Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

-Arbeiter-Zuzend 
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Jeder ſieht, daß zahllsje Kombinationen möglich ſind. Schlüje 
werden weiter zu Beweiſen verbunden, Beweiſe ergeben ſchließlich 
ein wiſſenſchaftliches Syſtem, das häufig auf ganz wenigen Grund- 
jägen (Axiomen) ruht. 
| V. Rejthettil. 
Wir ſahen ein Bild, hörten ein Muſikſtück, lajen ein Buch. Die 
beiden erſten, ſagen wir mal, gefielen un8, das Buch aber gar nicht. 
Einem Bekannten von uns ging es mit denſelben Dingen gerade 
umgekehrt. Er fand nur das Buch f<ön. Wer hat rect? Die 
„Geſc<hmäder find verſchieden“, ſagt man ſcherzhaft. WMVuß das 
jein? Sängt ein folche38 Urteil von der größeren oder geringeren 
Bildung de38 Genießenden ab? Oder iſt etwas darum Kunſt over 
Jeihtfunit, TcOlechte oder gute Kunſt, je nachdem es Beſtimmtes 
darſtellt: Nackte8 oder Bekleidete3, Revolution oder bürgerliche 
Zufriedenheit? Wir unterſcheiden nun aber in der Tat bedeuten- 
dere und unbedeutendere Künſtler. Woran denn? Solche und 
ähnlicße Fragen beſchäftigen die Aeſthetif: Fragen der Kunſt, Bc- 
lehrungen über den Genießenden, den Künſtler und vas Kunjit- 
werk (aisthetikos, griech. = wahrnehmbar, für die Sinne faßbar). 
Man glaubt nachweiſen zu können, daß zur Kunſt nicht jo ſehr 
Erkennen und Wollen gehören (Erkennen kommt mchr der Wiſjen- 
ichaft zu, Wollen dem praktiſchen Leben, der Sittlichkeit, der Cthik) 
als das Gefühl. Aber kommen dieſe Vermögen wirklich j9 getrennt 
vor? Ste>t nicht in jedem Fühlen auc) Wollen? Weiter fand 
man durch Unterſuchungen, daß uns in der Architeftiir, der Bild- 
hauerei die Darſtellungen gefallen, die beſtimmte Maßſtäbe auf 
weiſen, zum Beiſpiel ein beſtimmtes Verhältnis der Breite zur 
Höhe, de8 Durchmeſſers zum Umfang. Dann müßte ſich die AetthL- 
nit, fo folgerte man, zuleßt auf Mathematitf zurückführen laſen. 
Auch die Töne (Muſik) laſſen ſich nämlich auf Schwingungs3- 
zublen zurückführen. Beſondere Farbenzuſammenſtellungen ge- 
fallen i<einbar immer. Farben laſſen fich auf das Licht, Licht auf 
Weollenbewegungen verſ<iedener Länge zurückführen. Aber ſolche 
ee uc<ungen ſind ſehr weitläufig und noc< längſt nicht abge- 
Ichlotfen. 
Lange Zeit hindur< bis in unjerc Tage hinein behauptete 
man, die Kunſt habe e€8 mit dem Shsnen zu tun. Aber iſt in 
den Arbeiten des belgiſchen Malers und Bildhauers Menmier, 
der arme, au8qezehrts Kohlenarbeiter darſtellte, keine Kunſt? Und 
kei unfercr Käthe Kollwik? „Schön“ ſind dieſe Geſtalten: gewiß 
nicht. Alfo bat es die Kunſt vielleicht mit der Wahrheit zu 
tun? So hat man Forderungen über Forderungen gejtcUt und 
ſtellt ſie heute noh; 3. B. auch: alle große Kunſt muß jymboliyh 
jein, d. 9. ſie muß auf etwas Höheres hinweiſen, einen tieferen 
Sinn haben, der dem Durchſhnittömenſ<en vielleicht gar nicht 
aufgeht; ihn muß man erſt dazu erziehen. 
Heutzutage ſtechen ſic) im großen Ganzen zwei Richtungen 
gegenüber. Die eine behauptet: über die Aeſthetik laſſen fich bc- 
ſtimmte, immer gültige Säße finden, Wertbeſtimmungen (Yor- 
men). Die Vertreter diejer Anſicht ſchließen ſich vielfa<ß an Kant 
an, ſind aber nicht ſo zahlreich wie früher. Die andere behauptet: 
alle Normen ſind willfürlich. Erſt müſſen wir durc< Erfahrung 
alle Tatſachen kennen lernen, Geſeke ergeben ſich dann von ſelbſt. 
