Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

 
Arbeiter- Jugend 
303 
 
Leben die Steine ? 
(Schlu).) 
Bz rößte Bedeutung für unſere Frage hat es, daß zit Beginn dieſes 
(55 Jahrhunderts von dem Karlsruher Phyſiker Otto Lehmann 
Ww“ vine Entde>kung gemacht wurde, die die Vermutung nahelegt, 
daß wir dem Uebergang zwiſchen lebloſer und lebendiger Natur auf der 
Spur ſind. Wir meinen Lehmanns8 Entde>ung der flüſſigen Krijtallo. 
Das iſt zunächſt etwa8, was man ſich nicht vorſtellen kann: flüſſige 
Friſtalle. Jeſte Kriſtalle kennt jeder, die Kriſtallformen der Cdcl- 
ind Halbedelſteine, Quarz, Kalkſpat, Schwefelkie8, Salz und der- 
gleichen. Schon Haec>el hatte im Jahre 1866 auf eine gewiſſe Ber- 
wandtſchaft zwiſchen Kriſtallon und niedrigſten Lebeweſen hin- 
gewieſen, hatte gezeigt, daß die Kriſtalle verſchiedene Eigenſchaften 
beſißen, die wir zwar von den Lebeweſen her kennen, die aber 
jonſt in der anorganiſchen Natur nicht vorkommen. So kann 3. B. 
ein Kriſtall wachſen, d. h. an Größe zunehmen, wenn er jich in 
einer Löſung befindet, die dieſelben Stoffe enthält, aus denen der 
Friſtall beſteht; ein Salzkriſtall, der in konzentrierter Salzlöjung 
aufgehängt wird, wächſt, und beſchädigte? Stellen heilen aus. Aber 
doch beſteht ein tiefgreifender Unterſchied: die Lebeweſen befinden 
fich in einem weichen, etwa gallertartigen, die Kriſtalle in einen 
ſtarren Zuſtand. Ein Vergleich, dem Beweiskraft zukäme, wäre 
aber nur möglich mit einem Stoffe von ähnlicher Beichaffenheirt 
wic die Lebeweſen, alſo etwa mit einer dickflüſjigen Maſſe. Hier 
alfſein könnte die Brücke liegen, die die anorganiſche mit der or- 
qaniſchen Welt verbindet. Das iſt die Bedeutung der „flüſſigen 
zriftalle“. Im Jahre 1876 beobachtete Lehmann, „daß die bei 
Erhißung des Jodſilber38 über 146 Grad entſtehende dunkelgelbe 
Abart des Jodſilber3, die man bis dahin für eine zähe Flüſſigkeit 
gehalten hatte, in Wirklichfeit aus äußerſt weichen, regelmäßigen, 
okta6driſchen Kriſtallen beſteht, die beim Drücken fließen, wie wenn 
fie flüſſig wären“. Seitdem wurden eine ganze Anzahl von <em1- 
ichen Verbindungen gefunden, bi8Sher über 300, die aus flüſſigen 
Kriſtallen beſtehen; ſie ſind dur<weg ſehr kompliziert, jo daß wir 
nicht näher auf ſie eingehen können, wie ſchon einer der viclen 
ichönen und unausſprechlichen Namen Tetraoxybenzolparadi- 
farbonſäunrcäſter andeutet. Mit feiner Entde>ung trat Lehmann 
erſt int Jahre 1906 in dic Oeffentlichkeit, damals zunachſt von 
allen ſeinen Fachgenoſſen totgeſchwiegen, ſo ſehr ſtand die An- 
nahme der flüſſigen Kriſtalle und das, was man bei ihnen be- 
obachtet hatte, mit den bisherigen Anſchauungen der Wiſſenſchaft 
in Widerſpruch. Erſt in den letzten Jahren iſt dieſe ablehnende 
Haltung der Forſcher der Gewalt der Tatſachen gewichen. Immer 
neue „flüſſige Kriſtallformen“ werden entdeckt; jie waren, wie 
3. B. in der Schmierfeife, biSher dem Auge de3 Forſchers ent» 
gangen, weil fie erſt bei ſehr ſtarker mikroſkopiſcher Vergrößerung 
