Full text: Arbeiter-Jugend - 2.1910 (2)

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Arbeiter-Jugend 
 
von - „ichlechten Deutſc<en“ vielerlei Abſtufungen, vom früheren 
ländlichen Volksſchüler, der nur die Mundart 
Ipricht und kaum ein einziges Wort ohne Fehler ſchreibt, bis eiwa 
zur höheren T Tochter, der da ſchriftliche Fehler „nur“ alle zehn 
Zeilen paſſieren, während ihre Sprachmängel ſogar dem größten 
Teil derer, dic jich gebildet nennen, gar nicht einmal aufzufallen 
pflegen. Aber jie, die faſt Deutſch Fann, und er, der e3 gar nicht 
kann, find beide geſchieden von den Sprachmächtigen, die da 
wi ſ7 en, was gut und böſe iſt in der Sprache. Zu dieſen Wiſſen- 
den nun zu gehören, die Sprache ganz in die Gewalt zu bekom- 
men, fie al8 Werkzeug de8 Verſtande3 handhaben zu lernen, das 
muß das Sireben jedes aufgeflärten und fortſchritt8hungrigen 
WMenj Iden | ein. 
Zu ven neunzehn Zwanzigſteln, die ihre Mutterſprache nicht 
beherrſchen, gehören wohl alle Jugendlichen, die aus der VolkZ3- 
ihule Ffommen. Nur ausnahms38weije mag einer von ihnen ganz 
Ichtiges Deutich zu ſprechen oder gar zu ſc<reiben imſtande ſein. 
Dann iſt das aber nicht der Volksichule zu danken, ſondern be- 
onders günjiigen Umjitänden außerhalb der Schule, vor allem 
at va dein Cinfluß der Eltern, wenn dieſe zufällig einmal im Be- 
nge einer gewiſſen Bildung jind. Von jolchen vertc<hwindenden 
Ausnahmen müſen vir natürlich abjehen. 
Wenn alſo der Jugendliche den Wunſ< hat, 
volitiſchen Aufflärung und Schulung auc< feine allgemeine Bil- 
DUNG ZU pflegen, jo muB er mit in erſter Linie das Werkzeug der 
Gedanfen, dic Sprache, beherrſchen lernen. Ja, auc<h gerade zur 
Gewmnung volitiſcher Erkenntnis und politiſcher Kenntniſſe iſt 
Die aAlgenleaunt Bildung und, als ihre Grundlage, die Spracbge- 
wandtheit und Sprach) cherheit von allergrößter Bedeutung. Selbſt 
dor JUg ondliche, der nicht den Beruf in ſich fühlt, durc<h die Schrift 
„in die Kämpfe feiner Klaſſe einzugreifen, wird doch beim münd- 
tichen Gedankenaustau1<, 16i e38 in vffentlicher Rede, jei e8 im 
Geipruch, ganz anderes leiſten, wem er der Sprache wirklich 
mächtig ilt. Das gilt ganz beſanders im Hinbli> auf den Wort- 
Fampft mit jogenannten gebildeten Gegnern. Man muß nämlich 
die beiſpielloſe Roheit des gebildeten Bürgertums kennen, die den 
ungebildeten Arbeitern den dieſes Bürgertum in die dürftige 
Volksichule verbannt) ob feiner Sprachfehler verachtet und ver- 
vöhnt. Bei einer öffentlichen Ver janunlung in Marburg an der 
Qahn erlebten wir e8 vor einigen Jahren, daß ein Arbeiter, der 
in der Disfuſſion auftrat und häufig Sprachſchniter beging, von 
den zahlreich amvejenden Studenten, aljo von den Gebildetſten 
dor Gebildeten, einfach nicdorgewichert vurde, Bei jedem Fehler 
erhob fich briüilendes Gelächter, und auf den mehr und mehr ver- 
logen werdenden Arbeiter (er j<ämte fic wohl und mit Recht, 
mit dieſen Burſchen ein gemeinſames Vaterland zu haben) jauſten 
homie Zurufe von allen Seiten hernieder. Man kann micht 
einn ENDEN, es Habe fich um Studenten gehandelt, um dumme 
Vungen (deren politiſche Unwiſſenheit kürzlich dur<ß eine Umfrage 
io id lagend ermwicten wurde), "ms erwachſene Gebildete würden 
fich anvers8 benehmen. Im Gegenteil, die Sprahiſchnißer des Ge- 
noſſen Adolf Hoffmann, der ja auch aus der geprieſenen deutſchen 
Volfsichule hervorgegangen iſt, wurden im Preußiſchen Landtag 
mit derſelben rüden Heiterkeit begrüßt, wie die de8 erwähnten 
Arbeiters in der Marburger Verfammlung. Die erwachſenen 
„Edeiſten und Beſten“, die "Zunfker, jind dem Nachwuch8 des ge- 
Lilbeten Bürgertums 'vollfomnen gleichwertig. 
