274
| Arbeiter Jugend. --
Sch liege mit geſchloſſenen Augen, obwohl ſ<Hon längſt wach.
I<H will ſie nicht öffnen, denn dur< die geſenkten Lider fühle ich
deutlich das heiße Sonnenlicht: wenn ic< dic Augen öffne, wird
es mir weh tun. Eigentlich iſt e8 ja überhaupt beſſer, ich rühre
mich nicht. . . . Geſtern (e8 war doh geſtern?) bin ich verwundet
worden, ein Tag iſt ſchon ſeither verfloſſen, ein zweiter wird ihm
folgen, ich werde ſterben. Iſt auc<ß egal . . . . Lieber rühre ich
micß nicht. Mag der Leib unbeweglich ſein. Wenn man nur die
Arbeit des Gehirns zum Stehen bringen könnte! Aber unmöglich.
Gedanken, Erinnerungen drängen ſich im Kopf. Uebrigens wirds
nicht mehr lange dauern, das Ende kommt bald. Nur in den
Zeitungen bleiben ein paar Zeilen:
verwundet ſoundſoviel; getötet ein Gemeiner =- der Jreiwillige
Jwaiwow. Nein, nicht einmal der Name wird drin jtcehn, nur:
an Toten = ein Gemeiner. == == =- | |
Die Hiße nimmt zu. Dice Sonne brennt. I< öffne die
Aungen, ſehe dasSfelbe Geſträuch, denſelben Himmel, aber bei Tages-
licht. Da iſt auch mein Nachbar. Ja, es iſt eine Leiche, ein
Türke. Wie groß er iſt! Jetzt kenne ich ihn: eS iſt derjelbe..
VormirliegteinMenſ<, denihgetöste t habe,
McsShalb, wozu habe im cs getan?
Hier liegt er tot, blutig. Wa3 für ein Schickfal hat ihn her-
getrieben? Wer iſt er? Vielleicht hat er, fo wie ich, eine alte
Mutter. Lange, trübe Stunden wird ſic an der Tür ihrer armen
Hütte ſiken und nac< dem fernen Norden ſchauen: kommt denn
nicht endlich ihr heißgelicbter Sohn, ihre einzige Stüße? . . . .
Und ich? I< bin doch au< . . . . ZJ< würde ſogar gern mit
ihm tauſchen. Wie glücklich er iſt: er hört nichts, fühlt nicht den
SO der Wunden, fühlt keinen Durſt, keine Sehnſucht . . . .
8 Bajonett iſt ihm mitten durchs Herz gegangen . . . . Da m
in "einem Ro> ein rundes, jchwarzes, Loh, blutumrändert . .
Das habeichgetan.
| I< habe ces nicht gewollt. IH wollte nientandem etwa38
Bö1ces, als ich in den Krieg zog. Der Gedanke, daß ich werde
töten müſſen, war mir ſonderbarerweife nie gekommen. 3<
hatte mir nur vorgeſtellt, wic i< ſelbſt die Bruſt den feindlichen
Kugeln werde ausſezen müſſen. Und ich ging hin und mordete.
Und nun? . . . Wie dumm war ich! Doch iſi dieſer arme
Fellache (er trägt die ägyptiſche Uniform) no< weniger an etwas
ichul d. Ehe man ihn, mit Hunderten ainderer, iwie Heringskonnen
auf dem Dampfer verſtaut hatte, wußte er ſicher nichts von Ruß-
land und Bulgarien. Man hieß ihn in den Krieg ziehen und
er gehor<te. Hätte er es nicht getan, würde er Prügel bekommen
haben, oder cs hätte ihn gar ein Paſcha mit dem Revolver nieder-
gelchoffen. Dann hatte er den langen, ermüdenden Weg von
Stambul bis nach Ruſchtſc<huf gemacht. Wir griffen an, er ver-
teidigte ſich. Aber er ſah, daß wir, die ſchre>lic<en Leute, die
fein patentiertes engliſches Gewehr nicht fürchten, immer weiter
vordrangen, und er geriet in Entſeßen. Und als er davonlaufen
wollte, ſtieß ihm cin kleiner Zwerg, den er leicht durc< die Wucht
jeiner Ichwarzen Fauſt hätte zu Boden ſtreFfen können, das
Bajonett ins Herz. Was3 kann cr alſo dafür?
