Full text: Arbeiter-Jugend - 2.1910 (2)

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Arbeiter» Jugend 
 
 
Vor ihr ſteht ihr Herr, der Shuhmacher. „Was unterſtehſt Du 
Di<h, Du Grindkopf? Da3 Kind weint, und Du ſc<läfſt,“ ſagt 
er und zerrt ſie am Ohr, daß es ſchmerzt. Sie ſchüttelt ſich, wirft 
den Kopf zurü> und reißt die Augen auf; ſie ſc<aukelt die Wiege 
und ſummt ihr Liedhen. Der arüne Fle> und die Schatten 
der Windeln und Beinkleider ſc<wanken. wie vom Winde 
bewegt; ſie winken ihr und bekommen wieder Gewalt über ihre 
Stimme. Sie erblit abermal3 die ſ<mußige, kotbede>te Land- 
ſtraße; die Menſ<hen mit den Bündeln auf den Rücken haben 
fiß niedergelegt und- ſ<einen in einen kräftigen Schlaf geſunken 
zu ſein. Bei dieſem Anblide ergreift auß Marja der leiden- 
ſchaftliche Wunſ<, zu ſ<lafen. Sie möchte fic< hier gleich nieder- 
legen, aber Mutter Pelagea iſt an ihrer Seite und treibt 
ſie zur Eile an. Beide wollen in die Stadt, um dort einen Dien]t 
zu ſuchen. „Ein Almofen, um Chriſti willen,“ bittet die Mutter 
die Vorübergehenden. „Gib das Kind her,“ antwortet ihr eine 
befannte Stimme. „Da3 Kind ſollſt Du hergeben,“ wiederholt 
dieſelbe Stimme, die jetzt ſcharf und zornig klingt. „Du ſc<läfit, 
Du niederträchtiges Ding2“ 
Marja ſpringt auf, ſie blickt um ſig und begreift, um wa3 
e3 ſich handelt: ſtatt der Landſtraße, der Mutter und der Vor- 
übergehenden ſteht nur die Herrin vor ihr. Sie 1ſt aufgeſtanden, 
um da3 Kind zu ſtillen. Während die die, breitſichulterige Frau 
das Kind nährt und es zu beruhigen ſucht, ſteht Marja vor ihr, 
ficht ſie an und wartet, bis die Mutter mit dem Stillen fertig iſt. 
Hinter den Fenſtern graut |<hon der Morgen, die Schatten 
und der grüne Fle> verblaſſen merklich. Bald iſt e8 Tag. „Nimm 
e81" fagt die Herrin, ihr Hemd an der Bruſt zuknöpfend. Da3 
Kind weint. „Sicherlich hat es ein böſer Bli> behext.“ Maria 
"nimmt da8 Kind, legt e8 in die Wiege und beainnt ſie wieder 
zu ſchaufeln. Allmählißh ſ<winden der grüne Fle& und die 
Schatten und nun iſt nicht3 mehr da, ihr Hirn zu umnebeln 
und ihre Sinne zu verwirren. > 
Do< ſ<lafen möchte ſie, wie vorhin, nur ſchlafen! Sie legt 
den Kopf auf den Rand der Wiege und ſc<«aulelt ſie mit aller 
Kraft, um fihß wach zu halten, aber die Augenlider fallen ihr 
dennoch zu, und der Kopf wird immer ſchwerer. 
„Marja, heiz den Ofen ein,“ ertönt hinter der Tür die 
Stimme ihre8 Herrn. E3 iſt alfo ſchon Zeit, aufzuſtehen und 
an die Arbeit zu gehen. Marja ſpringt von ihrem Plate an 
der Wiege auf und läuft in die Scheune, um Holz zu holen. 
Sie iſt fo froh: wenn ſie läuft und ſich bewegt, quält ſie der 
Schlaf nicht fo ſehr. Sie bringt Holz, heizt den Ofen und fühlt, 
wie ihr ſteif und hölzern gewordenes Geſicht ſi glättet und 
ihre Gedanken wieder heller werden. 
„Marja, den Samowar“ (Teemai<hine), ſc<reit die Herrin. 