Nber ſelbſt wenn der Jugendliche, wie auf die ſchriftliche, fo 
auch auf die mündliche politiiche Betätigung verzichtet, ſo bedarf 
er voc, wofern er eben überhaupt den Trieb zur Weiterbildung 
bofikt, i<Mon fir die paſſive, für die nur empfangende Beſchäfti- 
gu 14 mit politiſchen agen einer möglichſt großen Gewandtheit 
im Gebrauch und vor allem im Verſtändni3 der Sprache. Er 
befommt nicht mehr, wie in der Schule, jeden Saß vorgekaut 
und erklärt; er bekommt nicht mehr die einfachen und leicht ver- 
ftändlichen, überdies einander in ailen Klaſſen ziemlich gleich 
bleibenden Leteſtücke der Schulbücher vorgo2ſekt; er darf ſic) auch 
nicht mehr auf das Leſen von leicht geſchriebenen Erzählungen 
beichränfen, die Leſtenfalls dem Verſtändnis der „reiferen Jugend“ 
angepaßt, das heißt nämlich immer no< ſehr Findlich gehalten 
jind. Sondern der bildung3hungrige Jugendliche muß lernen, 
ernſthafte Schriften zu leſen, ernſthafte Reden zu hören. Die 
jeßt ſhon vieljährige Entwickelung der Arbeiterbewegung, und 
beſonder3 der deutichen Arbeiterbewegung, hat in der Geſtalt 
und im Gehalt unſerer Reden und Schriften gewiſſe Ueber- 
heferungen, gewiſſe Vorausſekungen geſchaffen, deren Kenntnis 
jedem aufgeklärten Arbeiter nofwendig iſt. Darüber hinaus aber 
erfordert die beſtändig .wechſelnde wirtſ<haftliche und politiſche 
Lage, wie vom Redner und Schriftſteller die Fähigkeit, in Wort 
und Schrift immer auf8 neue zu den Einzelfragen Stellung 
zu nehmen, 1o aud) vom leßten Mann des laſſenbeivußten 
Rroletarierheeres die Fähigkeit, in den Verſammlungen, in den 
Vorträgen, in den Zeitungen, in den Broſchüren uſw. den je- 
jeine3 Dorfes 
neben feiner 
Deng 
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weiligen Ausführungen mit gutem Verſtändni3 zu folgen. Das 
iſt gewaltig ſ<wer für einen armen Kopf, der acht oder neun 
Jahre lang faſt nur mit bibliſcher oder vaterländiſcher Geſchichte 
vollgeſtopft worden iſt. Zwiſchen den Leitartikeln eine3 beliebigen 
General oder Lokalanzeiger3 und denen. unjerer Parteipreſſe beſtcht 
ein grundſäßlicher Unterſchied in jeder Hinſi<t. Unſfere Blätter 
jind micht zur Unterhaltung und zur Befriedigung der Neugierde 
da; jie ſind beſtimmt zur Aufklärung, zur Belehrung, zur poli- 
tiſchen und allgemeinen Bildung. Demgemäß iſt ihre Lektüre 
kein Zeitvertreib, keine Zerſtreuung, ſondern eine geiſtige Arbeit. 
