Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

 
   
Erſcheint alle 14 Tage. 
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Eingetragen in die Poſt- Zeitungsliſte. 
Nr. 13 
Der preußiſche Wahlre<ktsfampf. 
B fg eberall in Preußen finden jeht wieder Wahlrechtsverjamm- 
Ä lungen ſtatt, und auch außerhalb Preußens ſind die Zei- 
tungen wieder einmal angefüllt mit Betrachtungen über da3 
preußiſche Wahlrecht und über den preußiſchen Wahlrecht5kampf. 
Zhr alle habt gewiß in dieſen Tagen davon gehört und geleſen 
und erwartet de8halb mit Recht von eurem Blatte, von der 
„Arbeiter-Fugend“, daß ſic euch in kurzen Worten jagt, um was 
es ſich da eigentlich handelt. 
Ihr wißt, daß das Deutſche Reiß aus einer ganzen Reihe 
von Einzelſtaaten beſteht und daß, wie das Reich ſeine Volls- 
vertretung im Reich8tage beſigt, jo die Einzelſtaaten ihre Land- 
tage haben. Deren Aufgaben ſind ſehr vielgeſtaltig und be- 
deutung8voll. Während im Reichstage über dic großen Fragen 
der internationalen Politik verhandelt wird, über Vältitär-, 
Marince- und Kolonialfragen, über die Richtlinien der Wirtſchaft3- 
und Zollpolitik, über indirekte Steuern und Arbeiterſc<hußgeſe38- 
gebung, ſind der Geſeßgebung durch die Landtage vorbehalten die 
Angelegenheiten des geſamten Schulweſen3, von den Volksſchulen 
an 'bi8 zu den Univerſitäten, ferner die Verwaltung der Eiſen- 
bahnen und des ganzen Verkfehr5weſen38, die Bergwerke und viele 
andere Dinge... Andy darüber, nie die ReichSgeſcehe von den 32- 
hörden der einzelnen Bundesſtaaten nun praktiſch ausgeführt 
werden, haben die Parlamente der Einzelſtaaten zu wachen: daher 
wird in ihnen über die Berichte der Gewerbeinſpektoren, über die 
Iuſtizpflege, über die Handhabung de3 ReichSverein3geſeße3s und 
viele3 andere beraten, was beſonders für die Arbeiterſchaft von 
höchſter Bedeutung iſt. Wie ſehr gerade auch die arbeitende 
Jugend an den Verhandlungen und Beſchlüſſen der Einzel- 
landtage intereſſiert iſt, das haben ja erſt neuerdings wieder 
die -Landtags8debatten in Preußen, Sachſen und Baden über 
Jugendpflege und Jugendbewegung unſeren Leſern gezeigt. 
- Nah alledem wird ce38 ohne weitere3 klar ſein, daß das ar- 
beitende Volk wie an der Zuſammenſeßung des Reichötages jo auch 
an. der Zuſammenſezung der einzelnen Landtage das lebhafteſte 
Intereſſe bat. Dicſe Zuſammenſetzung aber hängt in erſter Linie 
ab vom Wahlrecht. | 
Sehen wir von Medlenburg ab, das al3 einziger deutſcher 
Bundesſtaat überhaupt noch keine Volks8vertretung beſißt, und 
etwa noch von. Braunſchweig, ſo iſt wohl in keinem Einzelſtaat das 
Wahlrecht zum Landtag ſo jammervoll ſchlecht wie im größten 
Einzelſtaat, in Preußen. Da3 wird un38 klar werden, wenn wir 
ſeine wichtigſten Beſtimmungen einmal ganz flüchtig mit den 
wichtigſten Beſtimmungen. des Wahlrechts zum ReichöStage ver- 
gleichen. Wobei im Übrigen ausdrücklich bemerkt ſei, daß auch 
das Reich8tag8wahlre<ht noch zahlreiche ſ<were Mängel aufweiſt, 
wie die ſkandalöſe Ungleichheit der Wahlkreiſe, den Ausſchluß der 
Jrauen vom Wahlreht, die zu hohe Alter8grenze für den Beginn 
der Wahlberehtigung uſw. Aber im Vergleich zum preußiſchen 
Wahlrecht iſt das Reich8tag3wahlrecht immerhin ein verhältni3- 
mäßig autes, fortſchrittliches Wahlrecht. 
Worin beſtehen nun alſo die weſentlichſten Unterſchiede? 
Erſten3: das Reichstag38wahlrecht iſt geheim, das preußiſche Wahl- 
 
recht aber iſt öffentlich. Das heißt, beim Reichstag3wahlrecht wird 
durch einen Stimmzettel gewählt, den der Wähler in einem amt- 
lichen Umſ<lag abgibt, und der in einer großen Wahlurne ſo mit 
den anderen Stimmzetteln vermiſcht wird, daß kein Menſc< die 
Stimmabgäbe des einzelnen Wähler8 kontrollieren kann. Zum 
Berlin, 20. Juni 
    
