
inten, von. einem dieſer Halme herabſteigt, kleine Stücchen ver-
dorrter vorjähriger Blätter =- das iſt meine ganze Welt. Und
auh die ſche ich nur mit einem Auge, das andere iſt von etwas
Sarten zugedrückt, wahrſcheinlich von dem Zweig, auf dem mein
vopf ruht. Mir iſt furchtbar unbequem, und ich möchte mich
bawpegen, fann es aber niht und begreife gar nicht warum. So
vergeht die Zeit. Id) höre die Grillen zirpen, die Bienen ſummen.
Weiter nichts. Endlich, mit aller Kraftanſtrengung, ziche ich
meinen rechten Arm unter mir hervor und, indem im mich auf
bride Arme ſtüße, mache i< den Verſuch, mich auf die Knie auf-
zurichten.
Etwas Scharfes, Blitartiges dur<zu>t mich von den Kuteen
bis zur Bruſt und Kopf, und ich ſtürze zu Boden. Und wieder die
Sinſternis, wieder das Nichts.
I< bin aufgewacht. Warum ſche ich die Sterne, die jo hcU
ain dunfelblauen Himmel Bulgariens leuchten? Bin ic) denn
nicht im Lagerzelt? Warum habe ic<ß es verlaſſen? J< mache
vine leiſe Bewegung und fühle ſofort einen quälenden Schmerz
in den Beinen. ,
Xa, ic; bin verwundet. Gefährlich oder nicht? I< be-
fühle die Beine dort, wo ſie ſ<merzen. Das linke und das rechte
ſind beide mit eingetroc>netem Blute bede>t. Bei dex Berührung
ninimt der Schmerz noß zu. Er erinnert an Zahnſ<merz, 10
unaufhörlich bohrt er. In den Ohren dröhnts wie Glocken-
*) Die Handlung fpielt im ruſſiſch-türkiſchen Krieg von 1877. Der
Ueberſeßer.
Berlin, den 4. Dezember 1999
1. Jahrgang
geläute, der Kopf iſt ji<wer. JI<4 verſtehe, daß ich an beiden
Beinen verwundet bin. Wa3 iſt denn das? Warum hat
man mich liegen laſſen? Sind wir denn beſiegt? IH beginne,
mir alles Gejhehne ins Gedächtnis zurüczurufen, zuerſt dunkel
und verworren, dann immer flarer und komme endlich zur Ueber-
zeugung, daß wir gar nicht beſiegt ſind. Weil ich gerade oben
auf dem Hügel, auf der kleinen Lichtung geſtürzt bin. Dieſe
Lichtung hat un3 unſer Sauptmann gezeigt und mit ſeiner hellen
Stimme gerufen: „Kerls, da müſſen wir hin!“ Und nun waren
wir dort: alſs ſind wir nicht befiegt. . . . Warum hat man mich
aber liegen laſſen? Sier auf der Lichtung kann man doch alle3
jeben. Gewiß bin ic) auch nicht allein hier. Sie haben doch 19
oft gelhoffen. Man muß Umſc<au halten. Jett kann ich es eher
tun, denn als ich mich vorhin aufzurichten verjucht habe und
wieder umgefallen bin, kam ich nicht wie früher auf den Bauch,
ſondern auf den Rüden zu liegen. DeS8halb ſfeße ich jezt die
Sterne.
I< richte mich auf und ſiße nun. Das fällt aber 1<wer
genug, wenn beide Beine verwundet ſind. Einige Male ver-
zweifelte ich faſt; endlich aber, mit Tränen, die vom Schmerz er-
zivungen mir in die Augen traten, ſiße ich doc).
Ueber mir -- ein Stück ichwarz-blauen Himmels, in dem ein
großer und einige fleine Sterne funfeln; ringö5um jteht etwas
Dunkles. Das iſi Geſträuch! I< liege mitten im Geſiräuch!
Man hat mich nicht gefunden!
IT<Hh fühle, wie mir die Haare zu Berge jichen.
Doch -- wie komme ich ins Geſträuc<, während man mich
ja auf der Lichtung niedergeſchoſſen hat? Wahricheinlich habe
' ich mich, ſhon verwundet und faſt betäubt vor Schmerz, hierher
geſchleppt. Sonderbar, daß ich mich jetzt faum rühren fann und
damals es verjucht habe, bis zu diejem Geſträuch zu kommen.
Vielleicht wurde ich auf der Lichtung nur einmal verwundet und
dic zweite Kugel hat mich erſt hier erreicht?
Blaſſe, rötliche Fle>en umſpielen mi<ß. Der garoße Stern
erblaßt, einige kleinere verſ<hwinden allmählich. Das it der
Mond, der kommt. Wie ſchön ift es jetzt in der Heimat! . . - .
Was für ſonderbare Tönc erreichen mein Ohr? . . . Wie
ein Stöhnen. Ja, jemand ſtöhnt. Liegt vielleicht neben mir auch
jo ein Vergeſſener mit dur<ſchofſenen Beinen oder ciner Kugel
im Leib? Rein, neben mir iſt niemand. . . . Aber das SEtvonen
tönt doh ſo aus der Nähe! . . . Lieber Gott, das bin ich ja
ſelbſt! Solch leiſes klägliches Stöhnen: habe ic denn vielleicht
ſo ſchlimme Schmerzen? Wahrſcheinlich, aber ich verſtehe, ich
fühle fie nic<t, denn der Kopf iſt mir ganz benommen, ſchwer wie
Blei. . . . Lieber liegen und |<lafen, ſchlafen. . . . Werde ich
jemals wieder aufwachen? Das iſt mir ganz gleich.
In demſelben Augenbli>, wo ich mich wieder hinlegen will,
beleuchtet ein breiter Mondſtcahl hell die Stelle, wo ich liege, und
ir ſehe etwas Großes, Dunkles, wohl 5--6 Shritic weit von
mir entfernt. Einzelne Stellen blinken im Licht. Das ijind
Knöpfe oder ein Gewehrteil. Von einem Toien oder Vor-
Da3 iſt mir egal, ich lege mich hin... .
Nein, das iſt unmöglich. Unſere Leute ſind nicht fort. Sic
find ſicher da, ſie haben die Türken geſchlagen und haben ihre
Stellungen eingenommen. Warum höre ich aber keine menſch-
ließen Stimmen, kein Kniftern der Lagerfeuer? A<JH ja, vor
Schwäche und Blutverluſt kann ich doc< nichts hören. Sie jind
äber ſicher da- „Hilfe! . . . . Hilfe! . . . .“
. Wilde, wahnſinnige, heiſere Rufe dringen aus meiner Bruſt
und finden keine An:wort. Laut hallen ſie in die friedliche Nacht-
luft. Alles andere ſchweigt. Nur die Grillen zirpen unermüdlich.
Des Mondes8 rundes Geſicht bli>t mich mitleidig an.
Wäre er ein Verwundeter, hätten ihn meine wilden Rufe
ſicher zum Bewußtſein erwe>t. Das iſt eine Leiche. Einer von
den Unſeren oder ein Türke? Du lieber Himmel, als ob es
ſchließlich nicht ganz egal wäre. Und der Schla] ſinkt fachte auf
meine müden entzündeten Augen herad.
*
wundeten.