Und da8 um ſo mehr, je ſchwerer die Lektüre dem um ſeine 
Bildung ringenden Proletarier fällt, je mehr er ſelbſt um das 
BVerſtändni3 der äußeren Form, um da3 Verſtändnis des ſprach- 
ſichen Ausdrüds zu kämpfen hat. Die Schwierigkeit wächſt bei 
dem Cindringen in wiſſenſc<aftliche, beſonder8 politiſch-wiſſen- 
Ichaftliche, und in künſtleriſche Werke.* 
Doch dies alle3 war den Letern der „Arbeiter-Jugend“ wohl 
Taum erſt noc<4 zu beweiſen. Höcſten3 vielleicht im Zuſammen- 
hang re<ht eindringlich und in ſeiner ganzen Vedeutung klar 
zu machen. Um ſo mehr iſt es nötig, die no< nicht für die 
„Zugendbewegung gewonnenen Jugendlichen darauf hinzuweiſen. 
Aber wir müſſen dieſen wie den ſchon aufgeklärten jungen Prolc- 
tariern zugleich die Frage beantworten, die ſie alle auf den Lippen 
haben werden: Wa3 follen wir tun, um Deut/ſ< zu 
lernen? (Schluß folgt.) 
*) Für die Wichtigkeit der Sprachbeherrſchung im Leben3fkampf nu: 
ein Beiſpiel: Gin Mann hatte geäußert, die Alter83= und Invaliditäts. 
verficherung bezwed? nur die Beſchaffung von Pöſt<en für Militäxr- 
anwärter. Der Mann wurde angeklagt. Als der Richter ihn fragte. 
ob ex dieje Behauptung aufrechterhalten wolle und ob er wirklich glaut Ky 
vaß die Verſicherung aus dieſer Abſicht errichtet ſei, antwortete dcr 
Angeklagte ganz ireuherzig und <riumphicrend: „39 habe Ja nich 
gejagt, das jei die Ubſicht, ſondern nur, das würde bezwedi.“ 
Der Mann wurde deswegen verurteilt! Sr hatte Le3wecden“ mii 
„pewirkfen“ verwechſelt, was der „weltfremde“ Richter nicht be- 
merkte. 
es 
Der Lenz iſt da! 
Der Lenz iſt da. Auf Baum und Strauch 
iegt ſchon ein zarter grüner Hauch. 
In allen Zweigen drängt und ſchwillt 
ein Sehnen, ungeſtüm und wild. 
Das rec>t und ſtre>t ſich nun zum Licht, 
bis aus vieltauſend Knoſpen bricht 
ein reicher Blütenſegen wieder 
und jubelnd ſchmettert ihre Lieder 
die Lerche wieder in die Luft. 
Du aber, Menſc<, von Glanz und Duft 
und goldnem Sonnenſchein umfloſſen, 
ſtehſt zagend noc< und unentſchloſſen, 
als glaubteſt du das Wunder nicht, 
das doch lebendig zu dir ſpricht 
- vom Wirken heimlicher Gewalten, 
- die eine neue Welt geſtalten, 
mit einem Mal geſprengt den Bann, 
der ſie zu lange ſchon umſpann. 
O, glaube nur an deine Macht, 
und wolle nur, dann weicht die Nacht 
aus deiner arbeitsmüden Bruſt, 
und friſcher Mut und Daſeinsluſt 
ſtrömt dir von neuem durch die Glieder, 
in deinen Augen leuchtet wieder 
die alte Hoffnungsfreudigkeit. 
Mit deinen „Fäuſten ſiegbereit 
zerſprengſt du deiner Sklaverei 
unfel'ge Feſſeln, machſt dich frei, 
und bauſt dir auf dem Trümmerfeld 
der alten =- eine neue Welt. Kart Petersſon,
	        
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