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul 
Singer G. m. b. H., Lindenſtraße 69. Alle Zu- 19 1 4 
ſchriften für die Redaktion ſind zu richten 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68 
preußiſchen Landtag aber wird öffentlich gewählt, das heißt, jeder 
Wähler muß den Namen deſſen, dem er ſeine Stimme geben will, 
öffentlich nennen. Daß das für alle abhängigen Wähler, Land- 
arbeiter, Unterbeamte, Lehrer uſw. eine ſchwere Beeinträchtigung 
ihrer Wahlfreiheit bedeutet, brauc<ßen wir nicht erſt auseimander- 
zuſehen. =- Zweitens: das Reichstagswahlrecht iſt direkt, das heißt, 
ohne jede Vermittelung wählt jeder Wähler gleich den Kandivaien 
ſeines Vertrauens. Da3 Landtagswahlre<t aber ift indirekt, der 
Mähler wählt erſt einen ſogenannten Wahlmann und dieſer dann, 
gleichfalls mit öffentlicher Stimmabgabe, den Abgeordneten. 
Dieſes ganze, heute völlig überlebte Verfahren dient ausihlicklic 
dazu, den breiten Maſſen das Wählen zu erſchweren und zu ver- 
feln; auf dem Lande iſt es nicht nur der Sozialdemokratie, 10n- 
dern ſogar den liberalen Parteien oft ganz unmöglich gemadt, 
Sente aufzutreiben, die unabhängig genug jind, als Wahlmanner 
zu wirken. 7 | 
Der ſchlimmſte Unterſchied aber iſt folgender. TDa3 Reich3- 
tagswahlrecht iſt gleich, das heißt: der ärmſte Wähler hat (jeden 
wir von der vorhin erwähnten ungleichen Größe der Wahlkreiſe 
und ihren Jolgen ab) genau ſoviel Wahlrecht wie der reichſie. Beim 
CLandtagswahlrch<t aber iſt das Stimmrecht dar Wähler genau ab- 
gemeſſen nach der Größe ihres Geldſa>s. Das wird Jolgender- 
maßen buverffielligt. Jede: <Tandiugswahltreis iis in eine Reihe 
von ſogenannten Urwahlbezirken eingeteilt, und in jedem Dieſer 
Urwahlbezirfe wird die von allen Wahlberechtigten gezahlte 
Steuerſumme zufammengerehnet und dann durch drei geteilt. Die 
wonigen ganz reichen Wähler nun, die zuſammen das erſte Drittel 
dieſer Steuerſumme aufbringen, bilden die erſte, die Wähler, die 
fi in das zweite Drittel dieier Summe teilen, bilden die zweite, 
der große Reſt aber bildet die dritte Wählerklaſſe. Ein Beiſpiel 
mag das Geſagte anſchaulich machen: Geſekt, in einem Urwabhl- 
bezirk beträgt die geſamte Steuerfumme 90 000 Mk. Ein reicher 
Jabrifant, der in dem Bezirk wohnt, möge allein 30 000 ik. 
Steuern zahlen; dann bildet dieſer reiche Fabrikant für 11D 
ganz allein die erſte Wählerklaſſe. Vierzig Leute aus dem 
wohlhabenden Mittelſtand, höhere Beamte, Rentier, Kauf- 
leute uſw., bringen wieder 30 000 Mk. Steuern auf; dieje bilden 
dann die zweite Wählerklaſſe. Achthundert Arbeiter, Unterbeamte 
und Handwerker aber teilen ſich in die reſtlichen 30 000 ME 
Steuern =- ſie bilden die dritte Wählerklaſſe. Die 40 Wähler 
der zweiten Klaſſe wählen dann genau ſoviel Wahlmänner wie 
die 800 Wähler der dritten Klaſſe; jeder von ihnen hat alſo ein 
zwanzig Mal ſo großes Wahlrecht als ein Wähler der dritfen 
'Flaſſe. Der eine Wähler der erſten Klaſſe aber, der für ji 
lein ebenſoviel Wahlmänner wählt wie die vierzig Mähler der 
zweiten oder die ac<thundeit Wähler der dritien Klaſſe, bat ein 
vierzig Mal ſo große8 Wahlrecht wie die „Zweitklaſſigen“ und 
gar ein achthundert Mal ſo große8 Wahlrecht wie die „dritt- 
Haſſigen“ Wähler. | 
Infolge dieſe3 ungeheuerlichen Wahlſyſtem8, da3 Übrigens 
gar nicht einmal zu Recht beſteht, ſondern nur einem Verfaſſungs- 
bruch von oben, dem Staatsſireich von 1849, ſeine Entſtehung ver- 
dankt, iſt das arbeitende Volk Preußens Jahrzehnte hindur< von 
jeder Vertretung im Abgeordnetenhauſe ausgeſchlofen geweſen. 
Im Jahre 1908 gelang es zum erſten Malc, eine kleine Breſche in 
dieſen Wall de3 Unrechts zu legen, und im vorigen Jahre, 1913, 
konnte, wenn auch nur unter äußerſter Kraftanſtrengung, das 
preußiſche Proletariat zehn ſeiner Vertrauensmänner in das Ab- 
geordnetenhaus bringen. Aber dieſen zehn Vertretern de3 Volfes
	        
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