Arbeiter- Jugend. 77
Gewerfſchafflihe Inferſfüßungseinrichfungen.
as gewerkſchaftliche Unterſtüßung3weſen hat in den leßten
zehn Jahren eine großzügige Entwickelung erfahren. Aus
den allereinfachſten Unterſtüßungseinrichtungen für reifende
Mitglieder der gewerkſchaftlihen Arbeiterorganiſationen hat ſich
in Deutſchland ein -gewerkſchaftliches Unterſtüßung3sweſen ent-
wickelt, das, wenigſtens in einem, Zweige, bahnbrechend für die
Geſeßgebung- ſein wird. Denn darüber beſtehen heute kaum
Zweifel mehr, daß die ſtaatliche ArbeitzS3loſen-
verſicherung ſc<ließlih nur auf der Grundlage zu löjen jein
wird, die die Gewerkſ<aften geſchaffen haben.
Die Unterſtüßungseinrihtungen der deutſ<en Gewerk-
ſchaften find im Gegenſaß zu denen der amerikaniſchen, teil3 auch
der engliſ<en Gewerkſchaften nie Selbſtzwe> geweſen; ſie haben
dur<au3 gewerkſ<haftliche Aufgaben zu erfüllen gehabt. Sehen
wir von der Reiſeunterſtüßung ab, die zunächſt die Uebernahme
der uralten Sitte des Reifegeſchenk8 auf die gewerkichafiliche
Organiſation bedeutet, heute aber ein Teil der gewerkſ<aftlichen
Arbeitsloſenfürſorge geworden iſt, ſo ſind ſämtliche Einrichtungen
der GewerkiFaften zur Unterſtüzung ihrer notleidenden Mit-
glieder dur<aus8 gewerkſ<aftlihen Charakters. Sie entſpringen
vem gewerftſchaftlichen Beſtreben, die Widerſtand3kraft
der Arbeiter gegenüber dem Unternehmertum zu ſtärken, in vielen
Jällen gar erſt zu ſchaffen.
Das gilt ſelbſt von der ſehr weit au8gebauten Krankenunter-
itüßzung. Wohl hat die ſtaatlich organiſierte Krankenverſicherung
neben der ärztlichen Hilfe und Medizin die Gewährung von
Krankengeld in einer beſtimmten Höhe feſtgelegt. Aber, und das
iſt für die gewerkſ<aftliche Tätigkeit auf dieſem Gebiete ent-
ſcheidend, das von den Krankenkaſſen gezahlte Krankengeld 1ſt
noh zu niedrig bemeſſen, um die Familie des Erkrankten über
Waſſer zu halien. Sie wird vor Schuldenmachen nicht bewahrt.
Nach der Geneſung de38 Familienverſorger3 muß dieſer an die
Tilgung dieſer Schulden denken. Dieſe Notlage veranlaßt ihn
eventuell zum Lohndru> Bei der hohen Zahl der Cr-
Franfungen der Induſtricarbeiter iſt das für die Gewerkſchaften
eine durchaus bedeutungsvolle Sache; ſie haben ein große3 JInter-
eſſe daran, jeglihem Lohndru> entgegenzuarbeiten. Und dieſem
Zweck dient der Zuſchuß zum Krankengeld der gejeßlichen Kranken-
verſicherung, den die Gewerkſchaften in der Form von Kranten-
unterſtüßung beute zahlen. -
Weit wichtiger iſt inde3 die Arbeits3lofenunter-
ſtü ßung der Gewerkſchaften. Sie hat die Aufgabe, bei Arbeit3-
lofigfeit, die nicht durch Krankheit, ſondern dur< die Lage des
Arbeitömarktes hervorgerufen iſt, zum Schuße der Arbeitslojen
einzugreifen. Staat und Gemeinden haben noc< nicht die Pflicht
ancerfannt, für die wegen Mangel8 an Arbeit Arbeit3loſen zu
ſorgen. Dieſe ſind alſo ohne jedwede Unterſtüßung aus öſſfent-
Ihnen bleibt nichts übrig, als zu jedem Preite
ien VSatteln.
ihre Arbeitskraft zu verfaufen oder zu verhungern.
