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1909
Utopiſten.
WM oden Denker und Dichter, der dem Jammer feiner Zeit kühn
FT das Bild einer Geſellſchaft8ordnung gegenüberſtellt, die nicht
A mehr vom Ozean des Elends überflutet wird, in der nicht mehr
Menſchen aus Goldgier oder Hunger ſich wie Raubtiere im wilden
Kantpfe unt Daſein zerfleiſchen, -- jedem ſolchen Verkünder einer
glüdlicheren Menſchheitszufunft wird von der kurzſichtigen und zäh
aim Alten hängenden Witwelt das Hohnwort „Utopiſt“ ent-
Jegengeſchleindert. Utopiſt oder kurzweg -- „Narr“, wie
Vöranger, ver franzöſiſche Volks8dichter und Verſpotter ſpieß-
bürgerlicher Beſchränftheit in ſ<merzlicher Entrüſtung ein Gedicht
überſchrieben hat, das dem Andenken dreier franzöſiſc<er Utopiſten
aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, Saint Simon,
Fourier und Enfantin, gewidniet iſt. Da heißt es in der deutſchen
Veberjfeßung von Chamiſſo (1838) :
„Wir gleichen bleiernen Soldaten,
Genau gerichtet nach der Schnur;
Wagt aus dem Glied mit Worten, Taten
Sich einer: = „Scht den Narren nur!"
Und Haß und Hohn wird ihm geboten,
Bis einſt vielleicht wird aufgeſtellt
Gin Standbild dem verehrten Toten,
Zum Vorbild der gejamten Welt.“
Aber iſt man eigentlich berechtigt, „Utopiſten“ und „Narren“
Gieichzufeßen?
Die Wörter Utopiſt UND dus dieſem zugrunde liegende Utopie
haben einen eigenartigen Bedeutungs8wechſel erfahren. Zum erſien
Viale erſcheint das Wort „Utopie“ in der Schriftſprache im Titel
anes merfwürdigen Buches au8 dem Jahre 1516:
„Gin wahrhaft goldenes Büchlein --- nicht minder heilſam als8
<rgeBlich zu lejfen --- von der bejten Verfaſſung des Gemeintveſens
nd von der neuen Inſel Utopia.“
Da3 Buch hatte einen no<4 merkwürdigeren Mann zum Ver-
faſter, den ſpäteren engliſchen Lordkanzler Thomas Morus
(lateintiche Form für More), der im Jahre 1535 auf dem Schafott
endete. Wian hat Veorus wohl mit Recht den Vater des utopiſchen
CozialiSmus genannt. ZIn ſeinem obengenannten Hauptwerke
ihildert Morus einen Jdealſtaat auf der Inſel Utopia, um in der
Tarſtellung dieſes glülichen Gemeinweſens ſeiner Gegenwart,
das heißt, dem England zu Beginn de3 ſechzehnten Jahrhunderts,
einen Spiegel vorzuhalten“ ).
Der Name Ut6pia oder Vtoptle -- von Moru3 aus
dem Griechiſchen ou = nicht, topos == Land, Ort, Plaz gebildet,
aljo eigentlich = Unland, Nirgendheim = hat ich dann in der
8 Sprache ſpäterhin zum allgemeinen AusSdru> für Traumland,
8 Wolkenkucku>38heim, kurz für etwa3, deſſen Verwirklihung un-
gmoglich erſcheint, etwas rein Phantaſtiſches, gewandelt. Man la3
gewiſſermaßen aus dem „Nirgend“heim ein „NRiemals“heim heraus.
AD! ' behaglich zufriedene Spießbürger glaubt immer, daß, was in
Bleiner Zeit noch nicht iſt, auc<h nie ſein kann. öhm iſt Der Menſch, der
8“on andersgearteter Zukunft ſpricht, ſtets ein Träumer, ein Narr
gj cin Utopiſt. Wie oft wird nicht am Stammtiſch der Philiſter
Mido ſozialiſtiſche Forderung als närriſcher Utopismus abgetan!
wO'c Eugen Richter, die den SozialiSmus zu töten glauben, wenn
vc dummdreiſt das Zerrbild eines Zukunftsſtaate3 an die“ Wand
E alen, ſterben nicht aus. Menſchen und Volksſchichten jedoch, die
En dieſer „beſten der Welten“ auf der Schattenſeite zu ' 'wohnen
8396 erſchienen; Preis 2 MX. Ueber Moru3 und ſeine Zeit vergleiche:
4 arl Kautsky, Thomas More und ſeine Utopie, Stuttgart, Dieß, 2,50 Mk.
Kreiſe zur Nachahmung begeiſtern jollten.
