Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

Arbeiter-Zugend 279 
 
 
Ich ſtand an eines Gartens Rand 
Und ſc<haute in ein herrlich Land, 
Das ausgebreitet vor mir liegt, 
Vom Friedensfächer eingewiegt. 
Und Arm in Arm, es ijt kein Traum 
Mein Wirt und i<ß am Apfelbaum. 
Wir lauſchen einer Nachtigall, 
Und Roſen, Roſen überall. 
ES 
Detlev pv. Liliencron. 
Erinnerungen an Jaures. 
Von ECdmondo Peluſo. 
Wo 17 der tiefen Betrübni3, in die un3 die Erinnerung an Jean Jaure3 
verſeßt, wiſſen wir nicht, um wen wir mehr trauern jollen: um 
ez den führenden Mann oder um ven "großen Menſchen. Den 
führenden Viann verliert die Partei in einem Augenbli>, wo er 19x 
am bitterften not tut. Den großen Menſchen aber verliert die ganze 
Welt in den ernſteſten Tagen, die über ſie je hereingebrochen jind. Wer 
jemal3 das Glüc> hatte, in die Nähe von Jean Jaure2 zu kommen, Dcr 
war hingeriſſen nicht bloß durch ſein Genie, ſondern vor allem durc) die 
große Güte, die aus ſeiner Seele ſtrahlte. Wie alle wirklich großer: 
Männer war Jaures ein beſcheidener Menſch, veſſen geiſtige Ueber- 
legenheit nig drüdend empfunden wurde. Selbit jungen Parteigenoyjen 
gegenüber war er voll liebenswürdiger Kameradſchaftlichfeit. Er 
verſtand e3 ohne Abfichtlichfeit, nicht nur -das Ohr, ſondern auch die 
Herzen der ſchlichteſten Leute zu gewinnen, ſelbſt jener, die ſeinem 
Gedankenflug faum noch zu folgen vermochten. Faſt ſprichwörtlich war 
feine Zartheit gegenüber den Frauen. . 
Sein Wiſſen war außerordentlich umfaſſend. Er hatte die Hoch- 
TDule der franzöfiſ<en Gelchrjſamfeit beſucht: die Ecole Normale 
Superieure, und war dort das leuchtende Vorbild aller, die mit ihm 
ſtudierten. Schon damals wuchs die Fülle feines Wiſjen3 weit über den 
Durchſchnitt. 'Er verließ oie Univerſität als anerkannter Gelehrter. 
Man konnte mit Jaures8 über alle Fragen reden. Er wußte immer 
beſſer Beſcheid und konnte fich klarer verſtändlich machen al38 der Fach= 
mann ſelbſt. Alles in der Welt rang ihm Intereſſe as. Um alles auf- 
zunehmen, ſpannte er ſeine Arbeitskraft aufs äußerſte an. Seine uns= 
erſchütterliche Geſundheit war ihm dabei die treue*:2 Helferin. Er 
arbeitete ſecyzehn Stunden am Tage. Wie hätte ex. denn ſonſt auch 
neben feiner gewaltigen parlamentariſchen Leiſtung noch die Geſchäfte 
der Partei führen, täglich Artifei für das von ihm gegründeie und 
geleitete Zentralorgan der Partei, die „Humanite“*), ſchreiben und über- 
Die2 noh eine umfaſſende Tätigkeit als Geſchicht3forſcher und al8 Dar= 
jtellex der franzöſiſchen Revolution entfalten können. 
Jaures kam faſt täglich in diz Redaktion der „Humanite“, um mit 
feinen NRedaktionsfollegen die Ereigniſſe des Tages zu beſprechen. Dann 
ging man in ein fleines Reſtaurant, um dort da3 Abendbrot zu nehmen, 
oder in das benachbarte Cafe du Croiſſant (in dem er ermordet wurde). 
E3 fügte ſich von ſelbſt, daß Jaures immer an der Spiße der Gruppe 
fhritt: hoch erhobenen Hauptes, den Bli> in die Ferne gerichtet. Man 
fah es ihm an, daß in ihm noch alle Leidenſchaft der parlamentariſchen 
Tageskämpfe flammte. 
Aber ſobald man ſich zu Tiſch geſckt hatte, war er ein ganz anderer 
Menſ<; es war, wie wenn eine jähe Entſpannung eintrete. Mit 
einem Male war Jaures nicht8 anderes als ein fröhlicher und geiſt- 
reicher Tiſchgenoſſe. Alle Lebendigkeit und Munterkeit de3 e<hten Süd- 
franzoſen war in ihm entfeſſelt. 
Jaures Redlichfeit und die Lauterkeit ſeiner Geſinnung waren ſo 
 