Aber trage ich denn irgendeine Schuld, obwohl ich ihn ge-
tötet habe? Was. iſt meine Schuld? Was8 habe ich getan, daß
mich der Durſt ſo quält? Durſt! Wehe dem, der weiß, was
dieics Wort bedeutet. Als wir 50 Kilometer lange Tagesmärſche
durc< Rumänien in ſiedender Hiße von 40 Grad machten, ſogar
damals habe ich nichts derartiges durc<gemacht. OÖ,
jenand fäme! mn .
Herrgott! In der Riejenflaſche, die er. un hat,iſt do) jicher
Waſſer! Aber wie kommt man hin? Was für Höllenqualen
wird cs mich koſten! Sei's darum, ic<ß muß das8 Waſſer haben.
Ich ſchleppe miH hin. Die Beine hängen ſchwer wic Blei,
die Ichwachen Arme haben kaum die Kraft, den Körper fort-
zubewegen. Bi38 zur Leiche ſind es nur etwa 12 Fuß, aber für
mich iſt es mehr, nein ſchlimmer als Dutzende von Kilometern.
Aber ich muß! Die Kehle brennt wie Feuer. Und ohne Waſſer
kommt der Tod auch raſcher. Vielleicht, doch . . .
Und ich ſchleppe mich weiter. Die Füße bleiben an jeder
Unebenheit des Bodens hängen, jede Bewegung verurſacht 1un-
galiche Schmerzen. I< ſchreie, ich heule, aber troßdem --- ich
muß hin! Endlich! Da iſt er! Da iſt die Flaſche '-- Waſſer,
und 7o viel! Mehr als die Hälfte voll. Dh, das reicht mir- fir
lanae =- bis zum Tod! (Schluß folgt.)
- Icheimungen der ruſſiſchen Literatur.
unſere Verluſte unbedeutend, .
wenn nur
Krauſes ihre „Wieſe'
W. Garſc<hin, geb. 1855, geſt. 1888, iſt eine der ſympathiſchſten EGr- .
Alle ſeine Werke ſind aus warmer
Menſchenliebe, heißem Mitgefühl für alle Unterdrücten geboren. . Von
Natur aus mit einer zart beſaiteten, überaus empfindlichen Seele be=
gabt, konnte er nicht gleichgültiger Zuſchauer dex Greuel und Un-
geredhtigleiten bleiben, dig das ruſſiſche Leben in Fülle bot, und der
Wahnſinn, der in den leiten Jahren ſeines Lebens oftmals ſeinen Geiſt
umnachtete und ihn ſchließlich zum Selbſtmord trieb, iſt zum größten
Teil auf die überwältigend-ſc<merzlichen Cindrüde zurüczuführen, Die
: aus .dem traurigen politiſchen und gejellichaftlichen Leben Rußlands
auf ihn einſtürmten.
Gin nicht unbedeutender Teil von 'Garſchins Werken iſt der
kämpfung des Krieges gewidmet, in dem er eine der ſchlimmſten
Heimjuchungen der Menſchheit ſah. Zu dieſer Kategorie gehört auch
vorliegende Skizze. Jhre Handlung pielt im ruſſiſch-türkiſchen Krieg
von 1877, an dem Garſchin al3 Freiwilliger teilgenommen hatte -- teils
verblendet von der falſchen Vorſtellung, als gelte der Krieg der Be=
freiung Bulgariens vom türkiſchen Joch, teils aber, weil er jich moralijbs
verpflichtet fühlte, an den Laſten und Opfern, die der Krieg dem
zuſſiſchen Volke auferlegte, mitzutragen. Sv ſte>t denn in den „Vier
Tagen“ zweifellos viel Selbſterlebtes. Den unmittelbaren Anlaß ZUL
Niederſchrift empfing Garſchin von einem Soldaten, der vier Tage lang,
ohne Nahrung .und Trank, an beiden Beinen verwundet, auf dem
Schlachtfeld, mitten unter Toten, zugebracht hatte. --
Cin Bändchen Novellen von Garſchin iſt in deutſcher Ueberſczung
in Reclams Umwverjalbibliothei (Rreis 20 Pf.) erſchienen.