*). Eine gute Verdeutſhung der „Utopia“ iſt bei Grnſt in Münden |
gefommen ſind oder dieſe wenigſtens ehrlich zu erforichen geſucht
haben, denfen anders über die Herrlichkeit und Unvergänglichfeit
ver Gegenwart3ordnung.
Auch in der Geſchichte des Sozialiö8muS3 haben die
Wörter „Utopiſt“, „utopiſch“ eine beſondere Färbung angenommen.
Wan ſtellt als die zwei Hauptperioden den utopiſ<en und
den wiſſen] <aftlichen Sozialis8mu838 einander gegen-
über, wie es zum Beiſpiel Friedrich Engels in der befannten und
immer wieder lefenä3weriten Schrift: „Die Entwickelung des
Soziali8mus8 von der Utopie zur Wiſſenſchaft“ (Berlin, Vorwärt8-
Buchhandlung, 40 Pf.) getan hat. Man fonnte auch von der Ent-
wickelung eine38 bloß gefühbl8mäßigen ſozialiſtiſchen Glaubens
zum ſozialiſtiſchen Wiſſen ſprechen. Die Utopiſten „glaubten“,
daß. einmal der SozialiSmus die Menſ<heit erlöſen werde; wir
„wiſſen“, daß mit innerer Notwendigkeit der KapitaliSmus zum
SozialiSmus hinführen muß. Daraus geht ſhon hervor, daß nicht
das jozialiſtiſ<e Endziel an ſich = im heutigen Wortſinne =-
als utopiſcher, phantaſtiſcher Boſtandteil jenes älteren SozialiSmis
vom wiſſenſchaftlichen SozialiSmus abzulehnen war, jondern daB
nur der Weg zum Soziali5SmuS3 durch wiſſenſ<aftliche
Erkenntnis aufgede>t werden mußte. In jedem umfaſſenden
tozialiſtiſchen Gedankenbau wird man drei Hauptteile unter?<ciden
fönnen:
1. als Ausgangs5punkt:
Geogenwart;
2. als Zielpunkt: das ſozialiſtiſche Zukunftsideal:
8. als Weg: die Darſtellung der Mittel, die aus der traurigen
Gegenwart zur lichtvollen Zufunft führen ſollen.
Die ſogenannten utopiſchen Sozialiſten waren nun geradezu
vernichtend in ihren Gegenwartſchilderungen, begeiſternd und hell-
jehend in ihren Zufunftsträmmnen, aber findlich? in ihren Vor-
jhlägen zur Erringung ihres ſozialiſtiſchen Jdealſraatcs.
Wir müſſen uns dabei erinnern, daß der utopiſche SozialiSmmus
in einer Zeit cntſtand, wo das Proletariat nur als das an Händen
und Füßen gebundene Opfertior DCS Kaptitalis Smus erſchien, unfähig,
iich zur Wehr zu ſeßen, ja unfähig, ſich auch nur geiſtig gegen ſein
Geſ<i> aufzulchnen. Da konnte man alle Nenderung der Gofoll-
Ihaft3- und Staatsverfaſſung nur von oben, dur< Gotte3- reſp.
Fürſtengilfe, erwarten, durc< Cingareifen von mitleiderfüllten
Weiſen, Königen oder Vällionären. Auch MoruZ weiß uns zur
Entſtehung feine3 jeßigen Staates nur zu jagen, vaß der weiſe
Furſt Utopus ihn geſchaffen habe. Und die großen Utopiſten,
die 800 Jahre 1päter in Frankreich und England die ſozialiſtiſche
Zukunft in glänzenden Farben zu ſchildern wußten: Saint-Simon,
Fourier, und ihre Schüler Owen, Cabet und andere, auch fie kennen
als Mittel zur Erreichung dieſes Zieles nur die friedliche Predigt
von der Herrlichkeit des Sozialiäamus. Durch fie jollen vor allem
die Herrſchenden und Beſißenden ſelbſt ſich vom „Sertum“ der
kapitaliſtiſchen ProduktionS8weiſe abwenden. Durch ſie follen bet
den Herrſchern Staatsmittel, bei den Reichen Gelder flüſſig ge-
macht werden zur Durchführung ſozialiſtiſ<er Erperimente, das
heißt, zur Einrichtung ſozialiſtiſcher Folonien. die dann weitere
Von: Charles Fourier
(1772 bi3 . 1887) erzählt man, daß er in rührenden: Vertrauen
zehn Jahre lang täglich um 12 Uhr mittags in ſeiner Wohnung
auf den Beſuch. des reichen Mannes gewartet habe, der ihm eine
Million zur Errichtung der erſten fozialiſtiſc<en Genoſſenſchaft
anvertrauen würde. Der Millionär kam ebenſowenig, wie jemals
cin gottgeſandter Meſſias oder ein ſozialer König die Beſeitigung
der Arnmt durchgeſekßt hat.
dic Auwecdung des Matienelends der