anerfannt, daß er in zwanzig Jahren ſeine3 Volks8tribunat3 nie einen. 
perjönlichen Feind gefunden hat und auch bei den Gegnern geradezu 
als das Gewiſſen der Deputiertenkammer galt. 
An ſeiner Beredſamkeit erfreute ſich das ganze Haus. 
JQULEe3 wird ſprechen,“ hieß e8 immer, wenn er die Tribüne betrai. 
Und alle3 lauſchte gebannt. Was aber auch ſeine ſchärfſten Widerſacher 
in ihn geradezu verliebt machie, war die unbeirrbare Redlichkeit feiner 
Polemik, die jedes zweifelhafte Mittel verabſcheute und e3 grundſäßlich 
vermied, den Feind perſönlich anzutaſten. | 
Gs hieße eine Abhandlung über die Redekunft ſchreiben, wollte man 
das Weſen ſeiner Beredſamkeit darlegen. Daß er der größte unter den 
Rednern der franzöſiſchen (Wegenwart und vielleicht der ganzen romani= 
ien Welt war, werden wenige beſtreiten. 
Er war insbeſondere auch ein Redner. für die Jugend, bei der die .- 
Schönheit und Klarheit ſeines Ausdru>s, die Anſchaulichkeit ſeiner 
Bilder innigſte Liebe zum Sozializmus zu entzünden wußte. Dieſer 
leine Mann mit ſeiner unterſeßten Figur, die er nie vorteilhaft zu 
leiden wußte und die immer in ein zu kurzes Jackett gehüllt war, er= 
chien auch körperlich merkwürdig groß. E3 war, wie wenn die Gewalt 
einer Rede ihm auch äußerlich vieſenhafte Formen verleihen wollte. 
eintreten 
 