Hier greift die gewerkiſc<haftliche Arbeitslojenunterjiüßung
ein. Gewiß, die heute noc gezahlten Unterſtüßung3jäße ſind
niedrig; aber ſie werden ausſc<licßlich aus den WMitteln der
organiſierten Arbeiterſ<aft gede>t. Jede Erhöhung bedingt auch
eine Erhöhung des Mitglieds8beitrages. Immerhin hat dieſer
Untorſtüßung3zweig, wo er biSher dur<geführt wurde, in ganz
ausSgezeichneter Weiſe zur Hebung der Widerſtandskraft der
organiſierten Arbeiter beigetragen. Wer dur< ſeine Organi-
ſation in die Lage verſeßt wird, die Zeiten der Arbeitsloſigkeit
zu überſtehen, der wird die Rolle des Lohndrücers8, die ihm die
Unternehmer zumuten, unbedingt zurückweiſen. So iſt die Ar-
beitsloſenunterſtüßung der Gewerkichaften nicht nur eine BVer-
fiherungseinrichtung, ſondern ein eminent wichtiges gewerk-
jichaftliches Kampfes8mittel.
Daneben aber wird die gewerkichaftliche Arbeitsloſenunter-
itüßung bahnbrechend für die Geſekgebung. Eine durdgreifende
Arbeitsloſenfürſorge iſt nur möglich durc< die Geſellſ<aft, durch
Staat und Gemeinden alſo. Der Staat lehnt bi38 jekt dieſe Auf-
gabe ab. Seine Organe erklären die Durchführung fiir unmög-
lic. Indes iſt e8 nigt ſchwer, die tieferen Urſachen dieſer
Stellung herau8zufinden. Das Unternehmertum wendet ſich aus
den gleichen Gründen gegen die Arbeitsloſenverſicherung, aus
denen die Gewerkſ<aften da8 hochwichtige Problem unter großen
Opfern der Arbeiterſchaft gelöſt haben. Das Arbeiterintereſſe iſt
auch in dieſer Frage dem nackten Unternehmerintereſſe entgegen-
geſeßt. Daber die Gegnerſchaft der Unternehmer. Haben die
Arbeiter ein Intereſſe an der Aufrechterhaltung der einmal exr-
reichten Löhne, ſo glauben auf der anderen Seite die Unternehmer,
das größte Intereſſe an dem Lohndru> zu haben. Und da ſie im
Staat3weſen ausſchlaggebenden Einfluß haben, lehnen ſie die mn. | =
. Unterftüßung der Partei und der Gewerkſchaften, dexon Shmpatibien
[WO
Gar
ur<führung dieſer Verſicherung ab.
: 12 Millionen Mark ſc<äten.
Dorner nmmemmeamenmmetn
Die Gemeinden dagegen ſind viel unmittelbarer als der
Staat an der Arbeitsloſenfrage intereſſiert. Ihr Armenetat, ihre
Au38gaben für Armenunterſtüßung, ſchwillt in Krijenjahren
mächtig an, und die Steuern gehen nur mangelhaft ein. Wenn
troßdem biSher von den Gemeinden nur wenig auf dem Gebiete der
Arbeitsloſenfürſorge getan wurde, fo liegt da38 daran, daß aud)
hier das Unternehmertum bezw. die ganze vom gleichen Intereſſe
getragene beſißende Klaſſe das Heft in Händen hat. Lediglich auf
dem Gebiete der Arbeit8beſchaffung haben ſich die ſtädtiſchen Ge-
meinden biSher zum Teil betätigt, indem ſie größere Tommunale
Arbeiten in Zeiten der wirtſchaftlichen Kriſe vornehmen ließen.
Aber auch dadurch dienen ſie indirekt dem Unternehmerintereſſe,
indem ſie während der wirtſchaftlihen Hochkonjunktur den
Arbeit8markt nicht von Arbeits8kräften entblößten.
Aber die Arbeitsbeſ<haffung der Gemeinden reicht bei weitem
nicht aus, die Not der Arbeiterklaſſe in Kriſenzeiten zu beſeitigen
oder auc< nur zu mildern. Sie können nur für beſtimmte
Arbeiterkategorien, vornehmlich des Baugewerbe38, Arbeit5gelegen-
beit ſchaffen, während die wirtſ<Haftliche Kriſe nicht vor dieſem
Gewerbe Halt macht. Daher iſt die Arbeitsloſenverſicherung eine
unbedingte Notwendigkeit, will man dem Notſtande der Arbeiter-
haft in Kriſenzeiten auch nur ein wenig ſteuern.
