Full text: Arbeiter-Jugend - 6.1914 (6)

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| | - Arbeiter-Jugend 
 
> „Schreien Sie Dier nicht ſo! Hier iſt feine Kneipe!" exr- 
widert er. 
„Sa freilich, im einer Kneipe ſind die Qeute anſtändiger,“ ant= 
wortet der Reiſende huſtend. „Na ja, nun kann ich verſuchen, 
zum zweiten Male einzuſchlafen! Merkwürdig: überall im Aus- 
lande bin ich umhergereiſt, und niemand hat mich da nach einer 
Fahrkarte gefragt; aber hier, wie wenn jie vom Teufel bejejjen 
wären, immerzu und immerzu!“ 
„Na, fahren Sie doc< ins Ausland, wenn es3 
gefallt!“ 
„J&ſt da8 hier eine dumme Wirtſchaft! 
die Reiſenden mit Ofendunit, Stieluft. und Zugwind malträ- 
tieren, wollen fie einen noh durch ihre Pedanterie ganz zugrunde 
richten. Die Fahrkarte muß er haben! Nun ſehe ein Menic< 
ſolchen Dienſteifer an! Und wenn es noch zur Kontrolle geſchähe! 
Aber der balbe Zug fährt ja ohne Fahrkarten!“ 
„Hören Sie, mein Herr!“ ruft Podtjagin, der nun hißig wird. 
„Wenn Sie nicht aufhören zu ſchreien und das Publikum zu 
ſtören, jo werde ich mich geaötigt ſehen, Sie auf der nächſten 
ee auszuſeßzen und ein Protokoll über den Hergang 'aufzu- 
nehmen!“ 
hnen da 109 
„Das iſt empörend!“ miſchen ſich unwillig die Weitreijenden - 
ein. „Beläſtigt der Meni einen Kranken! Hören Sie mal, 
haben Sie doch ein bißchen Mitleid!“ 
„Aber er ſchimpft ja ſelbſt!“ entgegnet Podtjagin, der jeßt 
klein beigibt. „Nun gut, dann will ich die Fahrkarte nicht ver- 
langen . . . .Wie e3 Ihnen gefällig iſt . . . Aber Sie wiſſen ja ſelbſt, 
daß meine Dienſtvorſchrift das fordert . Wenn die Dienſtvor- 
ſchrift nicht wäre, dann natürlich . . . "Sie können jogar den 
* Station3vorſteher fragen . . Jragen Sie, wen Sie wollen . . .“ 
Podtjagin zu>t mit den Achſeln und geht von dem Kranken 
weg. Anfang38 hat er die Empfindung, er ſei beleidigt und un=- 
gehörig behandelt worden; nachdem er dann aber dur< zwei, drei 
Abteile hindurchgegangen iſt, fühlt er in feiner Oberſchaffner- 
bruſt eine gewiſſe Beunruhigung, die eine Aehnlichkeit mit Ge- 
wiſſen3biſſen hat. 
Allerdings8, ich hätte den Kranken nicht aufweden ſollen, 
überlegt er. Und doch trifft mich dabei keine Schuld . . . Die 
Leute da denken, ich tue das aus Uebermut, aus langer Weile 
und wiſſen nicht, daß die Dienſtvorſchrift cs fordert . . Wenn | 1 
es nicht glauben wollen, fo kann ich ja den Statiou8vort. "DEr - u 
ihnen hinbringen. 
Nun iſt die Station da. Der Zug hat fünf Minuten Aufent- 
halt. Vor dem dritten Läuten tritt in das oben erwähnte Abteil- 
zweiter Klaſſ2 Podtjagin, hinter ihm gemeſſenen Schrittes der 
Station8vorſteher mit der roten WMüße. 
„Hier dieſer Herr,“ beginnt Podtjagin, „ſagt, ich hätte kein 
Recht, nac< ſeiner Fahrkarte zu fragen, und fühlt ſich gekränkt. 
«I bitte Sie, Herr Station3vorſteher, ihm klarzumachen, ob ich 
auf Grund der Vorſchriften die Fahrkarte verlange; oder nur, 
weil's mir ſo beliebt. 
hageren Reiſenden gewendet, hinzu, „mein Herr! . Sie können hier 
den Stations8vorſteher fragen, wenn Sie mir nicht glauben.“ 
Der Kranke fährt zuſammen, als hätte man ihm einen S Stich 
verſekßt, ſchlägt die Augen auf, macht eine kläglihe Miene und 
läßt ſich gegen die Rücklehne der Polſterbank zurüctfinken. 
„Mein Gott! I< habe ein zweites Pulver eingenommen 
und war eben eingeſchlafen: da iſt er wieder. . wieder! I< 
bitte Sie inſtändigſt: haben Sie doch Mitleid mit mir!“ 
- „Sie können hier mit dem Herrn Stations8vorſteher ſprechen. 
Bin ich berechtigt, nach der Fahrkarte zu fragen oder nicht?“ 
„Das iſt nicht zum Aushalten! Da haben Sie Ihre Fahr- 
karte! Da! I< will noch ein halb Dußend „Fahrkarten kaufen: 
nur laſſen Sie mich ruhig ſterben! Sind Sie denn nie ſelbſt 
frank geweſen? - Eine gefühlloſe Sorte!“ 
„Das iſt ja geradezu Schikane!“ bemerkt ein Serr in mili- 
täriſcher Uniform unwillig. 
läſtigung nicht erklären!“ 
Der Station3vorſteher zupft den. Oberſchaffner am Aermel 
und flüſtert ihm ſtirnrunzelnd zu: „Laſſen Sie ihn doch!“ 
Podtjagin zuckt die Achſeln und geht langſam hinter dem 
Stationsvorſteher hinaus. 
Wie ſoll man's dem zu Dank machen, denkt er ganz verblüfft. 
Zh rufe um ſeinetwillen den Station3vorſteher her, damit er die. 
Sache einſicht und ſich beruhigt, -- und da ſchimpft er! 
Die nächſte Station. Der Zug hält zehn Minuten. Vor 
dem zweiten Läuten, als Podtjagin am Büffet ſteht und Selter“ 
waſſer trinkt, treten zwei Herren an ihn heran, der eine in 
Ingenieursuniform, der andere in einem Militärmantel. 
an Podtjagin. 
Nicht genug, daß ſie 
Scherz noc< büßen! 
Mein Herr,“ fügt Podtjagin, zu dem 
„Anders kann ich mir dieſe ftete Be- 
rn 
 
