Full text: Arbeiter-Jugend - 2.1910 (2)

22 | Arbeiter-JIugend 
rang; 
 
Kammer und ſuchte die dunkle Treppe, fand ſie auc< und ſtieg 
hinab. Seine ſhHweren Schuhe klapperten auf den Steinſtufen. 
Er ſtieg hinab und hinab und gab ſich Mühe, die eigenen Tritte 
zu dämpfen, deren Schwere ihm zum erſtenmal in ſeinem Leben 
auffiel. Endlich fing es an heller zu werden -- ein Lichtſtreifen 
ſtac< aus irgendeiner Tiefe herauf. =- Das dunkle Blut trat ihm 
in die braunen Baden, als er kurz darauf vor der Tür eines 
großen, lauten Raumes anlangte, von dem, ſo unerfahren er 
war, er doc<h wußte, daß er eine Küche war. Zwei mächtige Herde 
mit glänzendem Kupfergeſchirr ſtanden in der Mitte und an die 
zwölf Köche in weißen Jacken, Schürzen und Kappen fuhren hin 
und ber. Eine Menge anderer Leute ging ab und zu, e3 war 
ein Lärm, Raſſeln, Klirren, Klappern, Shwaßten, Schelten, 
Lachen, daß einem der Kopf davon brummte. 
Tür ſtand der Chriſteli wie aus einer anderen Welt hergeregneot, 
unbeholfen, klein und kloßig, rauh und edig, wie ein rechter 
Stein, der ſich denen da, dem Küchenvolk, in den Weg gewälzt. 
Inzwiſchen kam von hinten der Hans Arnold über den Geißbub. 
Woher der aufgetau<ht war, wußte der Chriſten nicht; der Teufel 
modte ſig da unten in dem Gewirr von Gängen zurechtfinden! . 
„Komm doch,“ ſagte der Hans ärgerlih. Da ging der 
Chriſten dem Bruder nach, aber er ſah nicht, wohin ihn der 
brachte. Sie ſtanden gleic<ß darauf an einer anderen Tür, die zu 
einem Eleineren, allerlei Maſchinenzeug haltenden Raum führte. 
Der Chriſten ſah, daß das dem Han38 ſein Reich ſein mußte, aljo 
auch jeines. Er ſtaunte die Maſchinen an, von denen eine ein 
Rad war, in dem Meſſer ſteten. Als er das einc Zeitlang be- 
trachtet hatte, war e8 auf einmal verſchwunden und ſtatt ſeiner 
war Dunſt und Nebel und ferne8 Gebirg und er ſtarrte hinüber 
und dachte: „Jeti laufſt dann, wieder heim laufſt!“ Eine lange 
Weile merkte er nicht, daß der Hans auf einem Tiſch ſaß und 
auf ihn einredete, ihm gute Lehren gab, ihn foppte und ſc<malte 
zugleich, weil er ſo dumm ſei. 
„Morgen mußt zum Herrn!“ 
Erſt dieſes Wort fing Chriſtens Ohr auf. 
„So zum HSerrn, zu dem, dem der Schweizerhof 
fragte er. 
„Ya, da wirſt eingeſ<rieben. Eine Predigt bekommſt au.. 
wie Dich zu halten und wa38 zu tun haſt! Stell Dich dann nicht 
jo dumm! Sagſt auc< ja zu allem, haſt gehört, nachher kannſt 
immer tun wie Du willſt und i9 will Dich ſhon weiſen.“ 
Der Chriſten fah den Hans an. Der tat, al8 ob er etwas 
gelte in dem großen Haus8, war nicht ſcheu und langſam, wie 
do< jeder in Ober-Ebmeten, war -- war kein rechter Ebmeter 
mebr! Der Chriſten würde das vielleicht laut heraus8gefagt 
haben, aber der andere ſtieg eben von feinem Tiſch, weil eine 
Glo&e tönte und ſagte: „Sum Eſſen läutet's. Komm Du! Wirſt 
wohl mögen!“ (Schluß folgt.) 
ES 
Die Uhr. 
Von Maxim Gorki. Deutſh von Nadja Straſſer 
1. 
Er fuhr herum. 
gehört?“ 
Ti>--ta>, ti>--ta>! 