Dieſe Gelchrten können wieder ganz verſchieden vorgehen. Sie 
fönnen 3. B. alles an fich ſelbſt, an ihrer Berſon, ihrem Empfinden 
beobachten und e8 dann verallgemeinern. Sie können dieje Unter- 
ſuchungen aber auc< auf zahlloſe Perſonen auSsdehnen und die Phy- 
ſfiologie wie Pſychologie zu Hilfe nehmen, d. h. das Körperliche wie 
Sceliſche beobachten. Endlich können ſie auf die Entwi>elung 
der Kunſt zurückgehen und beiſpicl8weiſe fragen: Haben auch die 
Tiere Kunjtempfinden? So hat man Tieren Muſik vorgemacht 
auf den verſchiedenſten Inſtrumenten; ihre Empfindungen äußer- 
ten ſich auf die mannigfachſte Weiſe. = 
Welches iſt der Urſprung der Kunſt? Klima, Raſſe, die 
Wirtſ<aft3verhältniſſe können vielleicht von über- 
ragender Bedeutung ſein! Der SozialiSmus ſagt mit Recht, mit 
ſeinem Siege werde auch u. a. eine neue Kunſt entſtehen. Wir 
Icehen: auch hier ein weites, weites Gebiet. 
Man unterſchied früher und unterſcheidet auch heute noh be- 
ſtimmte Künfte: Dichtkunſt, Muſik, Malerei, Bildhauerkunſt, 
Architektur, Shaujpielkunſft, Tanz. Nod) andere werden genannt, 
3. B. Gartenbaukunſt uſw. Wo hört die Technik, das Handwerk8- 
mäßige auf, und wo fängt die Kunſt an? Endlich will man auch 
den einzelnen Künſten Grenzen ziehen; [9 verlangt Leſſing in 
feinem befannten „Laokoon“, die Dichtung müſſe ſich hauptſächlich 
mit Handlungen, die Malerei mit Zuſtänden beſchäftigen. Gibt 
es aber feſte Grenzen? Nun denke man auch an Wagner, der in 
der Oper alle Künſte in einem Kunſtwerk vereinen will, dem 
„Kunſtwerk der Zukunft“. Und zum Schluß erinnere ich noch an 
die .moderne, ganz neue Kinokunſt, die heute gewiß noc Schäden 
hat, aber ſich ſicher auch zu einer ganz eigenartigen Kunſt heran- 
Karl Schröder. 
bildet. | 
- Der Brand im jJejuikenkloſter bei Lüttich. 
Fach der Erzählung cines Augenzeugen. *) 
ZZ 03 Kloſier Jemte liegt dicht bei Lüttich auf einem Hügel, 
w 5 vom ſüdlichen Fort etwa 600 Meter entfernt. Z< war feit 
"Zz zwei Jahren in dieſem Floſter Bruder. Wir Brüder leſen 
feine Zeitting, und imſfolge unjeres Schweigegelübdes ſprechen 
wir auch nicht, daher wüßten wir nichts vom Krieg. 
Am Donners8tag, den 6. Auguſt, hatts ich mit ſieben anderen 
Brüdern die Wache, von Mittag bis Mitternacht. In dor Nacht, 
1115 Uhr, hörte ich plößlich ein mir Janz unbefanntes Geräuſch. 
Taraufhin ging ich in den Hof nach der Seite, von der aus ich 
Güttich und ſeine Forts fehen konnie. Ich fah da in einiger Enk- 
fernung am Himmel ein fleines Licht, das zeigie mir, daB ſich das 
Weſen in der Luft befand. I< wollte meinen Nundaang wieder 
aufnghmen, aber das näßherfommende Surren, obzwar das Leben 
der Welt mich nicht intereſſierte, hielt mich doch feſt. Tas Licht 
fam naber und näher. Jett hörte das Geruaumih auf. Ts ging 
mir durch den Kopf, das konne vielleicht ein Luftimiif ſun =- aber 
nein = plößlich erſtrahlte auf der Crde ein blendendes Licht =- 
Das 11t der Stern der Weiſen, der etwas anfündigt, dachte ich, den 
faßt dir nicht aus dem Auge. In dem Lichtichein da unten ſab ih 
alles hell und deutlich, Teile der Befeſtigung und anderes. Aber 
da =- vom Widerichein der beleuchteten Erde erhellt, jah ich 8 jezt, 
cs war wirklich ein mächtiges Luktichiif! Z>< wollie jauchzen vor 
Sreude =- ich hatte Ja nod) feins getehen. Ter Schein mochte fich! 
nur einige Sefunven gez2gigt haben, aber wie lange ichen es mir: 
Mein Auge hatte fich noch nicht an das Dunkel der Wacht gewohnt, 
da horte ic) ein Getoie. I< 1ab gen HSinmel, mcht5s vpaiierte: 
das fleine Licht zog ruhig weiter. Aber da unten, da jah ich jezt 
genug = Feier und Rauch! In der Helle war alfes zu feben. 