„Hören Sie mal, Oberſ<affner!“ wendet ſich ver Ingenieur 
„Shr Benehmen dem rranfen Reiſenden gegenüber 
hat alle Anweſenden empört. J< bin der „Ingenieur Ruſikli, und 
dies hier iſt ein Herr Oberſt. Wenn Sie ſich nicht bei dem 
Retſenvden entſchuldigen, jo werden wir bei dem Verkehr5inſpekior, 
unſerm gemeinſamen Bekannten, eine Be jchiverde einreichen. " 
„Meine Herren, aber ich bin JA... aber S Sie haben ja...“ 
beginnt Podtiagin faſſung8lo3. 
„Shre Auseinanderjezungen wünſchen wir nicht zu horen. 
Aber wir teilen Ihnen zur Warnung mit: 
Entſchuldigung bitten, ſo werden wir den Reiſenden unter unſern 
Schuß nehmen.“ 
„Nun gut, . dann . 
bitten . . Meinetwegen.“ 
Eine halbe Stunde darauf betritt Podtjagin wieder den 
Wagen; er hat jſiH in der Zwiſchenzeit für die Bitte um Ent=- 
ſchuldigung auf eine Redewendung beſonnen, die den Reiſenden 
zufricdenſtellen kann, ohne ſeiner eigenen Würde Abbruch zu tun. 
„Mein Herr!“ wendet er ſich an den Kranken. „Mein Herr, 
horen Siet“ 
Der Kranke fährt zuſammen und ſpringt auf. 
„Was?“ 
„3<h . (hm, wie war's doch?) . 
beleidigt zu fühlen . .. “ 
„Ach . . . Waſſer . “ keucht der Kranke und faßt nach ſeinem 
Herzen. „Das dritte M torphiumpulver hatte ich eingenommen, 
war eingeſchlafen und . nun wieder! O Gott, wann wird 
denn dieſe Folter endlich aufhören?“ 
. dann will ich um Entjc<uldigung 
. Sie brauchen ſich micht 
„Ih . . . hm . . . Entſ ſchuldigen Sie . . .“ 
„Sören Sie ... 'Qaſſen Sie mich auf der nächſten Station 
ausſteigen. Dies länger zu ertragen, geht über meine Kraft . 
I< . . . ich ſterbe . . .“ 
„Das. it gemein, abſcheulich!“ ruft das Publikum entrüſtet. 
„Scheren Sie ſich hinaus! Sie ſollen für dieſen nichtswürdigen 
Hinaus!“ 
Podtjagin.« ſchlenkert: erſchro>en mit dem erhobenen Arm in 
der Luft umher und verläßt den Wagen. Er begibt ſich in das 
Dienſtabteil, ſe3t fich erſchöpft an den Tiſch und jammert: „Na, 
ich ſage: ſo'n Publikum! Wie ſoll man e3 dem zu Dank machen! 
Wie ſoll man da Luſt haben, ſeine Bflicht zu tun und fich anzu- 
ſtrengen! Da muß es ja dahin kommen, daß man ſich um nichts 
mehr ſc<ert und ſich dem Suff ergibt . Tut man nichts, ſ9 
ſind ſie wütend; tut man mal was, ſo ſind fic auch wütend . . . 
Am beſten iſt's, man trinkt. “ 
Podtjagin trinkt eine halbe Flaſche Shnaps8 auf einmal und 
wirſt Bord. Gedanken an Arbeit, Pflicht und Ehrlichkeit endgültig 
über Bor 
 