Marja ſc<neidet Kienſpäne zure<ht und hat kaum Zeit, ſie anzu- 
zunden und in den Samowar zu ſte>en, als ein neuer Befehl 
ertönt: „Marja, reinige die Galoſc<en de8 Herrn.“ Marja ſett 
iich auf den Fußboden und denkt, wie herrlig e3 do<h wäre, wenn 
man den Kopf in den großen Gummiſ<uh ſte>en und etwa3 
i<lafen könnte. Und plößlic< beginnt der Schuh zu wachten, 
i<willt immer mehr an, bi3 er das ganze Zimmer ausfüllt. Die 
Bürſte entfällt ihren Händen. . . . Marja wirft den Kopf zurüc> 
und jperrt die Augen weit auf und bemüht ſich, fo vor ſich zu 
1DJauen, daß die Gegenſtände nicht wieder wachſen können. 
„Marja, ſ<euere die Vordertreppe, wir müſſen un8 vor den 
Kunden ſchämen.“ Marja ſcheuert die Treppe, räumt die Stuben 
auf, heizt noc<< einen Ofen und eilt in den Laden. E38 gibt 
Arbeit in Fülle und keine einzige freie Minute. Doch nichts fällt 
ihr ſo ſ<wer, wie am Küchentiſch zu ſtehen und Kartoffeln zu 
ſchälen, denn .der Tiſch zieht ihren Kopf herab, die Kartoffeln 
tanzen vor ihren Augen, da8 Meſſer entſinkt ihrer Hand . .. 
Mit aufgeſtreiften Aermeln macht ſich die die zornige Herrin 
in der Küche zu ſc<haffen, ihre Stimme klingt ſo laut und ſcharf, 
daß e38 Marja ſchmerzhaft in den Ohren gellt. Auch da38 Bedienen 
bei Tiſche, das Waſchen und Nähen iſt eine Qual. E3 gibt Augen- 
blicke, in denen ſie, ohne ſih um etwa3 weiter zu kümmern, 
obne an etwa3 zu denken, ſich auf den Boden ſtre>en und ſ<lafen 
möchte. 
Der Tag gebt zur Neige. Marſa bli>t nac den Sceiben, 
hinter denen e8 dunkelt, preßt die Hände an die ſchmerzende 
Sciäfe und lächelt, ohne ſelbſt zu wiſſen, we3halb. Da38 Abend- 
dunkel tut ihren bleiernen Lidern wohl und verſpricht ihr einen 
ſchnellen, Fräftigen Schlaf. Abends kommen Gäſte. „Marja, den 
Samowar!“ ruft die Herrin. Da der Samowar klein iſt, muß 
Marja ihn fünfmal wieder friſch füllen, ehs die Herrſ<aften 
ſich ſatt getrunken haben. Nach dem Tee ſteht Marja eine ganze 
Stunde auf einer Stelle, blickt auf den Beſuc<ß und erwartct: 
Befehle. „Marja, ſole drei Flaſhen Bier!“ Sie reißt ſich 
von ihrem Klage lo8 und rennt, ſ9 ſchnell fie kann, um nur den 
Schlaf abzuſchütteln. „Marja, hol? Sc<nap3! Marja, wo ift 
der Pfropfenzieher? Marja richte einen Hering her.“ Endlich 
jind die Gäſte fort. Das3 Licht wird gelöſcht, die Herrſchaft begib: 
ſich zur Ruhe. „Marja, wiege das Kind in den Schlaf!“ ertönt 
der leßte Befehl. Im Ofen zirpt die Grille, der grüne Fle> und 
die Schatten huſchen wieder über Marja38 halboffene Augen, winken 
ihr und betäuben ihre Sinne. 
„Schlaf, Kindchen, ichlaf . . .“ Das Kind ſchreit unauwu?- 
horlic<. Wieder erblickt Marja die breite I<Gmußige Landſtraßc, 
die Menichen mit den Bündeln, Pelagea, den todkranken Vater ... 
Sie begreift alles, erkennt alle, nur ein3 kann ſie nicht begreifsei, 
welch eine Macht ſie an Händen und Füßen feſſelt und ihr das 
Leben ſo ſ<wer macht. Forſc<hend irrt ihr Bli> durch die Stubc, 
ſie möchte die feindliche Macht lo38 werden, aber ſie findet ſir 
nicht. Zu Tode erſchöpft, ſtrengt ſie no<ß einmal all ihre Simm: 
an, blit auf den zitternden grünen JFlec>, auf die Dede, lam": 
dem Weinen des Kinde38 und -- endlich hat ſie den Feind ent- 
dect, der ſie peinigt: e8 iſt das Kind. Sie lacht. Wie ſonderbar. 
daß ſie darauf nicht ſchon früher gekommen ift! 
