Full text: Arbeiter-Jugend - 2.1910 (2)

Arbeiter-Jugend = 151 
 
 
Es iſt das <Jarafkteriſtiſiche Merkmal der Tſchehowſchen Kunſt, daß 
feine Helden, die einem beſtimmten Ziele nachgehen, entweder ſelbſt- 
zufriedene Philiſter oder Phantaſten und moderne Don Quidottes ſind. 
Fein menſchliches Leid, mochte es wirklic< oder eingebildet ſein, ließ 
Tſi<ec<ow kalt. Wie groß und ſc<ön er ſelbſt von den Menjc<en und 
ſeinen Rechten dachte, iſt am beſten in folgenden Worten ausgedrüct: 
„Man ſpricht immer davon, daß der Menſc< nur einige Cllen Erde 
vrauche, aber das trifft ja nur für den toten Menſchen, für die Leiche 
zu. Der lebendige Menſc< braucht mehr. Jhm genügt nicht der Raum 
ines Meierhofes, ex kann ſich nict mit einigen Spannen Erde zu- 
irieden geben, er braucht den gangen Erdball, um die Gigenſc<aften und 
Gigenheiten ſeines freien Geiſtes frei zu entfalten.“ (Der Stachelbeer- 
itrauch.) Zu dem Beſten, was Tſchechow geſchaffen hat, gehören un=- 
zweifelhaft die Erzählungen: „Zelle ſec<8“, „Das Duell“, „Die Steppe“, 
„Die Bauern“, „Mein Leben“, „Der Mann im Futteral“, und von den 
Dramen: „Drei Schweſtern“, „Onkel Wania“, „Die Möwe“ und „Jwa- 
noff“. 
In Reclam8 Univerſalbibliothek jind mehrere Bändc<en Ueber 
'egungen feiner Grzählungen und Dramen erſchienen CE. T. 
R 
Ada Regri. 
ASor etwa fünfzehn Jahren iſt die italienijic<e Dichterin Ada 
y Y% Negri troß ihrer Jugend und ihrer beſcheidenen ſozialen 
Stellung al8 arme Dorfichullehrerin ſehr rajc< zu euro- 
»äiſcher Berühmtheit gelangt. Der Reichtum ihrer Sprache, den 
vir empfinden, wenn wir ihre ſ<onen Gedichte au< nur in deut- 
icher Ueberſetzung leſen können, die Lebhaftigkeit ihrer Phantaſie, 
der Jlug ihrer Begeiſterung und die glühende Leidenſchaft, die 
daraus weht, gewannen ihren Liedern die Herzen im Sturme. 
Ada Negri iſt ein e<tes Proletarierkind. Als fie noßG in 
der Wiege lag, ſtarb ihr Vater im Krankenhaus. Die Mautter 
brachte unter harten Entbehrungen ſic und da8 Kind durch rait- 
lofe Arbeit am Webſtuhl fort, aber troß ihrer bitteren Armut 
und Verlaſſenheit hat e3 dieſe tapfere Frau doch durchzuſetzen 
vermodht, daß ſie der Tochter jene, freilich nicht fehr umfaſſenden, 
Studien ermöglichte, die ſie befähigten, einen Boſten als Lehrerin 
in einer Dorfſ<ule zu bekleiden. Dafür klingt auch die dankbare 
Verehrung und kindliche Zärtlichkeit Ada Negris für ihre Mutter 
aus vielen ihrer ſchönſten Gedichte, ſo aus dem tiefempfundenen 
„Im großen Hoſpital“, in welchem ſie zu dem Geiſte ihres dahin- 
aeſchiedenen Vaters ſpricht, um ihm zu verkünden, daß ſie nun 
ihrerſeit3 imſtande ſei, das Lo8 der Mutter zu einem freund 
iicheren zu geſtalten. 