Tas C<o fam nun an mein Ohr. Ich hatte mich von dem großen 
Schre>en noch nicht erholt, als ſc<on ein zweitoar Schein auf ver 
Erde in ziemlicher Nähe ſich zeigte. Jeti fonnte ims auch nod 
dentlichker jehen, daß es ein Luftichiff war, an langem Seile tic? 
unten bing, wir mir ſchien, ein metalloner Korb, in dietem ſiand 
ein Mann. TDeutlich fah ic 8, wie er mit beiden Händen einen 
Gegenſtand in die belenmchtete Stelle himunterwarf. Dowie das 
c&fehen war, verſchwand ſofort auf der Erde der helle Schem. 
Aber ich ſtarrte doch weiter auf diefon Fle. Eine mächtige Licht- 
aarbe ſchoß da nun auf, und große Klumpen flogen nach allen 
Seiten in die Höhe. Da = ain furckibares Getoie! WMein 
 
Trommelfell ſchien zu plagen, ich war wie taub. Die Erde jchwankte 
unter meinen Füßen 19, daß ich tuumolte. Ganz benommen ſchaute 
ich nun nach der Stelle. Die blendende Garbe hatie jich in eine 
dide, IcOwarze Rauchmaſſe zufammmengeballt, die ſO langiam 11 
vie Höhe wälzte. Nach und nac wurde fie von unten herait 
Beller und beller wie weißer, leuchtonder Dampf. Schließlich 
brannte die Stelle wie eine FeteröSbrumit. I< wehte min zu er- 
fennen, ob das Fetter ſich ansSbreitete, fuhr aber da ſchon wieder 
von einent weiteren entfezlichen Knall erſchre>t uau?. Dieſe8 furcht- 
bare Schauſpiel wiederholie ſi fort und fort, nur ferner und 
ferner. Von 1134 Uhr bis furz vor Mitternacht wurden au? die 
Forts zwölf Bomben geworfen. Zwiſchen den GCxrplojionen horte 
man hiia und: wieder die Motoren furren. Lach der lebten Cx- 
ploſion ſieg das Luftſchiff in die Höhe, 306 weiter und entichwand. 
Noch immer ſtand ich wie ſtarr an derſelben Stelle, da 1<luau 
unſere Kloſteruhr zwölf. Wir acht wurden nun abgelöſt, blieben 
aber mit den un8 Ablöſenden auf dem Hofe. Au Schlaf war ja 
nicht mehr zu denken. Die anderen Brüder und Patres, wir waren 
zuſammen fünfhundert, blieben in den Gebunden und ichanten vom 
Fenſter aus auf die brennende Feſtung. 
Um 4 Uhr rief uns die Glo>ke zur Kirc<e. Troß der unge- 
beuren Erregung aller beherrſchte doch weiter uns alle das 
Schweigegelübde. Es war zum Staunen! Nber die Erregung 
wurde 21x Folter, denn unſere Andacht dauerte volle zwei Stun- 
den. Die herrlich gemalten Glasfenſter, die auch noh jeglichen 
Ansblice verſperrten, waren vom Luftdru> der Exploſion nach 
innen gebogen, wie Segel vom Winde gebläht. Die 80 Zenti- 
meter di&e Stein-Umfaſſung8mauer des Hofes hatte aud tiefe 
und lange Niſſe bekommen. Als wir um 6 Uhr aus der Kirche 
heraus auf den Hof kamen, war da8 Schießen und Schreien noch 
 
=) Nachrichten oder Berichte vom Krieg kann die „Arboiter-JugenD“ 
naturgemäß nicht veröffentlichen; ſie gehören in die Tagespreſſe, die 
in dieſer aufregenden Zeit gewiß auc< von unſeren Leſern „ver- 
ſchlungen“ wird. Mit nachſtehender Schilderung, die wir der „Köln. 
Ztg.“ entnehmen, machen wir eine Ausnahme, denn ſie hat in Dar= 
tellung und Inhalt einen eigenartigen Reiz und leuchtet wie mit dem 
Blendlicht in einen entlegenen Winkel unſerer ſogenannten Kultur. 
Wenn man von dem modernen Apparat, den im Text erwähnten Luft-= 
ſchiffen, Bomben, Automobilen abſieht, könnten dieſe Zeilon einer Chronik 
aus der Merovingerzeit entnommen ſein,
	        
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