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Eingetragen in die Poſt- Zeitungsliſte.
Nr. 13
Der preußiſche Wahlre<ktsfampf.
B fg eberall in Preußen finden jeht wieder Wahlrechtsverjamm-
Ä lungen ſtatt, und auch außerhalb Preußens ſind die Zei-
tungen wieder einmal angefüllt mit Betrachtungen über da3
preußiſche Wahlrecht und über den preußiſchen Wahlrecht5kampf.
Zhr alle habt gewiß in dieſen Tagen davon gehört und geleſen
und erwartet de8halb mit Recht von eurem Blatte, von der
„Arbeiter-Fugend“, daß ſic euch in kurzen Worten jagt, um was
es ſich da eigentlich handelt.
Ihr wißt, daß das Deutſche Reiß aus einer ganzen Reihe
von Einzelſtaaten beſteht und daß, wie das Reich ſeine Volls-
vertretung im Reich8tage beſigt, jo die Einzelſtaaten ihre Land-
tage haben. Deren Aufgaben ſind ſehr vielgeſtaltig und be-
deutung8voll. Während im Reichstage über dic großen Fragen
der internationalen Politik verhandelt wird, über Vältitär-,
Marince- und Kolonialfragen, über die Richtlinien der Wirtſchaft3-
und Zollpolitik, über indirekte Steuern und Arbeiterſc<hußgeſe38-
gebung, ſind der Geſeßgebung durch die Landtage vorbehalten die
Angelegenheiten des geſamten Schulweſen3, von den Volksſchulen
an 'bi8 zu den Univerſitäten, ferner die Verwaltung der Eiſen-
bahnen und des ganzen Verkfehr5weſen38, die Bergwerke und viele
andere Dinge... Andy darüber, nie die ReichSgeſcehe von den 32-
hörden der einzelnen Bundesſtaaten nun praktiſch ausgeführt
werden, haben die Parlamente der Einzelſtaaten zu wachen: daher
wird in ihnen über die Berichte der Gewerbeinſpektoren, über die
Iuſtizpflege, über die Handhabung de3 ReichSverein3geſeße3s und
viele3 andere beraten, was beſonders für die Arbeiterſchaft von
höchſter Bedeutung iſt. Wie ſehr gerade auch die arbeitende
Jugend an den Verhandlungen und Beſchlüſſen der Einzel-
landtage intereſſiert iſt, das haben ja erſt neuerdings wieder
die -Landtags8debatten in Preußen, Sachſen und Baden über
Jugendpflege und Jugendbewegung unſeren Leſern gezeigt.
- Nah alledem wird ce38 ohne weitere3 klar ſein, daß das ar-
beitende Volk wie an der Zuſammenſeßung des Reichötages jo auch
an. der Zuſammenſezung der einzelnen Landtage das lebhafteſte
Intereſſe bat. Dicſe Zuſammenſetzung aber hängt in erſter Linie
ab vom Wahlrecht. |
Sehen wir von Medlenburg ab, das al3 einziger deutſcher
Bundesſtaat überhaupt noch keine Volks8vertretung beſißt, und
etwa noch von. Braunſchweig, ſo iſt wohl in keinem Einzelſtaat das
Wahlrecht zum Landtag ſo jammervoll ſchlecht wie im größten
Einzelſtaat, in Preußen. Da3 wird un38 klar werden, wenn wir
ſeine wichtigſten Beſtimmungen einmal ganz flüchtig mit den
wichtigſten Beſtimmungen. des Wahlrechts zum ReichöStage ver-
gleichen. Wobei im Übrigen ausdrücklich bemerkt ſei, daß auch
das Reich8tag8wahlre<ht noch zahlreiche ſ<were Mängel aufweiſt,
wie die ſkandalöſe Ungleichheit der Wahlkreiſe, den Ausſchluß der
Jrauen vom Wahlreht, die zu hohe Alter8grenze für den Beginn
der Wahlberehtigung uſw. Aber im Vergleich zum preußiſchen
Wahlrecht iſt das Reich8tag3wahlrecht immerhin ein verhältni3-
mäßig autes, fortſchrittliches Wahlrecht.
Worin beſtehen nun alſo die weſentlichſten Unterſchiede?