Ehe diefe38 Ziel erreicht war, haben Mutter und Tochter viel 
;eiden müſſen, aber die eigenen Leiden haben das Herz des jungen 
Mädchens3, ſtatt e8 zu verbittern, nur um ſo weiter geöffnet für 
die Schmerzen ihrer Sc<id>fal8genoſſen, und aus ihren Liedern 
ilingt ein heißes Mitgefühl für alle Geplagten und Notleidenden. 
Sie ſingt von dem Elend des verlaſſenen Knaben, der der 
Straße und früher Verderbnis preis8gegeben iſt, und von dem 
'raurigen Tode de3jenigen Kindes, deſſen unreife Kräfte vor der 
Zeit an der Maſchine verbraucht worden ſind; ſie ſingt von dem 
yarten, gefahrvollen Leben des Bergmanne38 und von ſeinem ent- 
feßlichen Untergange. Sie ſc<ildert die herzbeklemmende Traurig- 
*eit eine3 verlorengegangenen Streiks und das Clend der Arbeits8- 
ofigkeit. Sie erzählt von Unglüc3fällen bei der Arbeit, vom 
ammer der AuSgeſtoßenen und von der harten Kälte der Satten 
and Reichen, ſo in dem wunderſ<hönen Gedichte „Die Beſiegten“, 
donen ſie die Worte in den Mund legt: 
„Wir kommen au3 den Häuſern ohne Feuer, 
Von friedeloſer Lagerſtatt, 
. Wo unſer Körper täglich, ſtündlich ſcheuer 
Sich beugt und unterwirft, vom Kampfe matt. 
 
Aus Höhlen kommen wir, von harten Latten, 
Au3 dunklem Zuflucht3ort heraus, 
Und breiten auf der Erde tiefe Schatten 
Von Trauer und Gefahren aus . . .“ 
Über ſie ſingt auc von Kampf und Sieg, ſie ſingt das hohe 
Ge der Hoffnung und der Freiheit, der Lebens8freude und der 
Kraft. | 
Ada Negri iſt eine Sozialiſtin und dem Ringen der Arbeiten- 
den und Ausgebeuteten nach einem menſ<enwürdigen Los gilt 
ihre glühende Begeiſterung. Aber ſie ſieht und hört darum nicht 
minder deutlich, wa38 ring3 um ſie in der Natur und im Menſc<en- 
verzen in heiterer Schönheit prangt und klingt. Sie iſt Kämpferin 
und iſt de38halb doch ein ec<te8 Weib, und wie ihre Seele weich 
vird bei dem Gedanken an ihre edle Mutter, ſo genießt und ver- 
derrlicht ſie auch die Schönheit der Natur, ſo beſingt ſie die Freu- 
den und Schmerzen der Liebe, und aus ſüßen Liedern tönt ihre 
Sehnſucht nach der Muiterſ<aft. Aber auc<h wo ſie dem Triebe 
der Natur gehor<end ganz Weib iſt, bleibt ſie Kämpferin. 
Dem reichen Jüngling, der um ihre Liebe wirbt, ruft fie zu: 
„Haſt du gearbeitet? . . . Kennſt du die Nächte, 
In denen ſc<laflo8 man und ohne Ruh 
Gin ernſtes Werk geſchafft ? 
Sag, welcher Glauben3fahne weihteſt Du 
Die blühende und ſchöne Jugendkraft? 
Du gibſt mir keine Antwort . . . ob ſo gehe, 
Kehr zu verlorner Stunden Müßiggang, 
Zum goldnen Kalb zurüc; 
3Uu Karten, Bällen, Dirnen, Becherklang, 
Mix find micht feil mein Hera, mein Kuß und Bli.“ 
Lem Erwählten ihres Herzens aber gibt ſie in ernſten Worten 
zu bedenken, welche Pflichten ſie an die Elenden und Bedrückten 
binden, und fie fährt fort: 
„Doh lieblt du de3halb mich vielleicht? . . . 
Komm, folge mir im Namen aller Schmerzen, 
Für Dich blüht eine Blume mir am Herzen 
Die Nac<ht3 voll Wolluſt wildem Hag entglomm. 
