Beilage zur „Urbeiter:?
Nummer 10“
Berlin, d den 7. Mai 1910
2. Jahrgang =
Schlafen -- nur ichlafen. |
Von A. Tſchechow. (Aus dem Ruſſi ichen übertragen von E. Tenenbaum.) -
N acht. Das dreizehnjährige Kindermädchen Marja ſchaufelt
die Wiege, in der ein Kind liegt und jummt leije, faum
hörbar: „Schlaf, Kindchen ſc<laf . - Vor dem Heiligen-
„bilde in der EFe brennt ein grünes Lämpchen.
Zimmer iſt ein Stri> gezogen, auf dem Windeln. und ein Paar
ſchwarze Beinkleider hängen. Der Sein des Lämpchen3- bildet
einen großen grünen Fle> an.der. Zimmerdecke.
die kleine Marja. Wenn da8. Flämmchen der Lampe flackert, Der-
den der Fle> und die Schatten lebendig, - und geraten in“ leiſe
zitternde Bewegung .
Die Luft iſt ſchwül, es riecht nach. Lederwaren Und- Fräut-
ſuppe. Das Kind weint.
ſchöpft und heiſer, doch wimmert es -
wie er ſic< auf dem Boden wälzt und ächzt.
Quer über das
Die Beinkleider
und Windeln werfen lange Schatten auf den Ofen, die Wiege und
Vom: langen Schreien iſt es - völlig € er-
Der Bruch hat ihm
wieder „zugeſeßt“, wie. der Vater ſich ausdrüct. Der. Schmerz
iſt ſo beftig, daß er kein Wort hervorbringen kann, er ringt nach
- Luft und ſeine Zähne ſc<lagen im Trommelwirbel zujammen . . .
Relagea, die Mutter, iſt ins Herrenhaus gelaufen, um zu ſagen,
daß Jefim im Sterben liege. Sie iſt ſchon lange fort und jollte
wieder da ſein. Marja liegt auf dem Ofen, ſie AIchläft. nicht
und lauſcht dem Geſtöhne de8 Vater8. Doch da hält ein Wagen
an der Hütte. Die Herrſchaften haben mit der Mutter den jungen
Arzt hergeſchi>t, der aus der Stadt zu ihnen zu Beſ ſuch gekommen
iſt. Der Doktor tritt in die Stube, das Dunkel hüllt ihn ein,
aber -Marja- hört die Tür ins Schloß fallen und des Doktors
Dutten.
„Macht Licht, “Jagt er.
„Bu, bu, hu, hu, " antwortet Jefim.
'Pelagea ſtürzt zum Ofen und beginnt die Streichhölzer zu ſuchen.
Eine Minute e vergeht in: Schweigen. Nachdem der Doktor in jeinen
Taſchen geſucht hat, zündet er ein
- unaufhörlich weiter, und es iſt niht
abzuſehen, wann e3 ſich beruhigen wird. :
-Die kleine Marja aber möchte f<lafen.
Die Augen fallen ihr zu, der. Kopf
ſinkt immer wieder auf die Bruſt und
der Nacken ſchmerzt. Sie. kann weder-
die Lider, no<h die Lippen bewegen
und hat die Empfindung, daß -ihrc
Geſicht8haut vertro>net, daß ihr Köpf
ganz flein geworden und zu einem
Stecknadelknopf zuſammengeſchrümpft-
iſt. „Schlaf, Kindchen, ſchlaf . . =,“
ſummt fie halb im Traum, halb im
Wachen. Am Ofen zirpt das Heim-
den. Das Schnarchen des Meiſters3
und feines Geſellen Athanaſius, das
aus dem benachbarten Zimmer herüber
„dringt, das leiſe Aechzen der Wiege,
Marjas. Summen -- alles vereinigt
ſich zu einer nächtlichen einſchläfernden “
Melodie, die ſüß in den Ohren klingt,
wenn man jich ins Bett legen und
ſchlafen darf. Bewahre aber der
Himmel- Marja davor, einzuſchlafen,
denn. dann bekommt ſie von ihrer.
„Herrſchaft“, den Schuſtersleuten,.
Schläge. - Daher quält und reizt ſie
nur die nächtliche Muſik.