€
Ahnenlied.
Meinen Großvaker hab' ich noch gekannt,
Er krug ſein Bündel übers Land,
Und konnte nicht ſchreiben unv konnte nicht leſen,
Und iſt ein armer Hauſierer geweſen.
B6-
/%- %-
Doch wenn ich meinen Vater frag:
: „Wer war deines Vaters Vater? ſag'!“
Er lächelt traurig: „Wie ſoll ich das ſagen!
Er hat ſein Bündel durchs Land getragen.
„Und vor ihm all* die tauſend Jahr,
Wer unſer Ahn und LTUrahn war?
Was könnke uns an ſie. gemahnen?
Arme haben keine Ahnen!“
Elend, Verfolgung, Jammer und Not.
Dunkel ihr Leben, dunkel ihr Tod!
Und ich ſchäme mich faſt, dur< den Abend zu gehen,
Und ſeine Schönheit und Duft zu verſtehen:
Denn vor mir und neben mir keucht es ſchwer,
Da zieht meiner Ahnen dunkles Heer
Mit wunden Rücken und Füßen, die brennen,
Und mit ernſten Augen, die mich nicht kennen...
Hugo Salus.
3IZDDSSS€
Zuerſt Mama und dann Papa.
Von Wilhelm Scharrelmann. -
m Inneren der Großſtadt, dort, wo die Gaſſen ant engſten
und die Mauern und Dächer von dem Rauch der unzähligen
Schornſteine ringösum am ſc<wärzeſten ſind, liegt im vierten
Sto> eines alten Mietshauſe8 eine armſelige Dachwohnung. Sic
beſteht aus zwei engen Zimmern, von denen nur das eine ein
Jenſter hat. Aber .die Wohnung hat einen Vorzug, der die Be-
wohner die Winkligkeit und Enge, die zerriſſenen, uralten Tapeten
an den - Wänden, 'den ausgetretenen Fußboden und die blinden
Scheiben im Erkerfenſter immer wioder vergeſſen läßt =-- man
fann von der kleinen Küche aus auf oin flache3z Dac< hinaus-
treten, das wie ein luftiger Garten hinter der kleinen Wohnung
liegt. Ein früherer Beſitzer des Hauſes hat jogar Erde hier
vinaufic<haffen laſſen, umd wenn auch nicht3 rechtes auf dem aus-
qeſogenen und vom Regen ausgewaſchenen Boden wächſt, das
Gras, das in dunnen Hälmc<hen überall hervorſproßt, findet doch
immmer noch einige Nahrung in dem kieſigen; flachen Grund. Aber
die Feuerbohnen, die Mutter Krauſe m jedem Frühjahr an dem
eiſernen Geländer in ſc<hwindliger Höhe über den diiſteren Höfen
der Nachbarhäuſer zu ziehen pflogt, zeigen deutlich, daß ſic nicht
die Abſicht haben, durc< Lebensfülle, Friſche und Fruchtbarkeit in
einen ſtilwidrigen Gegenjab zu ihrer Umgacbung zu geraten.
Dieſes Dach mit ſeinem ſpärlichen Graswuchs und den ſchwind-
fjüchtigen- Feuerbohnen an feiner viſernen Umfriedigung nannteii
Sie waren ſtolzer darauf, als ein Gutit3s-