Dann komm, 
Komm, folge mix! . . . Wir gründen unſer Haus, 
Wo die beſiegte Menſchheit ſtöhnt, verbittort1, 
Wo die verlaſſene Kindheit weini und zittert 
Und das verderbte Elend herrſ<t voll Graus.“ 
Sie jpricht von dem Sohne, dem ſie dereinſt das Leben 1<ei- 
fern und den ſic mit ihren beſten Kräften ausitatten möchte: 
„Und fommen wird ex, dent ich. -- Aus den LQuellen 
Des frijchen Weſens in mir, ſtark und kühn, 
Aus meines Blute38 ſirömend heißen Wellen 
Wird er die Keime feines Lebens ziehn. 
Ind er empfäng: die Triebe, die miy 1<wellen, 
Die Kräfte, die im Hirn mir flammend 1ſprühn, 
Da3 mächtige Sehnen nach den Höhen, den bellen, 
Der unbegrenzten Liebe beißes Glühn. 
Sroß wird er fein, wie ich mir vorgenommen 
Und: doh: nicht ward, und wohin ich nicht kam, 
Der höchſte Gipfel wird von ihm erklommen. 
Und innig werd' ich mich daran erfreuen, 
SeH' ich den Geiſt, die Krafu, die er mir nahm, 
Im ihm fich wie in einem Gott erneuen.“ 
Düſter, I<Omerzvoll und erimMitiernd find viele von Üda 
NRegris Gedichten, aber dann bricht doH immer wieder kraftvoll 
die Soffnung auf? eine beſſere Zukunkt, ja die ſichere Erwartung 
des Sieges hervor. 
So weich und jfanft aber die Lieder find, in denen jie mit den 
Schmerzvollen klagt, jo kann do9o< wieder die dumpfe Ergebung 
der Opfer in ihr heißen Zorn erwecken. Wenn fie daran denkt, 
daß die Söhne der in den Kohlenaruben grauſam Hingeopferien 
ſpäter wieder jelb]t Bergleute ſein und in träger Gleichmut dort 
weiterarbeiten werden, wo noh die Knochen ihrer Väter medern, 
dann ruft ſie au3: 
„O träge, ſhmacvoll unierdrüdte Raſſe, 
Wa3 nüßt es dir denn, ſchön und ſtark zu ſein? 
Kannſt du dich nur zum Sklaven machen laſſen, 
Wär's beſſer, dich dem Tod zu weihn!“ 
Die Maſchine, in der Ada Neari heute noch ſo oft die Turai 
nin, Bedrü>erin, ja Mörderin der Arbeiter anklagen muß, hort 
fie zuverſichtlic? dereinſt al3 deren Befreierin grüßen zu durfen, 
und in einem feierli<ß ſchönen Gedicht, das „Es fauſt die Maſchine“ 
betitelt iſt, läßt ſie dieſe künftige Befreierin ſelbſt zu den Ar- 
boitfern, eine beſſere Zukunft verkündend, ſprechen: 
Nur vorwärts ihr Helden der künftigen Taten, 
Es ſteht euch der Kampfplaßt bereit. 
Die Säge, die Had>e, das Beil und der Spaten, 
Sie rufen zum ehrlichen Streit. 
Die ſtroßenden Adern von Lebenskraft glühend, 
Da3 Antliß von Sonne verbrannt, 
Balſamiſche Luft mit dem Atem einziehend 
Genährt von dem fruchtbaren Land, 
Stürzt kühn euch, ihr Helden, in Kampfe38gewimmel, 
Da3 goldene Freiheit euch bringt . . . | 
. . . G3 ſauſt die Maſchine: und ſtürmiſch zum Himmel 
Prophetiſc<e3 Hurra erklingt.“ 
Zn einem ihrer ſchönſten Gedichte, betitelt „Stör mid) nicht!“ 
erbittet ſie die Vergebung de3 Geliebten dafür, wenn ſie mandmal 
zerſtreut ſeinen Liebe3worten lauſcht, weil ihr inneres Auge herr-
	        
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