- Das Lämpchen flimmert. Der
grüne Fle> und die Schatten geraten
in Bewegung, irren über Marjas hälb-
offene unbewegliche Augen und we>en -
in ihrem halbwachen Hirne nevelhafte -
Traumgeſchichten. 'Sie ſieht dunkle
Wolken eilig vorüberjagen, ſie ſchei-
nen ſich zu verfolgen und ſc<reien dabei wie ein Kind. Doch da
vertreibt ein Windſtoß die Wolken, ſie verſchwinden, und Marja
erblickt eine breite ſ<mußige Landſtraße, auf der eine Reihe Laſt-
wagen daherziehen, Menſchen mit Bündeln auf dem Rücken ſich
mühſam. fortſ<leppen und Schatten hin und her wanken. An
beiden Seiten der Landſtraße ſchimmern Wälder durc< den kalten
rauhen Nebel. Plößklich fallen die Menſchen: mit den Bündeln
„und die Schatten zu Boden, in den -Kot. --
Marja. Schlafen, ſchlafen, antworten ſie ihr und ſinken alle in
tiefen, kräftigen, ſüßen Schlaf. Aber auf den Telegraphendrähten.
ſien Krähen und Elſtern, ſchreien wie Kinder und bemühen
ſich, die Schlafenden. zu weden.
„Schlaf, Kindchen; Tchlaf,“ kommt es von Marjas Lippen, die
' fich plößlich in einer finſteren dumpfen Hütte ſieht. Auf dem
„Fußboden windet ſich ihr verſtorbener Vater Jefim Stefanowitſch,“
Sie kann ihn nicht ſehen, „hört. aber,
vor Schmerz ſtöhnend.
HAda Negri.
„Wozu 0a32?2“ fragt
Streichholz an. „Sofort, Herr Dokltor,
ſofort,“ ſagt [Pelagea, ſtürzt aus der
- Hütte und kehrt nac<h einem Augen-,
'bli>e mit einem Lichtſtümpfchen zurück.
Jefims Wangen ſind - gerötet, jeine
Augen glänzen und ſein Blick iſt ſo
“eigentümlich ſcharf, als wollte er den
- Arzt durchbohren und durch die Wände
- der Hütte dringen. „Na, was iſt denn
Dir eingefallen“, fragt der Arzt, ſich
zu Jefim herabbeugend. „Hm = haſt
Du die Geſchichte ſchon lange?“ „Wie .
- beliebt? Mein letztes Stündlein hat
" geſchlagen, Euer Gnaden, c8 geht mit
„mir zu Ende . . .“ „Ac< was, Un-
“finn! Wir machen Dich wieder geſund.“
„Wie Euer Gnaden denken, wir danken
untertänigſt, aber wir verſtehen auch
was davon. Aus iſt aus, und gegen
den Tod iſt kein Kraut gewachſen.“
Der Arzt macht ſich etwa eine Viertel-
. ſtunde mit Jefim zu ſchaffen, dann
„ſteht er auf. „J< kann hier nichts
- tun. Du mußt in3 Spital, dort wird
"man Dich operieren. Doch Du mußt
- ſofort hingefahren werden. Aber un-
- bedingt. (Es iſt zwar ſchon etwas ſpät,
„im Spital ſchläſt ſchon alles, aber
"das hat nichts zu ſagen, ich werde
Dir einen Zettel geben. Hörſt Du?“.
- „Ah, beſter Herr, wie ſoll er denn
fahren, wir haben doch kein Pferd,“
bemerkt Pelagea. -,, Das macht
- niht38, ich werde die Gutsherrſchaft
„bitten, daß ſie Euch ein Pferd leiht.“
Der Arzt iſt fort, das Licht verliſcht fla>ernd, und wieder ertönt
e8: „Bu, bu, bu, bu . . .“ Eine halbe Stunde ſpäter rollt ein
Gefährt vor die Hütte. Die Herrſchaften haben einen Bauern-
wagen bergeſchi>t, der Jefim in38 Krankenhaus fahren ſoll. Jefim.
madct ſich fertig und wird fortgefahren. . „.
Es. iſt ein ſchöner beller Morgen. Pelagea iſt nicht zu
Hauſe, ſie iſt ins Krankenhaus gegangen, um ſic zu erkundigen,
wie es Jefim geht. Jrgendwo weint ein Kind, und Marja hört,
wie jemand mit ihrer Stimme ſingt: Schlaf, Kindchen, ſchlaf. .
Pelagea iſt wieder da. Sie bekreuzigt ſich und flüſtert: „Nachts
haben ſie ihn operiert und gegen Morgen iſt er geſtorben... Der
Herr: ſei ihm gnädig und ſchenke ihm die ewige Ruhe. Sie ſagen,
22 ſei. zu ſpät geweſen, der Vater hätte früher kommen ſollen.“
Marja“ geht in den Wald und weint, aber plößlich ſauſen
Hiebe auf ihren Nacken nieder, mit ſolcher Wucht, daß ſie mit
der - Stirn gegen eine Birke ſtößt. Sie ſchlägt die Augen auf.