Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

 
 
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Redaktion ſind zu richken an Karl Zorn, 
Lindenſtraße 69, Berlin SW, 6 
Februar 1909 
 
Arbeitsloſigkeit. 
Cin furchtbares Wort das! E83 löſt Erinnerungen aus an 
dUutiger und Entbehrung, an das Elend der Landſtraße, an hoſfſ- 
nunG8loſe8 Ringen mit der Not, an Demütigung und Verzagtheit. 
ind welche Arbeiterfamilie hat e38 nicht ſ<on dur<gemact, das 
traurige Schickſal der Arbeitsloſigkeit, welcher Arbeiter weiß nicht ein 
vied davon zu ſingen, wie plößlich die Entlaſſung kam, wie er dann 
Tage, Wochen, vielleicht Monate lang auf der Suche nac< Arbeit 
war! Auf der anderen Seite, welßh ein Widerſinn in dieſem 
Worte =- Arbeit3lofigkeit! Tauſende und Abertaujende von Ar- 
beitern wollen arbeiten und dürfen e8 nicht. Ja, wie denn? 
baben wir wirklih zu viel an Produkten der Akbeit, an 
ahrungsnnitteln, Kleidern, Haus8gerät, an allem, was zu de3 
Yebans Notdurft gehört? Haben wir ſo viel davon, daß die 
fleißigen Hände, die dieſe Dinge herſtellen, ruhen müſſen? Jt 
nichts mehr zu tun im Kampfe des Menſc<engeſc<hle<hts mit der 
Natir, daß Tauſende und Abertauſende ſtarfer Arme müßig ſein 
müſſen? Noin, Paillionen darben, es fehlt an Nahrung, Millionen 
haben nicht genügend Kleidung, Millionen hauſen m Wohnungen, 
die ein Hehn auf die Kultur ſind; unjere Stadte brauchen Bauten, 
unſere Verkehr3ömittel find ungenügend; gewaltige Strecken 
Landes harren der Menſchenhand, die fie urbar machen ſoll, die 
Zlüſſe ſind m<ht eingedämmt, die Waſſerkräfte werden micht aus- 
gcnüßt. Arbeit und immer wieder Arbeit heiſcht das Leben der 
Veenſchheit, denn nur durch Arbeit iſt dem Mangel zu ſteuern. 
Und da Tprechen wir von Arbeitsloſigkeit! Und da müſſen 
Vienſchen, die dieſe Arbeit verrichten können und verrichten 
wollen, müßig gehen und müſſen darben! Wie im Tollhaufc 
niniet dieſer Zuſtand uns a. 
Warum dem [o iſt2 Ei nun, weil die Grundlageit unſeres 
wirtſchaftlichen Lebens, die Grundlagen der kapitaliſtiſchen 
Crdnung, mit N totwendigkeit zu dieſem widerſinnigen Zuſtand 
wiren müſſen. Die Arbeit ſchafft die Güter, deren die Menſchen 
zum Leben bedürfen. Aber die Arbeit3mittel, die nötig ſind, uni 
| die Schöpferkraft der Arbeit in Tätigkeit zu ſetzen, dic Pro- 
| dvuttionsmittel, d. h. die Werkzeuge, die Maſchinen, die Fabriken, 
8 der Boden =- die ſind Privateigentum Einzelner. Die Viillionen 
8 der Lohnarbeiter können mir arbeiten, wenn jene Eigentümer, 
8 ic Kapitaliſten, dieſe Arbeitskraft anwenden wollen, um Güter 
8 31 produzieren. Der Kapitaliſt aber fragt nicht, kann nicht fragen, 
8 was bedarf die Menſ<heit an Gütern, was und wieviel ſoll pro- 
8 duziert worden, um die Bedürfniſſe zu befriedigen; er fragt: was 
8 ain in meiner Fabrif produziert werden, damit ich dieſe3 Produkti 
F 015 Ware vorfaufe und Profit dabei erziele? Die Lohnarbeiter 
aber erhalten nur fargen Lohn, der nicht ausreicht, die Waren 
Fu inufen, die zum Leben des Kulturmenſc<en notwendig ſind. 
8 Dabei ſind aber die Arbeiter die gewaltige Mehrheit des Volkes 
M voin as die Arbeiter nicht kaufen können, ſtockt der Abſaß dor 
M Waren. Das ſind die Widerſprüche der fapitalij tiichen Wirtſchaft. 
WU weiter! Weil der einzelne Kapitaliſt nie nach dem Bedarf 
Wdor Menſc<heit, oder auch nur der Bewohner eines Staate8, fragen 
Wigan, ſondern nur nach ſeinem Profit, iſt die kapitaliſtiſche Wirt- 
Eihaft eine anar<hiſche Wirtſ<aft, eine Wirtſchaft ohne Plan, ohne 
M0 das Ganze umfaſſende Organiſation. Daher brechen regel- 
WW aßig ſchwere Sto>ungen aus, die man Wirtſchaftskriſcia nennt. 
a e Zeitlang herrſcht fieberhafte Tätiakeit auf allen Gebieten 
de! - Produktion: die Fabrifen können gar nicht Waren genug 
88) ie affen: der Kapitaliſt zeiat einen wahren Hatßhunger nach Ar- 
 