*) Sprich ümaniteh, Ton auf der Endifilbe. 
„Nuhe, 
Gine Vorſtellung von ſeinem Mut und feiner AusSdauer vermechte 
man am beſten in jenen Tagen zu gewinnen, al3 er in der Dretſfus3- 
Affäre für den verurteilten Kapitän eintrat. Niemand war damals 
jo umjtellt und verfolgt wie Jaures. In ſtürmiſchen Verjammlungen, 
umdroht von Anwürfen und Angriffen, vbeivies ex das höchte Maß von 
Jiuhe und Gelaſſenheit. 
Die Zeitung, die er gründete, nannic er „Humanite“ (Meniſchlich- 
eil), jop fehr war er von dem Glauben an die Güte der Menſ<he2it 
beberrſcht. 3n feinen Reden rief er immer ivieder die niemal3 Unter- 
gehende, ewige Gerechtigfeit an. 
Sein Weſen ]piegelte ſich auch in der Geſchichte feiner Wahlkämpfe, 
Der Vertreter ſeiner Heimat war urſprünglich ein Kobtenbaron, ein 
Vedrücker der Schachtjtlaven und Bauern. Jaure3 gelang e8, dieſen 
Mann, ber in den Wahlfämpfen fein Mittel der Gewalt, de38 Betruges 
und der Geldmacht verſchmäßte, zu ſtürzen. Cinmal mußte er, wie er 
jelbjt ſ<erzend jich ausdrüdie, „auf Urlaub gehen“; jein Gegner hatie 
dieSmal doc) zu viele Stimmen gekauft. Bald aber verwandelte ſich 
Jaures' Wahltag in eine Art idhlliſchen Hirtenfeſtez2. Wo Jaures 
erjdgien, beeilten ji die Ortſchaften, ihrem Vertreier ein Feſtmahl zu 
veranſtalten. Man ſJezte ihm die unmöglichſten Rortionen von Braten, 
Hühnern, Wild und Obſt vor und Jaures8 ließ alle3 mit ſeiner natür- 
lichen Gelaſjenheit über jich ergehen. Er mußte der Köchin doch immer 
die 'Chre [ajien. 
In Frankreich ſelbſt nannie man Jaurt3 bisweilen „den Aus- 
länder“. Seine politiſchen Unſchauungen wurden von der Gngherzig- 
keit de3 Kleinbärger3 nicht erfaßt. Und doch waren in ihm in Wirt 
lichfeit Die beſten Gigenheiten des Teanzöliigen Weſens aufs glänzendit 
vereinigt. 
Noch vor wenigen Wochen bat er in Brüſſel und in Paris in Woricn 
vol eherner Wucht ſeiner Hoffnung auf Völferfrieden und Völker- 
gejittung Ausdrud gegeben. E32 iſi erſchütternd, zu wiſſen, daß er jelbft 
nunmehr als erjier hingejunfen iſt auf dem Schlachtfeld, das noch un- 
gezählte and2re erwartet . . . « 
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+ 
IO 
Ein Teſkamentk. 
oftor . . . ſagen Sie mir die Wahrheit . . . Wenn ich etwa 
GS ) bald ſterben jollte, iq) will cs wiſſen. Nod) fo viel, fo viel 
hätte ic) zu tun, aber ich fühle die Kräfte ſchwinden . . .“ 
„Regen Sie ſich nicht auf. Sie können wieder geſund werden, 
namentlich wenn Sie ſick Ruhe gönnen und dieſem Ringen und 
Kämpfen für eine unerreichbare Sache entſagen -- wenn Sie ſich 
das närrijce Zeug mit all den FriedenSvpereinen und Kongreſſen 
und dergleichen aus dem Kopfe ſc<lagen -- e3 reibt Sie auf... 
Und Sie erleben es doc< nicht, wenn Sie hundert Jahre alt 
werden, daß =- =+“ | 
„Wer ſpricht vom Erleben? Al3 ob in Menſc<hheitsfragen die 
Dauer ves perſönlichen Daſeins ins Gewicht fiele! Wir iprechen 
im Gegenteil vom Sterben. Id) will wiſſen, ob .. . ic... oÖ9, 
mein Gott!“ 
„Sie haben Fieber. Jhre Angen und Jhre Wangen glühen. 
Verjuchen Sie zu ſchlafen.“ 
„Yeein, zum Schlafen habe im Zeit, Zeit und Ewigkeit. -- 
jekt habe ic Dringenderes zu tun . .. E83 handelt ſic) um 
Dinge =“ 
„Fun, wenn Sie Yhre lettiwilligen Verfügungen treffen 
wollen, dann allerding3 -- =“ 
„Mein Teſtament? . . . Ja... E38 liegt icon eine38 beim 
Notar . . . Aber ich will noh ein anderes ſchreiben . . . Alle3, was 
ich auf dem Herzen habe . . . auf ein einzige3 Blatt... die 
beißeſten Wünſche zuſammendrängen . . . jetzt gleich.“ 
„Soll man vielleicht Ihren Notar =? . . . Aber es eilt ja 
nicht jo ſehr.“ 
„Nein, nicht den Notar. 
werden, in Kanzleien zu verlejen =- es foll... 
mich allein, ich will zu ſ<lafen verſuchen.“ 
„Da haben Sie recht. Sie brauchen Ruhe. Und nur keine 
aufregenden Gedanken, ni<t3 von Krieg und Frieden . . . Sie 
wiſſen ſchon, was ic meine . . . Trinken Sie ein Gla3 Orangen- 
blütenwaſſer! Morgen komme 1ich recht früh.“ -- 
Al3 aber der Kranke allein geblieben, da legte er ſic) nicht 
zum Sclafen hin, ſondern fiebernd wie er war, ging er an ſeinen 
Schreibtiſch und ſ<rieb mit heißer, zitternder Hand in vielen Ab- 
jäßen den folgenden Brief, der an der Spitze die Adreſſe eines 
bekannten Vortragskünſtler3 trug: 
„ - - Die Gelegenheit wird ſic< dir einmal bieten, an den Vor- 
leſetiſch zu treten, eine Papierrolle in der Hand . . . Im Saale 
Stille und Spannung. Dem Klange deiner Stimme werden ſie 
lauſchen, die Menſchen da unten, dem Spiele deiner Miene 
werden ſie folgen und ſic; ganz der Stimmung gefangen geben, 
Sin Adoinmnon Rartraa hofoolt M3t Sr mordon io Tacholn fall&a 
C3 foll fein irodenes Dokument 
Doktor, laſſen Sie
	        
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