und meiſt auch nicht im natürlichen, ſondern nur im polarijierten 
Licht zu erkennen jind. - 
Wie dieſe flüſfigen Kriſtalle ausſchauen? Sic kommen in 
tauſend Formen vor: kugelig, prismatiſch, zylindriſch, jſtäbchen-, 
Ichlangen- und fkeulenförmig -- in demſelben Formenreichtum, der 
un8 bei den Kleinlebeweſen geaenübertritt. Und mit den niederen 
Organi3men verbinden ſie eine Reihe von nicht wegzuleugnendein 
Aehnlichkeiten. In feinem Buch über „Flüſſige Kriſtalle und die 
Theorien de3 Leben3; 1908“ berichtet uns O. Lehmann, daß dic 
flüſſigen Kriſtalle Stoffe aus ihrer Umgebung in jich aufnehmen 
(nicht fiß angliedern wie die feſten Kriſtalle) ; daß ſie durc< Auf- 
nahme dieſer Stoffe, alſo durc< Ernährung, wachſen, bis ſie, 
etwa wie Bakterien, eine beſtimmte Größe erreicht haben; daß fic 
dann ähnlich wieder wie die Bakterien ſich von ſelbſt in zwei oder 
mehrere Teile teilen können, die nun ſelbſt fic als vollkommene 
Individuen- verhalten, weiter wachſen und ſich teilen. Auch Ab- 
paltungen ähnlich der Knoſpenbildung niederer Lebeweſen kommen 
vor. Ja, in gewiſſem Sinne zeigen ſich bei den flüſſigen Kriſtallen 
ſogar die erſten Anfänge deſſen, was man bei den Lebeweien gec- 
ſchlechtlihe Fortpflanzung nennt. „Zwei Kriſtalltropfen, in Be- 
rührung gebracht, fließen zuſammen wie zwei Waſſertropfen und 
zeigen für einige Zeit noch zwei Kerne, zwiſchen denen jich ein 
dritter abweichend geſtalteter dunkler Punkt geltend macht; nach 
und nac< wird aber das Gefüge vollkommen einheitlich, man jieht 
dann nur no< einen Kern.“ Wir wollen damit nicht fagen, 
daß es wirkliche Leben3vorgänge ſind, die wir bei den flüſſigen 
Kriſtallen beobachten; aber wir haben umgekehrt hier einen Be- 
weis dafür, daß Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung der 
Lebeweſen Vorgänge ſind, die wir rein <emiſch<-phyſikaliſch, alſo 
auch ohne Zuhilfenahme einer ſog. „Seele“ zu erklären haben. 
Weiterhin iſt bei den flüſſigen Kriſtallen die Fähigkeit, ſich fortzu- 
 
bewegen, feſtgeſtellt worden; bei ſ<wankfender Temperatur ändert. 
ſich ihre Krümmung fortwährend, es entſteht eine ſchlängelnde 
Bewegung, zu der ſich auch wohl eine ſolche nach vorwärts und 
rückwärt3 geſellt. „DOefters teilen ſich die Schlangen in mehrere 
 
Stücke, die wieder unter Bildung neuer Schlangen auseinander- 
weichen; oder e8 ſchieben ſich aus einer Kugel wurmartige Fort- 
ſüße von zunehmender Stärke hervor, jo daß ein fadenartiges 
Gebilde entſteht. Die Mannigfaltigkeit dieſer Erſcheinungen ift 
jo groß, daß man eincn von mikroſkopiſch kleinen Lebeweſen er- 
füllten Waſſertropfen zu ſehen glaubt, in dem ein tolles Leben 
und Treiben herrſcht, das auf den ſachkundigen Beobachter geravez1w 
verblüffend wirkt.“ Sollte nicht hier gleichfalls ein Schlüſſel zu 
dem Rätſel de8 Leben3 zu finden jein? 
Damit iſt die Reihe der Aehnlichfeiten zwiſchen den flüſjigen 
Kriſtallen und den Lebeweſen durchaus noch nicht erichspft; aber 
das Mitgeteilte dürfte ſelbſt dem Laien genügen, um ihm einen 
Begriff von der Bedeutung dieſer neuen Entdeciung zu geben. 