Staat und Gemeinde haben bis8her dieſe Verſicherung für eine
Unmöglichkeit erklärt. Dieſe Erklärung trifft nicht zu: Den
Beweis dafür haben die Arbeiter ſelbſt dur< ihre gewerkichaft-
liche Organifation erbra<ht. Von Jahr zu Jahr ſind ihre Auf-
wendungen für die Arbeitsloſen in erheblihem Maße gewachſen.
„zm Jahre 1892 betrugen dieſe Au8gaven 357 087 Mk., im Jahre
1900 501 078 Mk., 1992 bereits 1593022 Mk., 1907 aber
6527 577 Mk. Und im Kriſenjahr 1908 darf man dieie Au3gaben
der Gewerkſchaften für Arbeitsloſenunterſtüßungen au? rund
Verl Mc Von Jahr zu Jahr find die darau?
bezüglichen Einrichtungen der Gewerki<Ghaften ausgebaut und ver-
bejjert worden, von 1891 bis einſ<l. 1907 find in8geſamt mehr als
19,5 Millionen Mark für dieje Zwecke verau8gabt worden. Eine
Rieſenjſumme, wenn man bedenkt, daß es jich nur um einen Teil
der gewertihaftlicen Tätigkeit handelt, der erſt in den lekten
zehn Jahren planmäßig in das gewerki<aftliche Arbeiter-
programm mit aufgenommen worden ijt. Und in dem einen
Jahre 1908 dürften die Aufwendungen für dieſen Zweck wie 2:3
der Geſamtſumme von 1891 bi3 einſ<l. 1907 ſtehen.
- Nach dieſer Probe aufs Exempel kann keine Rede mehr davon
fein, daß die Durchführung der Arbeitsloſenverſicherung eine
Unmöglichkeit iſt. Sie iſt im Gegenteil auf der von den Gewerk-
haften organiſierten Grundlage äußerſt leicht. Staat und Ge-
meinden brauchen ji nur dazu entſchließen, den Gewerkichafret:
für dieje Zwecke entſprechende Zuſchüſſe zu gewähren, wie e35 der
Stuttgarter Gewerki<haftskongreß 1902 forderte und wie es feit-
dem beipielöSweiſe in Mülhauten i. CE. ſowie verſi<iedentlich im
Ausland aeſchehen iſt.
Die Tätigkeit der Gewerkichaften auf dem Gebieic der
Arbeits8lofenfürſorge hat aber zweierlei bewirkt: Zunächt wurde
in der Arbeitslojenunterſtüßung ein wichtiges gewerkichaftliches
Kampfe53mittel geſc<affen, das neben der tarifvertraglichen
Regelung ver Lohn- und Arbeitsverhältmiſe der Aufrechterhaltung
der einmal erreichten Arbeit8bedingungen dient. Sodann aber,
und da3 iſt nicht minder wichtig, wurde dem Staate wie den Ge-
meinden der unwiderlegliche Nachweis erbracht, daß die Arbeit2-
loſenverſfiherung genau 19 gut durchgeführt werden fann wie die
ſonſtigen Zweige der Soztalverſicherung.
Die heutige arbeitende Jugend aber wird hieraus erſehen,
daß die vorhergehende Generation unter ſchweren Opfern Ein-
richtungen geſchaffen bat, die fortzuführen, weiterzuentiwiceln
Aufgabe der Jugend ſein wird. Schon die Erhaltung des Geo-
ſichaffenen iſt eine wichtige Aufgabe der jüngeren Generation ;
aber noch wichtiger iſt e8, alle Kräfte darauf zu konzentrieren,
das Ererbte richtig zu verwalten und fortzuentwickeln. Die
Organiſationen und deren Einrichtungen, die die Arbeiterichaft
biSher geſchaffen hat, ſind ein jolc<es8 Erbe, das der kommenden
Generation erſt den wirkſamſten Schuß gewähren wird.
Wilhelm Janijon.
S, 2 82
X Ww As 75
Ae öſterreichiſche Jugendorganiſgkion und ihr Verbandsfag.
m November d. J. werden anderthalb Jahrzehnte vergangen fein,
JT ſeit ſich einige Tiſchgeſellſc<haften Wiener Lehrlinge -- eine führte
den bezeihnenden Namen „Bücherſkorpion“ -- zu einem Vereine
zuſammengeſchloſſen haben, der, verfolgt von den Behörden, verhöhnt
von der bürgerlichen Preſſe und gehebt von den Lehrlings5ausbeutern,
ſeine Tätigkeit begann. Dank dem Eifer der Jugendlichen und der