Die Schatten, der grüne Fle> und die Grille lachen mit und 
wundern ſich wie ſie. Ein zwingender Gedanke hat ſich ihrer 
bemächtigt. Sie ſteht vom Schemel auf und geht mit einem: 
breiten Lächeln im Geſicht im Zimmer auf und ab. Ein wohlig2s 
Gefühl beſchleicht ſie und fißelt ihre Nerven bei dem Gedanken, 
daß ſie bald das Kind lo3 ſein wird. Sie wird das Kind töto: 
und dann ſchlafen . . . ſ<lafen . .. 
Yacyend und dem grünen Fled mit dem Jinger drohend, 
ichleicht ſi Marja an die Wiege und beugt ſich über das Kind. 
Nachdem ſie e3 erſtickt hat, wirft ſie ſic zu Boden, lacht vor 
Freude, daß ſie nun ſchlafen kann, und eine Minute ſpäter ſchl3' 
ſie wie eine Tote . . 
* X 
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Tiche<how. 
Anton Tſchechow, der Verfaſſer der vorſtehenden Grzählung, hat 11.3 
in der ruſjiſchen und -- man darf es getroſt ſagen -- in der Weltli::- 
ratur einen bleibenden Namen geſchaffen. Ein feiner Beobachter 111'd 
Seelenkenner, greift er hinein ins volle Menſ<henleben und ſchildert m:: 
gleicher Meiſterſchaft die banalen Acußerlichfeiten des Alltag38 wie dc 
verwicdeltſten Vorgänge der menſchlichen Seele -- in ihrer Tragik odr 
Komik, ihrer Größe oder Trivialität, oft beides zuſammen. 
Anton Tſchechow Yerſichien während der achtziger Jahre am liter.- 
riſchen Horizont, als das ganze geiſtige Leben de8 großen Zarenreich.s 
erjtarrt zu ſein ſchien. Die ohnmächtige Qual und die HoffnungsSloſiz- 
keit jener Zeit verleihen den Tſchehowſchen Schöpfungen ein Gepräge 
von iroſtloſem Peſſimi8Smus. Grau in grau iſt ſein Kolorit, nirgen?2 
eine Ausſicht, nirgend8 eine Hoffnung auf eine glücklichere Zukun:. 
Veberall triumphiert das Häßlihe und Gemeine über Eigenart 1117 
Größe, brutale Gewalt über das Schwache und Hilfloſe. Gin twund-r- 
ſames Gemiſch von Shwermut und Humor, ſind ſeine Grzählungen 11:10 
Skizzen von eigenem Neiz. Tſchechows feinex Humor iſt aber nicdt 
immer harmlos, er wird zum ſc<onungsloſen Spott, zur beißenden Sa- 
tire, ſobald er allerlei kleine Menſchen mit kleinen, lächerlichen 9er 
verlogenen Jdealen ſchildert und die „Soliden“, die Spießer und ſev!i- 
zufriedenen Philiſter bis in die geheimſten Winkel ihrer dumpfen Scel? 
verfolgt. Der kleine Beamte, der in Ehrfurcht erzittert, wenn er den 
Rod&zipfel ſeine3 Vorgeſetzten von ferne erbliät, und daheim der Tyrann 
ift, vor dem Weib und Kind zittern, der berühmte General, in deſicn 
Vorzimmer die Untergebenen auf den Fußſpißen kaum zu trippeln waacn 
und der ſich vor ſeiner Köchin fürchtet, die ihm reſpektlos Ohrfeigen ver- 
abreicht, er zerrt ſie alle gleich ſH9onungs3lo3 hervor an3 Licht der. Oeffcnt- 
lichfeit und gibt ſie dem allgemeinen Gelächter preis. 
Tſc<echow3 Helden ſind keine Kämpfer. Ein großer Teil von ihnen 
entſtammt dem fleinbürgerlichen Leben; es jind vorzug3weiſe kleine 
Kaufleute, Beamten, Journaliſten, geiſtiges Proletariat, ſind Entgleitt 
und Entigleiſende, denen jeder Halt und jede Hoffnung fehlt. Sie ver- 
zweifeln an den zahlreichen Konflikten des Lebens, wäil ſie ſie nicht 
löſen fönnen. Vergebens grübeln ſie über den Sinn des Leben3 nac, 
über den Zwe ihre3 eigenen Daſeins, ſie finden ihn nicht. Ihre Sez5n- 
ſucht kennt daher keine großen, beglüdenden Ziele; fie gehen auf ver 
Jagd na< einem Phantom zugrunde oder ergeben ſi dumpf und re"- 
gniert in ihr Schikſal. 
 

	        
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