Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

 
zeilage zur „Arbeiter-Jugend' 
 
Nummer 23 | - 
:. „Bier Tage. 
Erzählung von W. Gürſc<hin. Aus dem Rufſiſchen von A. Lampert. 
4 fann mid) noch darauf beſinnen, wie wir durc; den Waid 
T liefen, wie die Kugeln um un3 pfiffen, wie die von ihnen 
getroffenen Zweige zu Boden fielen, wie wir uns durch 
zichtes Hagedorngeſträuc<h hindur<arbeiten. Die Schüſſe wurden 
immer häufiger. Am Waldes8ſaum erſchien etwas Rotes -- bald 
hier, bald dort leuchtete e8 hindurh. Sidorow, ein junger Soldat 
aus der erſten Kompagnie („wie iſt er hierher zu uns geraten?“ 
blißte in mir der Gedanke auf), kauerte plößlich auf dem Boden 
nieder und ſah mich ſ<weigend, mit großen, erſ<ro&enen Augen 
an. Aus ſeinem Munde floß Blut. Ja, das weiß ich noc< ganz 
Jena. , 
S< weiß auch, wie ih am Waldſaum, mitten im dichten 
voſträuch, ihn erblit habe. E38 war ein rieſenhafter, dicker 
Türfe*), aber ich lief gerade auf ihn zu, obwohl ich j<wac<h und 
ein war. Da =- ein Knall und etwas, wie mir ſchien, rieten- 
„roßcs, floq an mir vorüber; in den Ohren begann es zu klingen 
ind zu jauſcn. 
„Er hat nach mir geſchoſſen,“ zuckte es mir durch den Kopf. 
ivx aber, mit eineni Schrei des Entſetens, drückte ſich mt dem 
weiden gegen das Hagedorngeſtrüpp. Der Strauch konnte Leicht 
ingangen werden, aber vor lauter Angſt dachte er nicht daran 
imd drängte ſich in -das ſtachelige Gezweig. Im Nu ſchlug ich 
ihm fein Gewehr aus der Hand, im nächſten Augenblick ſtach ich 
blindling8 mit meinem Bajonett drauf los. Etwas brüllte over 
nöhnte laut auf. Dann lief ich weiter. 
Unfere Loute ſchrien Hurra! fielen hin, Ichoſſen. I< er- 
innere mich, auch einige Male geſchoſſen zu haben -- als ic< 
bereifs aus deim Wald hera1wu8, auf der Lichtung war. Auf einmal 
ertönte das Hurra lauter und wir ſtürmten vorwärts. Nein, 
"icht wir, ſondern nur unferc Leute, ich aber blieb. Dies kam 
nir ſonderbar vor. Aber no< ſeltſamer erichien es mir, daß 
»lößlich alles verſchwunden war: das Rufen und Gewehrknattern 
war verſtummt. .I<h hörte nichts und fah nur etwas Blaunc8. 
Es war wohl der Himmel. Aber dann verſchwand auch er. 
* 
Rod) nic war ich in einer jo fonderbaren Lage. I< Liege, 
'9 ſcheint e87 auf dem Bauch und ſehe nur ein kleines Stückchen 
Boden. Einige Gras8halme, eine Ameiſe, die, den Kopf nach 
inten, von. einem dieſer Halme herabſteigt, kleine Stücchen ver- 
dorrter vorjähriger Blätter =- das iſt meine ganze Welt. Und 
auh die ſche ich nur mit einem Auge, das andere iſt von etwas 
Sarten zugedrückt, wahrſcheinlich von dem Zweig, auf dem mein 
vopf ruht. Mir iſt furchtbar unbequem, und ich möchte mich 
bawpegen, fann es aber niht und begreife gar nicht warum. So 
vergeht die Zeit. Id) höre die Grillen zirpen, die Bienen ſummen. 
Weiter nichts. Endlich, mit aller Kraftanſtrengung, ziche ich 
meinen rechten Arm unter mir hervor und, indem im mich auf 
bride Arme ſtüße, mache i< den Verſuch, mich auf die Knie auf- 
zurichten. 
Etwas Scharfes, Blitartiges dur<zu>t mich von den Kuteen 
bis zur Bruſt und Kopf, und ich ſtürze zu Boden. Und wieder die 
Sinſternis, wieder das Nichts. 
I< bin aufgewacht. Warum ſche ich die Sterne, die jo hcU 
ain dunfelblauen Himmel Bulgariens leuchten? Bin ic) denn 
nicht im Lagerzelt? Warum habe ic<ß es verlaſſen? J< mache 
vine leiſe Bewegung und fühle ſofort einen quälenden Schmerz 
in den Beinen. , 
Xa, ic; bin verwundet. Gefährlich oder nicht? I< be- 
fühle die Beine dort, wo ſie ſ<merzen. Das linke und das rechte 
ſind beide mit eingetroc>netem Blute bede>t. Bei dex Berührung 
ninimt der Schmerz noß zu. Er erinnert an Zahnſ<merz, 10 
unaufhörlich bohrt er. In den Ohren dröhnts wie Glocken- 
 