Nacht3, wenn es ſtill und einſam iſt, flößt uns die leidenſc<haftsloſe 
Beredtſamkeit des Uhrpendel8s ein Bangigkeit8gefühl ein: die mono= 
tonen und mathematiſch regelmäßigen Laute verzeichnen immer und 
immer Dasſelbe --- die raſtloſe Bewegung des Lebens. Dunkelheit und 
Schlaf umfangen die Erde, alles ſchweigi = nur die Uhr zeigt kalt und 
laut das Entſc<hwinden der Sekunden an. Der Pendel tiät und mit 
jedem Laut verkürzt ſich das Leben um eine Sekunde, um einen ganz 
Heinen Teil der Zeit, die jedem von uns gegeben iſt. Um einc 
Sekunde, die nie wiederkehren wird für uns. Woher kommen dieſe 
Sekunden und wohin verſchwinden ſie? Niemand kann darauf ants=- 
worten. . . . Und es gibt nod) viele, viele Fragen, auf die keine 
Antwort gegeben werden kann, wichtige Fragen, von deren Löſung unſer 
Glüd abhängt. Wie ſoll man leben, um ſich brauchbar für da38 Leben 
zu erweiſen, wie ſoll man leben, ohne den Glauben und den Willen 
zu verlieren? Wie ſoll man ſo leben, daß keine Sekunde vergeht, 
ohne die Seele und den Geiſt zu erregen? Wird die Uhr in ihrer 
ewigen Bewegung jemal3 auf all das eine Antwort geben? 
: 2, 
Ti>--ta>, tic>-ta>! 
'CSs gibt nicht3 in der Welt, das ſo leidenſchaft38lo8 wäre wie die 
Uhr. Immer tit ſie regelmäßig: im Moment unſerer Geburt, wie 
Und in der hellen 
zur Zeit, wenn wir die Blumen unſerer Jugendtiräume gierig pflüen. 
Vom Augenblide ſeiner Geburt an nähert ſich der Menſch mit jedem 
Tage dem Tode. Und auch im Moment unſeres Sterben38 wird die 
Uhr ruhig und trodfen die Sekunden verzeichnen. Hört: in dem kalten 
Rechnen tönt das Allwiſſen. Und die Müdigkeit, die dieſes Wiſſen mit 
jim bringt. Nichts erregt die Uhr und nichts hat für ſie Wert. Sie it . 
gleichgültig. Und wir müſſen, wenn wir leben wollen, uns ein; 
andere Uhr anſchaffen, eine, die vol Empfindungen und Gedanken, 
voll Tätigkeit iſt an Stelle unſerer langweiligen, eintönigen, Jeelcn. 
tötenden, vorwurfs8vollen und faltſtimmigen Uhr. 
3. 
Tik--ta>, ti>--ta>! 
In der raſtloſen Bewegung der Uhr gibt es keinen Ruhepunit. 
Kaum iſt eine Sekunde geboren, ſo kommt die zweite und ſtößt die erſte 
in den Abgrund des Unbekannten. . . . 
Tiu--ta&! Und wir ſind glü&lic. Ti>--ta>! In unſer Herz 
tropft das brennende Gift des Leiden3, und das Leiden fann lebens- 
lang bei un3 verweilen, kann für immer bleiben, wenn wir uns nicht 
bemühen, jede Sekunde unſeres Lebens mit neuem und lebendigem 
Inhalt zu erfüllen. Am intereſſanteſten und vollſten aber iſt das Leben 
dann, wenn der Menſc< gegen das kämpft, wa3 ſeinen LebenS3gaag 
ſtört. Im Kampf vergehen unmerkbar die langweiligen und die ſebn- 
ſucht3vollen Stunden. 
4. 
Tick--tas, ti>--ta>! 
Da3 Leben de8 Menſchen iſt lächerlich kurz. Wie ſoll man leben? 
Die einen wenden ſich hartnä&ig vom Leben ab, die anderen widmen fich 
Die erſteren werden an ihrem Lebens8abend arm 
an Geiſt und EGrinnerungen; die anderen bereichern ſich ſowohl an 
Geiſt al8 an Erinnerungen. Die einen wie die anderen werden 
jterben, und von jenen, die weder ihren Geiſt noch ihr Herz uneige3- 
nüßig dem Leben gewidmet haben, wird nichts übrig bleiben. Und 
wenn wir ſterben werden, wird die Uhr leidenſchaftslos die Gedantien 
unſerer lezten Stunde verzeichnen -- ti>--ta>! Und in dieſen Se- 
kunden werden neue Menſchen in die Welt kommen, wir aber ſind 
dann nicht mehr da! Und nicht8 wird von uns zurückbleiben als unicr 
Körper, der Übel riechen wird. Sollte er nicht unſeren Proteſt hervor- 
rufen, dieſer automatiſche Schaffen3drang, der uns ins Leben ge- 
worfen hat, um uns dann wieder hinwegzuraffen? Aber iſt das alles! 