Erſten3: das Reichstag38wahlrecht iſt geheim, das preußiſche Wahl-
recht aber iſt öffentlich. Das heißt, beim Reichstag3wahlrecht wird
durch einen Stimmzettel gewählt, den der Wähler in einem amt-
lichen Umſ<lag abgibt, und der in einer großen Wahlurne ſo mit
den anderen Stimmzetteln vermiſcht wird, daß kein Menſc< die
Stimmabgäbe des einzelnen Wähler8 kontrollieren kann. Zum
Berlin, 20. Juni
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul
Singer G. m. b. H., Lindenſtraße 69. Alle Zu- 19 1 4
ſchriften für die Redaktion ſind zu richten
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68
preußiſchen Landtag aber wird öffentlich gewählt, das heißt, jeder
Wähler muß den Namen deſſen, dem er ſeine Stimme geben will,
öffentlich nennen. Daß das für alle abhängigen Wähler, Land-
arbeiter, Unterbeamte, Lehrer uſw. eine ſchwere Beeinträchtigung
ihrer Wahlfreiheit bedeutet, brauc<ßen wir nicht erſt auseimander-
zuſehen. =- Zweitens: das Reichstagswahlrecht iſt direkt, das heißt,
ohne jede Vermittelung wählt jeder Wähler gleich den Kandivaien
ſeines Vertrauens. Da3 Landtagswahlre<t aber ift indirekt, der
Mähler wählt erſt einen ſogenannten Wahlmann und dieſer dann,
gleichfalls mit öffentlicher Stimmabgabe, den Abgeordneten.
Dieſes ganze, heute völlig überlebte Verfahren dient ausihlicklic
dazu, den breiten Maſſen das Wählen zu erſchweren und zu ver-
feln; auf dem Lande iſt es nicht nur der Sozialdemokratie, 10n-
dern ſogar den liberalen Parteien oft ganz unmöglich gemadt,
Sente aufzutreiben, die unabhängig genug jind, als Wahlmanner
zu wirken. 7 |
Der ſchlimmſte Unterſchied aber iſt folgender. TDa3 Reich3-
tagswahlrecht iſt gleich, das heißt: der ärmſte Wähler hat (jeden
wir von der vorhin erwähnten ungleichen Größe der Wahlkreiſe
und ihren Jolgen ab) genau ſoviel Wahlrecht wie der reichſie. Beim
CLandtagswahlrch<t aber iſt das Stimmrecht dar Wähler genau ab-
gemeſſen nach der Größe ihres Geldſa>s. Das wird Jolgender-
maßen buverffielligt. Jede: <Tandiugswahltreis iis in eine Reihe
von ſogenannten Urwahlbezirken eingeteilt, und in jedem Dieſer
Urwahlbezirfe wird die von allen Wahlberechtigten gezahlte
Steuerſumme zufammengerehnet und dann durch drei geteilt. Die
wonigen ganz reichen Wähler nun, die zuſammen das erſte Drittel
dieſer Steuerſumme aufbringen, bilden die erſte, die Wähler, die
fi in das zweite Drittel dieier Summe teilen, bilden die zweite,
der große Reſt aber bildet die dritte Wählerklaſſe. Ein Beiſpiel
mag das Geſagte anſchaulich machen: Geſekt, in einem Urwabhl-
bezirk beträgt die geſamte Steuerfumme 90 000 Mk. Ein reicher
Jabrifant, der in dem Bezirk wohnt, möge allein 30 000 ik.
Steuern zahlen; dann bildet dieſer reiche Fabrikant für 11D
ganz allein die erſte Wählerklaſſe. Vierzig Leute aus dem
wohlhabenden Mittelſtand, höhere Beamte, Rentier, Kauf-
leute uſw., bringen wieder 30 000 Mk. Steuern auf; dieje bilden
dann die zweite Wählerklaſſe. Achthundert Arbeiter, Unterbeamte
und Handwerker aber teilen ſich in die reſtlichen 30 000 ME
Steuern =- ſie bilden die dritte Wählerklaſſe. Die 40 Wähler
der zweiten Klaſſe wählen dann genau ſoviel Wahlmänner wie
die 800 Wähler der dritten Klaſſe; jeder von ihnen hat alſo ein
zwanzig Mal ſo großes Wahlrecht als ein Wähler der dritfen
'Flaſſe. Der eine Wähler der erſten Klaſſe aber, der für ji
lein ebenſoviel Wahlmänner wählt wie die vierzig Mähler der
zweiten oder die ac<thundeit Wähler der dritien Klaſſe, bat ein
vierzig Mal ſo große8 Wahlrecht wie die „Zweitklaſſigen“ und
gar ein achthundert Mal ſo große8 Wahlrecht wie die „dritt-
Haſſigen“ Wähler. |
Infolge dieſe3 ungeheuerlichen Wahlſyſtem8, da3 Übrigens
gar nicht einmal zu Recht beſteht, ſondern nur einem Verfaſſungs-
bruch von oben, dem Staatsſireich von 1849, ſeine Entſtehung ver-
dankt, iſt das arbeitende Volk Preußens Jahrzehnte hindur< von
jeder Vertretung im Abgeordnetenhauſe ausgeſchlofen geweſen.
Im Jahre 1908 gelang es zum erſten Malc, eine kleine Breſche in
dieſen Wall de3 Unrechts zu legen, und im vorigen Jahre, 1913,
konnte, wenn auch nur unter äußerſter Kraftanſtrengung, das
preußiſche Proletariat zehn ſeiner Vertrauensmänner in das Ab-
geordnetenhaus bringen. Aber dieſen zehn Vertretern de3 Volfes