  
 
 
  
 
 
 
  
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Abſurd (lat.), ungereimt, widerſinnig. - 
Amphitheater (griech.), länglichrunder Schauplaß, 
jtufenweiſe erhöhten Sitrceihen: Rundbühne. 
Automatiſch (griech.) . fich von ſelbſt bewegend, willenlo3,. 
Douche Gene ſprich: duſch), Gießbad, „talter Waſſer ſtrahl“. 
Drapieren (franz.), Tunjtgemäß (beſonders in bozug auf den Falten: 
wurf) vefleiden, behängen, verzieren. 
Gigant (aricc<h., Ton auf der Gndjilbe), Rieſe, Hünc, Rec. 
Hygiene (griech., vierſilbig, Ton auf der vorlekten Silbe), Geſundheits- 
pflege; Geſundheitslebre. 
Hypotheſe (griech.), wiſſenſc<aftliche Annahme. 
Illuſion (lat.), Täuſchung, Blendwerk, „bolder Schein . 
Improviſieren (ital.), aus dem Stegreif ſchaffen. 
Ironie (griech., dreiſilbig, Ton auf der Endſilbc), foiner, verfttdter 
Spott, der im allgemeinen darin beſteht, daß man das Gegenteil 
von dem meint, wa38 man ſagt. 
Mor3 (lat.), Tod. 
Oktaäöder (griech.), Ahtflächner, ein von acht gleichſeitigen Dreiecken ein- 
geſchloſjener Körper. 
Plateau (franz., ſprich: platob), Gebirgshoc<ebene. 
Reagieren (lat.), gegen-, rückwirken. 
Tendenz (vom lat. tendere .= ſtreben), ), Zwed, Streben, Richtung. 
aganuannancannaanonnnannmymunangannannuonanuacnna 
Inhalt von Nr, 21: Zehn Jahre freie Jugendbewegung. Von Richard 
Weimann. -- Unſere Bewegung unter dem Krieg3zuſtand. Von Max Peters3. -- 
Da3 erſte Trinkgeld. Von Emilie Baldamus (Sc<luß). =- WeS8halb man den 
Arbeitern das Koalitionsrec<ht geben müßte. Von Rudolf Wiſſell. -- Im Schweizer 
Jura. Vom Bruder Straubinger. =“ Gewitter in der Roſto>er Heide. Von 
M. Wanderfalk. -- Die Arbeiterſamariter im Kriege. Von Kurt Biging. =- Leben 
die Steine ? Von Engelbert Graf (Schluß). --- Na, ic< ſage: ſo'n Publikum --! 
Von Anton Iſchehow. =- Fremdwörter. 
umfſchloſſ en von 
 
euter) 
Ewert 
Verantwortlich für- die Redaktion: Karl Korn. -- Verlag: Fr. Ebert (Zentralſtelle für die arbeitende Jugend Deutſchland3). =- Druck: Vorwärts Buchdruckerei u. Verlags- 
anſtalt Paul Singer & Co. Sämtilich in Berlin. 
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