Nein, aufzwingen ſollen wir dem Leben die Grinnerungen an wis, 
wenn wir ſtolz genug ſind, beleidigt zu ſein, daß wir uns den geheinnen 
Abſichten der Zeit unterwerfen müſſen. Denken wir nur an unſere 
Rolle im Leben: ein Ziegelſtein wurde gemacht und dann lag ex un- 
beweglich in einem Gebäude, jicließlich verwitterte er und verſchwand, 
C3 iſt langweilig und widerlich, ein Ziegelſtein zu ſein -- nicht wahr? 
Niemand von uns will doch einem Kiegelſtein gleichen. Wir beſitzen 
Geiſt und Seele, und ſo wollen wir nach einem Leben voller Gedanten 
und EGmpfindungen, voll ſtürmiſcher Stunden ſtreben. 
9. 
ihm ganz und gar. 
Ti>--tas, tic>--ta> |! 
Wenn wir nachdenken, was wir in der grenzenloſen Betvegung 
der Stunden bedeuten, werden wir vom Bewußtſein unſerer Nichtigici 
niedergedrü>t. Möge doch dieſes Bewußtſein uns als Beleidigung ex- 
ſcheinen! Möge e3 doh in uns den Stolz wecken, ſo daß wir Feind- 
ſeligkeit gegen das Leben, das un3 erniedrigt, empfinden und es zum 
Kampf herausfordern. In weſſen Namen? UAl3 die Natur den Menſchen 
der Fähigkeit, auf allen Vieren zu kriechen, beraubt hatte, gab ſie ig: 
zum Wanderſtab -- das Jdeal! Seit dieſer Zeit ſtrebt er unbewußzt, 
inſtinktiv zum Beſſeren =“ immer höher! Machen wir doch dici23 
Streben zu einem bewußten, lehren wir die Menſchen zu verſteh2n, 
daß nur im bewußten Streben zum Beſjeren da8 wahre Glüc> DEN 
Klagen wir nicht über unſere Kraftlofigfeit! Alle Menſchen ſind gi“ 
unglüdlich, der Unglücdlichſte aber iſt jener, der von ſeinem Ungiit id 
Aufhebens macht. Dieſe Menſchen dürſten am meiſten nach Beachtung 
-=- und ſind am wenigſten ihrer wert. Da3 Streben nach vorwärts = 
da3 iſt das Ziel de3 Leben3. Wenn das ganze Leben durh dieſes Streben 
aus8gefüllt wird, dann wird es reich an herrlich ſchönen Stunden ſi. 
6. 
Tick--tas, tic--ta>! nN 
„Wozu haſt du dcm Menſchen Licht gegeben, wenn du ihm de 
Weg verſperrt haſt und ihn mit Dunkelheit umringſt?“ So fragte 
der alte Hiob Gott. Jett gibt es keine ſolve mutigen Menſchen mer, 
die wie Hiob mit Gott redeten, weil ſie ſich für Kinder Gottes hielten, 
na< ſeinem Bild geſchaffen. Billig bewerten ſic< jebt die Menſcwven- 
Sie lieben das Leben zu wenig und felbſt ihre Liebe zu ſich iſt un- 
geſchidt. Und zugleich fürchten ſie den Tod, obwohl bekanntlich niemand 
ihm entgehen fann. Wa3 unvermeidlich iſt -- iſt geſezmäßig. Der 
Menſch ſtirbt vom Momente an, wo er auf die Erde gekommen iſt, und 
daran müßte man ſich ſhon gewöhnen, es wäre Zeit. Da3 Bewußtſein 
der erfüllten Aufgaben müßte die Tode3fur<t verſcheuchen. Wenn wir 
ehrlich dur<ß das Leben gegangen ſind, muß unſer Ende Ruhe vbe- 
 

	        
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