*) Die Handlung fpielt im ruſſiſch-türkiſchen Krieg von 1877. Der 
Ueberſeßer. 
Berlin, den 4. Dezember 1999 
1. Jahrgang 
 
geläute, der Kopf iſt ji<wer. JI<4 verſtehe, daß ich an beiden 
Beinen verwundet bin. Wa3 iſt denn das? Warum hat 
man mich liegen laſſen? Sind wir denn beſiegt? IH beginne, 
mir alles Gejhehne ins Gedächtnis zurüczurufen, zuerſt dunkel 
und verworren, dann immer flarer und komme endlich zur Ueber- 
zeugung, daß wir gar nicht beſiegt ſind. Weil ich gerade oben 
auf dem Hügel, auf der kleinen Lichtung geſtürzt bin. Dieſe 
Lichtung hat un3 unſer Sauptmann gezeigt und mit ſeiner hellen 
Stimme gerufen: „Kerls, da müſſen wir hin!“ Und nun waren 
wir dort: alſs ſind wir nicht befiegt. . . . Warum hat man mich 
aber liegen laſſen? Sier auf der Lichtung kann man doch alle3 
jeben. Gewiß bin ic) auch nicht allein hier. Sie haben doch 19 
oft gelhoffen. Man muß Umſc<au halten. Jett kann ich es eher 
tun, denn als ich mich vorhin aufzurichten verjucht habe und 
wieder umgefallen bin, kam ich nicht wie früher auf den Bauch, 
ſondern auf den Rüden zu liegen. DeS8halb ſfeße ich jezt die 
Sterne. 
I< richte mich auf und ſiße nun. Das fällt aber 1<wer 
genug, wenn beide Beine verwundet ſind. Einige Male ver- 
zweifelte ich faſt; endlich aber, mit Tränen, die vom Schmerz er- 
zivungen mir in die Augen traten, ſiße ich doc). 
Ueber mir -- ein Stück ichwarz-blauen Himmels, in dem ein 
großer und einige fleine Sterne funfeln; ringö5um jteht etwas 
Dunkles. Das iſi Geſträuch! I< liege mitten im Geſiräuch! 
Man hat mich nicht gefunden! 
IT<Hh fühle, wie mir die Haare zu Berge jichen. 
Doch -- wie komme ich ins Geſträuc<, während man mich 
ja auf der Lichtung niedergeſchoſſen hat? Wahricheinlich habe 
' ich mich, ſhon verwundet und faſt betäubt vor Schmerz, hierher 
geſchleppt. Sonderbar, daß ich mich jetzt faum rühren fann und 
damals es verjucht habe, bis zu diejem Geſträuch zu kommen. 
Vielleicht wurde ich auf der Lichtung nur einmal verwundet und 
dic zweite Kugel hat mich erſt hier erreicht? 
Blaſſe, rötliche Fle>en umſpielen mi<ß. Der garoße Stern 
erblaßt, einige kleinere verſ<hwinden allmählich. Das it der 
Mond, der kommt. Wie ſchön ift es jetzt in der Heimat! . . - . 
Was für ſonderbare Tönc erreichen mein Ohr? . . . Wie 
ein Stöhnen. Ja, jemand ſtöhnt. Liegt vielleicht neben mir auch 
jo ein Vergeſſener mit dur<ſchofſenen Beinen oder ciner Kugel 
im Leib? Rein, neben mir iſt niemand. . . . Aber das SEtvonen 
tönt doh ſo aus der Nähe! . . . Lieber Gott, das bin ich ja 
ſelbſt! Solch leiſes klägliches Stöhnen: habe ic denn vielleicht 
ſo ſchlimme Schmerzen? Wahrſcheinlich, aber ich verſtehe, ich 
fühle fie nic<t, denn der Kopf iſt mir ganz benommen, ſchwer wie 
Blei. . . . Lieber liegen und |<lafen, ſchlafen. . . . Werde ich 
jemals wieder aufwachen? Das iſt mir ganz gleich. 
In demſelben Augenbli>, wo ich mich wieder hinlegen will, 
beleuchtet ein breiter Mondſtcahl hell die Stelle, wo ich liege, und 
ir ſehe etwas Großes, Dunkles, wohl 5--6 Shritic weit von 
mir entfernt. Einzelne Stellen blinken im Licht. Das ijind 
Knöpfe oder ein Gewehrteil. Von einem Toien oder Vor- 
Da3 iſt mir egal, ich lege mich hin... . 
Nein, das iſt unmöglich. Unſere Leute ſind nicht fort. Sic 
find ſicher da, ſie haben die Türken geſchlagen und haben ihre 
Stellungen eingenommen. Warum höre ich aber keine menſch- 
ließen Stimmen, kein Kniftern der Lagerfeuer? A<JH ja, vor 
Schwäche und Blutverluſt kann ich doc< nichts hören. Sie jind 
äber ſicher da- „Hilfe! . . . . Hilfe! . . . .“ 
. Wilde, wahnſinnige, heiſere Rufe dringen aus meiner Bruſt 
und finden keine An:wort. Laut hallen ſie in die friedliche Nacht- 
luft. Alles andere ſchweigt. Nur die Grillen zirpen unermüdlich. 
Des Mondes8 rundes Geſicht bli>t mich mitleidig an. 
Wäre er ein Verwundeter, hätten ihn meine wilden Rufe 
ſicher zum Bewußtſein erwe>t. Das iſt eine Leiche. Einer von 
den Unſeren oder ein Türke? Du lieber Himmel, als ob es 
ſchließlich nicht ganz egal wäre. Und der Schla] ſinkt fachte auf 
meine müden entzündeten Augen herad. 
* 
wundeten.
	        
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