' flucht bei Eltern und Verwandten in den Kleinſtädten und 
beitökraft; neue Maſchinen werden herbeigeſchafft, die Zahl der 
Arbeiter wird vergrößert, die Arbeitszeit wird ausgedehnt, indem 
man vie Arbeiter zwingt, Ueberftunden zu machen; die Waren 
finden glatten Abſaß, die Preiſe ſteigen, der Profit iließt reichlich; 
das reizt die Kapitaliſten no< mehr zu produzieren, neue Fabriken - 
entjtehen und die tolle Jagd geht weiter, es jcheint als wenn es 
eine Grenze gibt. Dann -- plößlich kommt der Krach. Irgendwo 
iſt auf dem Markt eine Stockung eingetreten, eine beſtimmte Ware 
iſt in zu großen Mengen da, ſie kann nicht mehr verkauft werden. 
Einzelne Fabrifanten und Kaufleute werden bankrott. Dieſe 
Bankrotite ziehen weitere nach ſich. lawinenartig jetzt ſich das fort 
und bald ſtellt ſich heraus, daß der ganze Warenmartkt überfüllt 
iſt. Die Preiſe ſinken, der Kredit ic<windet, Bankrott folgt auf 
Bankrott, das ganze Getriebe gerät ins Sto>en. Jetzt wird die 
PKroduftion gewaltjam eingeſchräntt, Arbeiter werden entlaijen, 
Feterſc<hichten werden «cingelegt, die Löhne werden herabgejeßt. 
Aber Je geringer das Cinfommen der aroßen Matten, detto 
weniger Waren können dieſe Maſſen kaufen, deſto mehr ſtockt der" 
Warenabſaß. Das8 iſt die Kriſe. =- Allmählich fommt dann vas 
Getriebe wieder in Gang. Eine Anzahl Kapitaliſten i't ruiniert, 
cine Unmenge von Waren iſt entwertet; jo weicht allmählich der 
Warenüberfluß und von neuem entſteht Nachfrage noch Waren, 
von neuem wird die PBroduktion crweitert, bis wieder jens tolle 
Haß einſeßt, auf die ein neuer Krach unfehlbar folgen muß, nd 
jo immer von neuem im Kreiſe. 
Zurzeit erleben wir eine folche Kriſe. Die vorlegte fiel in das 
Tahr. 1900/1901. Dann ging es langſamaufwäri5 unddie Jahre 1965, 
1906, 1907 waren Jahre einer ungeheuren Produtftionsteigerung, 
einer „Hochkonjunktur“, bis dann im Herbſt 1807 der Krach 
eintrat. 
Seitdem hat die Arbeitslofigfoeit von Tag zu Tag weiter uni 
ſich gegriffen und noh iſt kein Ende abzuſehen. 
In den Tagen vom 12. bis 14. Februar haben die orgammierteit 
Arbeiter in Berlin aine Arbeit3lofenzäblung ver- 
anſftaltet. 101 300 Arbeitslofe wurden dabei in Berlin und ſeinen 
Vororten ermittelt. Welch eine Unjumme voin Jammer und Clend 
ſpricht aus dicjer Zahl! Und doch kennzeichnet ſie die Lage niht 
vollſtändig, denn es haben bereits viele Tauſende von Arbeitern 
im Laufe des Krifenjahre38 1908 Berlin verlaſſen, betonders 11m- 
verheiratete, jugendliche Arbeiter. 
Die einein von ihnen ſuchen Zit- 
auf 
dem Lande, wo fie ſich kümmerlich dur<ſchlagen Bud darvden, 
andere ziehen unſtet auf den Landſtraßen unbe. 
In anderen Induſtriezentren ijt es nicht anders. Jeder Tag 
bringt jeßt neue HiobS8poſt: zunehmende Arbeitsloſigkeit in der 
ſächſiſchen Tertilinduſtrie, Arbeiterentlaſſungen in den Kohlon- 
gruben und Eiſenhüttenwerkfen uw. 1)w. 
Fragen wir nun: kann man die Arbeitsloſigkeit verhindern? 
jo lautet die Antwort: nein! Solange die kapitaliſtiſche Wirt- 
ſchaft beſtehen bleibt mit ihram ungeregelten Getriebe, ihrer An- 
archie, ſolange wird anch dieſe Geißel beſtehen, ſolange wird der 
Unſinn traurige Wirklichkeit bleiben, daß von Zeit zu Zeit 
Hunderttauſende von Arbeitern müßig gehen müſſen, troßdem ihre 
Arbeit notwendig wäre, um Gitter zu | ichaffen für de Menſchen, 
daß die Krijen Millionen von Arbeitern in kraſſes Elend ſtürzen. 
Das iſt einer der Gründe, warum wir Sozialdemokraten die fapi- 
taliſtiſche Ordnung bekämpfen. 
Eine andere Frage iſt es, ob bei der beſtehenden Ordnung 
"das Elend der Arbeitsloſigkeit gemildert werden kann. 
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