Dürfte es nun ſonderlicke Verwunderung erregen, wenn die 
Wiſſenſchaft heute ſogar noch einen Schritt weitergeht, wenn ſie 
Ericheinungen in der anorganiſchen Welt ſucht und findet, die mit 
den als rein „ſeeliſch“ bei den Lebeweicn befannten in Beziehung 
zu bringen find? Wir wähnen den Stein am Wege, den Krijtall, 
das Metall einpfindungslos, und das Gegenteil ſeheint uns wider- 
ſinnig. Sollte die landlänfige Meinung nicht auch da allzu vor- 
eilig im Urteil jein? Die Unterſuchungen haben zwar ert tajiend 
und vorſichtig begonnen, aber man hat doch bei verichiedenen WMe- 
talien 3. B., auch bei einigen Kriſtallen, etioas beobachtet, was mit 
dem Erinnerungsvermögen der Lebeweſen, mit ihrer Gabe, zu 
empfinden und entſprechend zu reagieren, „jich anzupaſien“, in 
Parallele zu ſeßen iſt. Und wenn wir auc< all diejen neuen 
Forſichungsreſultaten, allen Vermutungen und Hypothcken mit noc? 
jo großer Zurückhaltung gegenübertreten, ſo dürfte die Frage, wie 
wir ſie heute ſtellen, doc") mieht mehr fo abſurd erimunen: Iſt das, 
iwas wir „Leben“ nennen, was wir bisher einzig und allcin den 
Organiänmen zuſchrieben, nicht vielmehr eine aligemeine Eigei- 
iat der Waterie? Sind alfo lebendige und lebloſe Natur nur 
dem Grade der Entwielung nach verſchiedene Stufen, umd nicht, 
wie man bisher annahnt, zwei aetrennte Weiten? 
Bg. Engelbert Grak. 
7 
ich ſage: ſo'n Publikum --! 
Aus dem Ruiſiichen von Anton Tiche<how. 
Na, 
Dede nnftuum, ich will mir das Trinfen abgewöhnen! Unter allen 
BV 1unſtänden! Es iſt endlich Zeit, vernünftiger ZU WCrden. 
| Man muß arbeiten und ſich anſtrengen . . . Wenn es dir 
Jreude macht, dein Gehalt zu erheben, fo arbeite auch ehrlich, 
eifrig, gewiſſenhaft, mit Hintanſchung von Ruhe und Schlaf. Weg 
nit der Lokterei . . . Du haſt dich gewöhnt, Bruder, dein Gehalt 
für nichts und wieder nichts einzuſtreichen; aber das iſt nicht 
ichön . . . gar nicht jhon!“ 
Rachdem der Oberſchaffner Podtjagin fich ein paar jolche 
Moralpredigten gehalten hat, verſpürt er einen unbezwinglichen 
Drang nach dienſtlicher Tätigkeit. Es iſt bereits zwei Uhr nachts: 
aber troßdem wett er die Schaffner und geht mit ihnen durch die 
Abteile, um die Fahrkarten zu kontrollieren. 
„Ihre Fahrkarten!“ ruft er und knipſt dabei inſtig unt feiner 
Zange. | 
Verſchlafene Geſtalten, nur undeutlich ſichtbar m dem Halb* 
dunkel, das in den Abteilen herrſcht, fahren auf, jchnütteln die 
Röpfe und reichen ihre Fahrfariten hin. 
„Ihre Fahrkarte!“ wendet ſich Podtjagin an einen Reiſenden 
in der zweiten Klaſſe, einen hageren knochigen Herrn, dor in 
einen Relz und eine De>e gehüllt und in eine Menge von Kiſſen 
qanz verſunken iſt. „Ihre Fahrkarte!“ 
Der hagere Herr antwortet nicht. Er liegt in tiefem Schlafe. 
Der Oberſchaffner faßt ihn an die Schulter und wiederholt un- 
geduldig: „Ihre Fahrkarte!“ | 
Der Reiſende ſchri>t zuſammen, öffnet die Augen und jfieht 
Podtjagim entijeßt an. | 
„Wa82? Wer iſt da? He?“ 
- „Sd ſage Ihnen klar und deutlich: „Ihre Fahrkarte! Haben 
Sie die Güte!“ 
„Mein Gott!“ ftöhnt der hagere Herr und zieht ein weiner- 
liches Geſicht. „Herr, mein Gott! Ich leide an Rheumatismus . . 
Drei Nächte habe ich nicht geſchlafen; ich habe expreß Morphium 
eingenommen, um einzuſchlafen, und nun kommen Sie . . . mit 
Ihrer Fahrkarte! Das iſt ja erbarmungslos8, ummnenſchlich! Wenn 
Sie wüßten, wel<e Mühe ich habe einzuſchlafen, dann würden 
Sie mich nicht um ſolchen Quark ſtören . . . Erbarmungslos, abge- 
ichmad&t! Wozu brauchen Sie denn meins Fahrkarte? Ganz 
albern!“ | | | | 
Podtjagin überlegt, ob er ſich beleidigt fühlen ſoll oder nicht, 
und enſcheidet ſich dafür, ſich beleidigt zu fühlen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.